Debatte: Systemrelevanz von Personalentwicklung

Die Personalentwicklung steckt nicht erst seit der Corona-Krise in einer Sackgasse. Zu diesem Schluss kommt Management-Trainer Boris Grundl. Betriebliche Weiterbildung sei derzeit nicht in der Lage, die Ergebnisse eines Unternehmens nachhaltig zu verbessern, argumentiert er – bewusst provokant.

In einem Webinar hat Leadership-Experte Boris Grundl den aktuellen Zustand der Personalentwicklung (PE) beleuchtet. Sein Ziel: Er will die Wirksamkeit der PE deutlich erhöhen und Denkanstöße dafür liefern, wie sich die PE aus seiner Sicht neu erfinden sollte.

Die aktuelle Corona-Krise lassen die Mängel der PE laut Grundl besonders deutlich erscheinen: Bei finanzieller Enge wird in den Unternehmen sofort eingespart, auf was man leicht verzichten kann. "Viele kürzen als Erstes das Weiterbildungsbudget. Die Entwicklung des Mitarbeiters in der bisherigen Form ist nicht systemrelevant. Kein Need-to-have, sondern ein Nice-to-have", so der Leadership-Experte in seinem Webinar. Diese fehlende Wertschätzung lasse sich schon seit mehreren Jahren und über mehrere Krisen hinweg beobachten.

Personalentwicklung muss raus aus der Sackgasse

Hinter der PE steht für Grundl grundsätzlich eine "wunderbare Idee": Es geht um das Freisetzen aller zur Verfügung stehenden menschlichen Leistungspotenziale in einem Unternehmen. Dazu gehört zum Beispiel, dass Diskriminierung ausgeräumt wird und dass Vielfältigkeit anerkannt und genutzt wird. Das alles ist wichtig, um den Unternehmenszweck zu erfüllen und dabei jedem Menschen zu helfen, der beste Mensch zu werden, der er sein kann: starke Menschen, starke Ergebnisse, starke Unternehmen. "Dieser Idee folge ich aus tiefstem Herzen", betont Grundl. Aber die PE habe sich durch ein "schwaches Selbstverständnis" in eine Sackgasse manövriert und stecke dort fest. Sie habe sich zu sehr auf die "Bestätigung des Selbstwerts" der Mitarbeiter konzentriert: "Du bist gut, so wie du bist!"

Persönliches Wachstum statt Wohlfühlmaßnahmen

Das habe früher Sinn gemacht, aber aus der "Bestätigung des Selbst" wurde die "Bestätigung des Status quo". Immer weniger ging es um geistige Anstrengung und geistiges und mentales Wachstum, sondern primär darum, den Menschen so zu bestätigen, wie er jetzt ist. Damit er sich gut und am Arbeitsplatz wohlfühle. Die mental anstrengendere Entwicklung der (Führungs-) Persönlichkeit wurde immer mehr verdrängt.

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Beispiele für eine wertschöpfende Personalentwicklung

Grundls Forderung nach mehr "geistiger Reife" und "mentaler Stärke" (um über persönliches Wachstum zur Erreichung von Unternehmenszielen zu kommen) mag etwas nebulös formuliert sein, aber folgendes Beispiel zeigt, worum es dem Inhaber des Grundl Leadership Instituts geht: Der Vuca-Welt wollen viele Unternehmen mit agiler Führung begegnen. Dazu müssen sich selbst organisierende Teams aufgestellt werden, die schnell auf Marktveränderungen reagieren können. Die Teammitglieder müssen sich alle einem gemeinsamen Ziel unterordnen und sich quasi selbstlos die Bälle zuspielen können. Doch es gibt leider immer noch viel zu viele Mitarbeiter, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. Sie wollen das Lob des Chefs für sich allein und tun alles dafür, dass sich ausgerechnet ihre Vorschläge in den Diskussionsrunden durchsetzen. Solche Menschen sind viel zu sehr mit sich beschäftigt und deshalb für agile Teams nicht zu gebrauchen. Die Aufgabe der künftigen PE sollte es laut Grundl sein, solchen Menschen zu helfen, ihre "Selbstfunktionalität" zu erhöhen. Sie sollten trainieren, ihr Engagement und ihre Kompetenz zu erhöhen. Außerdem sollte man ihnen Dinge wie "Prioritäten setzen" oder "Entscheidungen treffen" auf hohem Niveau beibringen.

