Rz. 75

Früher trennte das BAG scharf zwischen den Begriffen "Kündigung" (= rechtliche Beendigung) und "Entlassung" (= tatsächliche Beendigung), was vor allem im Rahmen von Massenentlassungen nach § 17 KSchG von Bedeutung war.[1] Mittlerweile versteht das BAG jedoch unter dem Begriff "Entlassung" die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag. Das gilt für § 17 KSchG, aber auch für § 104 BetrVG oder § 113 BetrVG. Im Einzelnen:

 

Rz. 76

Nach § 17 KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, den Betriebsrat zu konsultieren und der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er Massenentlassungen vornimmt.

Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist eine Massenentlassung geplant, wenn eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern im Betrieb innerhalb von 30 Kalendertagen entlassen werden soll. § 17 KSchG setzt die Richtlinie 98/59/EG (MERL) um. Nicht nur der Begriff "Entlassung"[2], auch die Begriffe "Arbeitnehmer"[3] und "Betrieb"[4] werden vom EuGH nach Unionsrecht autonom und einheitlich ausgelegt. Für § 17 KSchG gelten daher andere Definitionen als für §§ 1, 23 KSchG. Soweit das deutsche Recht günstiger ist als das Unionsrecht, setzt es sich durch.[5]

Nach § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG muss die Anzeige bestimmte Angaben enthalten, insb. den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebs. Die fehlerhafte Betriebsnummer führt nach Sinn und Zweck der Anzeige nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.[6]

Nach Satz 5 sollen in der Anzeige Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden. Die Verletzung dieser Sollbestimmung führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.[7]

Hat die Agentur für Arbeit in ihrem Bescheid die Massenentlassungsanzeige als ausreichend angesehen, heilt dieser Bescheid nicht eine fehlerhafte Anzeige. Einem solchen Bescheid kann auch nicht entnommen werden, dass das Konsultationsverfahren korrekt abgelaufen ist. Die Bindungswirkung eines solchen Bescheids umfasst nur seinen eigentlichen Inhalt, d. h. die Festsetzung der Dauer der Sperrfrist.[8]

Ob eine Kündigung nach § 134 BGB unwirksam ist, wenn eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3, Abs. 1 KSchG fehlt, ist derzeit offen. Nachdem das BAG hiervon bislang in ständiger Rechtsprechung ausgegangen war[9], hat der 6. Senat mit Beschluss vom 14.12.2023 mitgeteilt, dass er an seiner diesbezüglichen Rechtsprechung nicht mehr festhalte.[10] Auf die in diesem Zusammenhang gestellte Divergenzanfrage hat der 2. Senat nunmehr mit Beschluss vom 1.2.2024 geantwortet, er halte es ebenfalls für möglich, dass die Nichtigkeit einer ohne ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige erklärten Kündigung nach § 134 BGB – auch unter Beachtung der Vorgaben des Unionsrechts – eine unverhältnismäßige Rechtsfolge darstelle. Allerdings sah er sich wegen unionsrechtlicher Bedenken außer Stande, die Divergenzanfrage des 6. Senates abschließend zu beantworten und hat dem EuGH stattdessen mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.[11]

Vor dem Hintergrund der neueren EuGH-Rechtsprechung[12] spricht vieles dafür, dass das BAG von seinem bisherigen Sanktionssystem bei fehlerhaften Massenentlassungsanzeigen nach Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen – und ggf. nach Anrufung des Großen Senats – insgesamt Abstand nehmen wird. Der 6. Senat vertritt dabei die Auffassung, dass alle denkbaren Fehler im Anzeigeverfahren nicht zur Nichtigkeit der Kündigung führen[13], womit auch einem grundsätzlich denkbaren differenzierten Sanktionssystem[14] eine Absage erteilt wäre. Letzteres wiederum hält der 2. Senat für sachgerecht und unionsrechtlich geboten. Entscheidend sei, ob der Arbeitgeber von einer nach Unionsrecht erforderlichen Massenentlassungsanzeige gänzlich abgesehen oder eine solche erstattet habe. Ein im Zuge einer nach Unionsrecht anzeigepflichtigen Massenentlassung gekündigtes Arbeitsverhältnis könne vor Ablauf der Entlassungssperre des § 18 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG nicht beendet sein.[15]

Bei Fehlern im Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG halten sowohl der 6. als auch der 2. Senat die Rechtsfolge der Nichtigkeit der Kündigung in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung weiterhin für zutreffend.[16] Ob sich auch in dieser Frage zukünftig Bewegung einstellen wird, bleibt abzuwarten.

Die dringend erforderliche Rechtsklarheit dürften schlussendlich nur das nunmehr angestrengte und ggf. weitere Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH herbeiführen können.[17] Unbeschadet dieser derzeit offenen Fragen muss ein Arbeitnehmer, der eine gemäß § 134 BGB i. V. m. §§ 17 ff. KSchG rechtsunwirksame Kündigung angreifen will, eine Kündigungsschutzklage nach §§ 4, 7 KSchG erheben.[18]

 

Rz. 77

Nach § 104 BetrVG kann der Betriebsrat unter bestimmten Umständen vom Arbeitgeber die "Entfernung betriebsstörender Arbeitnehmer" verlangen, genauer: die "Entlassung oder Versetzung". Der Betriebsrat kann beim Arbeitsgericht beantragen, dem Arbeitgeber aufzugeben, die "Entlassung"...

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