Die Protokollantin als Führungskraft

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Wer führt wen in effektiven Meetings?

"Ich muss dazu noch Gespräche führen". Ein harmloser Satz, der aber viel über Leadership aussagt. Denn auch beim miteinander Sprechen kommt es auf das an, was dieser Kolumne ihren Rahmen gibt: Das effektive Führen und Folgen. Ich habe mich an dieser Stelle schon einmal damit befasst (siehe Kolumne "Wenn das Flusspferd immer Recht hat" vom September 2019) und die Gruppendiskussion als Schule des verteilten Führens und Folgens eingeführt.

Doch heute geht es mir um die Frage: Wer führt in gelungen Meetings eigentlich wen? Und woran zeigt sich das? Die Antwort hält hoffentlich auch für Sie einige Überraschungen bereit. Denn erst beim Schreiben eines Buches zu Shared Leadership, das im Mai bei Haufe erscheinen wird, wurde mir klar, dass unser Bild von Führungsrollen dramatisch verkürzt ist. In der guten Moderatorin einer Sitzung, ja selbst im gewieften Protokollanten steckt mehr Führungskraft, als wir uns das gemeinhin klarmachen. Und darin liegt eine große Chance.

Warum Führungskräfte nicht durch Meetings führen sollten

Doch beginnen wir von vorne. In der Regel gibt es Chefinnen und Chefs, die zu Sitzungen einladen oder zumindest an ihnen teilnehmen. Dass sie auch in diesem Kontext führen, legt ihre Position als formale Führungskraft nahe. Doch wie in der genannten Kolumne thematisiert: Achtung vor dem Flusspferd! Führungskräfte, die Gespräche und Meetings dominieren, drohen als HIPPO ("Highest Paid Person's Opinion") wertvolle Impulse zu ersticken, die nicht mehr durchdringen oder vorgebracht werden.

Aus diesem Grunde tun Führungskräfte gut daran, die Moderation an andere abzugeben - es sei denn, es geht darum, nur Dinge anzukündigen. So können Mitarbeitende, die keine formale Führungsposition bekleiden, Erfahrungen sammeln und sich im Führen im Kleinen ausprobieren. Sie können zeigen, wie gut sie eine Gruppe dazu anleiten, ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Sie werden verschiedene Personen in die Diskussion einbinden, die Zeit im Auge behalten, Konflikte auf den Tisch bringen und idealerweise auflösen sowie am Ende ein Ergebnis formulieren oder weitere Schritte vereinbaren.

Warum Moderatoren führen sowie folgen – und damit nicht allein sind

Sie werden aber auch zeigen müssen, dass sie anderen folgen können. Mit guten Ideen, tiefgründigem Wissen, großer Leidenschaft oder schlicht eigenem Dominanzstreben werden andere in der Gruppe sich in der Diskussion nach vorne schieben und zeitweilig die Gesprächsführung übernehmen. Das ist gut und richtig. Denn in guten Diskussionen darf jede Person führen, die auch bereit ist, anderen zu folgen. Gut hinhören, nachfragen, sich in andere hineinversetzen, Aussagen reformulieren und damit die Botschaft klarer fassen: All das sind Kompetenzen, die jeder einbringen muss, damit Verständigung gelingt und am Ende ein gutes Ergebnis steht.

Somit führt in guten Meetings zumindest temporär fast jeder. Nur einer nicht: der Protokollant. Den sehen wir nach wie vor als reinen Durchlauferhitzer, der niederschreibt, was passiert ist oder verabredet wurde. Damit vergeben wir aber auch hier eine Chance. Wir könnten die Funktion des Protokollanten nämlich so nutzen, dass auch diese Person sich in Fragen von Führung erprobt und durch ihr Tun ein abgestimmtes Endergebnis herbeiführt.

Die unterschätzte Funktion des Protokollanten

Die Rolle des Protokollanten aufzuwerten, liegt daher nahe. Zumal ihr durchaus Macht und Einfluss innewohnen. Was festgehalten wird, bindet eine ganze Gruppe in dem, was sie tut und verantwortet. Im selben Maße übrigens, wie die Gruppe bindet, was vorab in der Tagesordnung steht. Warum also nicht auch die Protokollantin als Führungsrolle definieren? Warum ihr nicht die Verantwortung übergeben, dass am Ende ihr Protokoll und ihre Formulierungen konsensfähig sind? Und warum nicht ihr zusätzlich anvertrauen, dass die wesentlichen Punkte vorab auf der Agenda landen?

In beidem liegt übrigens ein Stück weit die Attraktivität und Macht des "Speakers of the House" im amerikanischen Repräsentantenhaus. Um diesen angesehenen Posten zu ergattern, setzte sich der amtierende Amtsinhaber Kevin McCarthy im Januar 15 demütigenden Wahlrunden aus.

Klingt alles etwas realitätsfremd und theoretisch? Ist es nicht. Die holländischen Immobilienkredit-Vermittler von Viisi in Amsterdam tun genau das – und zwar seit Jahren. Ihr Modell von Führung und Zusammenarbeit (das im oben genannten Buch ausführlich beschrieben wird) sieht vor, dass in Teams beständig vier Rollen besetzt werden. Alle sechs Monate setzen sich die Teams zusammen und vergeben die Rollen neu – und zwar nach dem Grundsatz "Rotation vor Erfahrung". Nicht derjenige soll in die Rolle gewählt werden, der die meiste Erfahrung in ihr hat. Vielmehr geht es darum, dass jede und jeder sich möglichst in jeder Rolle ausprobiert und in der Kombination aller Rollen das eigene Leadership- und Followership-Vermögen perfektioniert.

Sekretär/in und Moderator/in als zwei von vier Führungsrollen

Die vier Rollen von Viisi sind angelehnt an Modelle der Soziokratie und Holakratie und heißen:

  1. Lead Link: Die gewählte Person sorgt dafür, dass Beschlüsse gefasst, mit anderen im Unternehmen abgestimmt und nötige Ressourcen beschafft werden.
  2. Rep Link: Diese Person vertritt das Team sowie seine Anliegen in anderen Zirkeln, hier insbesondere im oberen Managementteam.
  3. Facilitator (Moderator): Diese Person muss alle Zusammenkünfte moderieren, bei Interessenkonflikten vermitteln sowie für Ergebnisse und effektive Zusammenarbeit sorgen.
  4. Secretary: Diese Person erfüllt in etwa das Profil, wie ich es oben unter "Protokollant" skizziert habe.

Viisi-Mitgründer Tom van der Lubbe schwört auf sein System: "Unsere Viisionäre gewinnen ein besseres Verständnis für die Herausforderungen in den einzelnen Rollen und verinnerlichen, dass das Führen und Folgen eine Gemeinschaftsleistung ist. Diese Praxis hat auch geholfen, eher zurückhaltenden, introvertierten Kolleginnen und Kollegen Führungsaufgaben schmackhaft zu machen." Kurzum: Nachahmenswert!


Randolf Jessl ist Inhaber der  Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen und Organisationen, die etwas bewegen und in Führung gehen wollen.


Schlagworte zum Thema:  Leadership, Mitarbeiterführung, Teamarbeit