Kompetenz fürs Homeoffice als echter Wertschöpfungsbeitrag

Ein anderes Beispiel: Ein Unternehmen will, dass im Homeoffice effektiv gearbeitet wird. Diesen Wunsch erfüllen auf besonders vorbildliche Weise jene Mitarbeiter, die über eine hohe Ergebnisorientierung verfügen. Die Frage ist, wie die PE den "anderen" – den Aufgabenorientierten – beibringt, in einer bestimmten Zeit mit etwas mehr Realitätsbezug auch ein bestimmtes Ergebnisniveau zu erreichen. Wenn das gelänge, für mehr Ergebnisorientierung unter allen Menschen im Homeoffice zu sorgen, dann wäre das eine Weiterbildungsmaßnahme, die im Sinne von Grundl die Wertschöpfung in einem Unternehmen stark erhöhen könnte. Aber leider wachsen seiner Ansicht nach viele Berufstätige "geistig" zu langsam mit.

Führungskompetenzen durch Coaching stärken

Das dritte Beispiel für "geistiges Wachstum" im Sinne Grundls dreht sich um eine Führungskraft, die nicht gut Aufgaben delegieren kann. Sie kommt in ein Führungsseminar, um Techniken des Delegierens zu erlernen. Dabei stellt sich heraus, dass sie bereits alles über die Kunst des richtigen Delegierens weiß – sie tut es einfach nicht konsequent genug und arbeitet stattdessen selbst immer wieder bis Mitternacht. Es kommt schließlich heraus, dass es dieser Führungskraft sehr wichtig ist, beliebt zu sein und sie ihre Mitarbeiter nicht überfordern will, weil sie Angst hat, dafür gehasst zu werden. Eine gute Mitarbeiter-Chef-Beziehung sieht sie als ihre größte Stärke an.

Aus Sicht eines Psychologen ist dieser Mensch in seiner Führungsrolle nicht in der Lage, Nähe und Distanz angemessen regulieren zu können. Jede Führungskraft bewegt sich zwischen den Polen "Nähe" und "Distanz" hin und her. In unserem Beispiel erkennt der Chef nicht, dass er seinem Unternehmen nur nützt, wenn er auch einmal klare Ansagen macht und entschieden delegiert. Grundls Führungskräfteseminare enden nicht etwa mit der Bewusstmachung der Polarität, sondern ihnen folgt ein Coaching-Prozess, der dazu führt, dass der besagte Chef im Alltag ein echtes Bedürfnis nach Distanz in sich wahrnimmt und dann übt, sein Verhalten in Sachen Delegation zu ändern. In diesem Zusammenhang verteilt Grund auch "Hausaufgaben", die wöchentlich mit einem Coach besprochen werden. Lernziel ist die Balance von gelebter Nähe und Distanz – eine Art "distanzierter Nähe".

Für Grundl steht fest: Indem die Führungskraft besser führt, trägt sie auch dazu bei, dass die Mitarbeiter besser arbeiten und das Unternehmen bessere Ergebnisse erzielt: "Geistiges Wachstum eines Mitarbeiters führt zu Unternehmenswachstum und bildet die Basis für die Existenzberechtigung von Personalentwicklung." Aber für Grundl ist auch klar, dass der Preis für geistiges Wachstum eine gewisse Anstrengung ist – wie man sich am Beispiel einer Verhaltensänderung gut vorstellen kann.

Personalentwicklung muss mentale Fähigkeiten stärken

Die geistige oder mentale Haltung, von der hier gesprochen wird, muss erlernbar sein. Dafür sorgen eine durchdachte Methodik und Didaktik. Grundl: "Einfache Kalendersprüche reichen da nicht. Im Kern geht es um die Antwort auf folgende Fragen: Wie können Menschen wirklich mental wachsen? Wie können sie sich selbst mental herausfordern und sich ihrer geistigen Fähigkeiten bewusst werden? Wie gelingt es allen Beteiligten, besser mit den Herausforderungen der heutigen Zeit klarzukommen, geistig fitter und mental gesünder zu werden? Wie werden Menschen so groß, dass sie starke Ergebnisse liefern und dadurch Unternehmen noch stärker werden? Letztlich heißt die entscheidende Frage: Wie finden wir Wege von 'höher-schneller-weiter' zu 'flexibler-klarer-tiefer'?"

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Acht Transformationsthesen zur Personalentwicklung

Für Grundl kommt es nicht darauf an, im Sinne des Selbstoptimierungswahns "die Zitrone noch mehr auszupressen", sondern die gesamte Frucht zu vergrößern. Auf die Frage "Wie geht das?" antwortet er mit folgenden Thesen:

  1. Geistiges Wachstum fordert geistige Anstrengung. Es gilt, einen Preis zu zahlen: Durch mentale Anstrengung folgt mentales Wachstum.
  2. Es braucht konsequente Transformationsprozesse für veränderungsbereite Individuen. Dazu bedarf es einer klaren, durchdachten und in der Praxis bewiesenen Methodik und Didaktik.
  3. Es braucht Trainer, die sich selbst und andere gerne geistig fordern und in ihrem Leben eine mentale Transformation selbst erlebt haben; die sich in das Potenzial eines Menschen verlieben; die positiv unbequem fordernd sind; die sich nicht emotional prostituieren.
  4. Es braucht die Kombination von persönlicher Inspiration und ortsunabhängigem Lernen – online und offline.
  5. Es bedarf konsequenter Umsetzungszeiträume und Personalentwicklung braucht die Möglichkeit, Lernfortschritte zu messen und abzubilden.
  6. Alle Möglichkeiten zur Ausrede sollten im Voraus eliminiert werden – wie man beim Abnehmen den Inhalt des Kühlschranks auf ein Minimum runterfährt.
  7. Aus der Resilienzforschung wissen wir: Ein Mensch wächst im Leben entweder durch die Bewältigung von Krisen oder durch eine länger anhaltende Sinnerfahrung. Zweiteres gilt es, durch eine sinnvolle Denkschule zu vermitteln.
  8. Es braucht mehr Menschen, die einen positiv zwingen, das zu tun, was man tun könnte.

Die künftige Daseinsberechtigung von Personalentwicklung

Statt sich also auf die "Bestätigung im Hier und Jetzt" zu konzentrieren, sollte sich die PE kurz gesagt auf die "Bestätigung für geistiges Wachstum" konzentrieren. Das sei ein kleiner Unterschied mit unglaublich großer Wirkung und es handele sich um die zukünftige Daseinsberechtigung von PE - "damit die Entwicklung des Menschen nicht als Erstes dem Rotstift zum Opfer fällt, sondern genauso ernstgenommen wird wie die Anschaffung einer Maschine."

In Zukunft wird es laut Grundl darauf ankommen, zu erkennen, wie sehr der Markenkern "Bestätigung des Status quo" zur Lähmung der PE beigetragen hat. Aber ein Aufbruch zu neuen Ufern sei gut möglich: "Zuerst intellektuelles Erkennen, dann emotionales Anerkennen, dann mentale Transformation". Der neue Markenkern von PE müsse "Bestätigung durch Wachstum" heißen. Grundl: "Um zu diesem neuen Markenkern zu kommen, muss die Personalentwicklung einen Prozess durchlaufen, der Zeit braucht und nicht verordnet werden kann."

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Er selbst bemühe sich, diesen Prozess sichtbar zu machen und beschreibe einen möglichen Weg für die Zukunft. Einen Weg, von dem er wisse, dass er in der Praxis funktioniere und von dem er annehme, dass er der deutschen Wirtschaft sehr guttäte. Seine Thesen sieht er als eine Einladung. Das Umsetzen liege jetzt aber in der Verantwortung der vielen Personalentwickler, HR-Manager und Personalchefs in den Unternehmen. Allerdings rechnet Grundl auch damit, aus Teilen der PE-Szene kritisiert zu werden – frei nach dem Motto: "Magst du die Botschaft nicht, diskreditiere den Boten." Grundl will sich der Diskussion stellen und sie offen austragen.


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