Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Behinderungsausgleich. Anspruch eines 17-jährigen Schülers auf Versorgung mit einer Handprothese als Wechselhand

 

Orientierungssatz

1. Die Versorgung eines 17-jährigen Schülers mit einer Handprothese "VariPlus Speed" ist nach §§ 33 Abs 1, 12 Abs 1 SGB 5 zu Lasten der Krankenversicherung notwendig, weil sie dessen zu befriedigendem Grundbedürfnis an Mobilität und dem Greifen iS eines Zupackens unter Berücksichtigung der nur hierdurch besseren Integration im Rahmen des Schulbesuchs und in den Kreis Gleichaltriger dient.

2. Der durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich ist auf eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes bzw Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger

 ausgerichtet.

3. Mit der Handprothese "VariPlus Speed" wird der Heranwachsende in die Lage versetzt, den Anschluss an Unternehmungen seiner Altersgenossen zu erhalten und sich möglichst gleichwertig im Alltag insgesamt einzubringen und hieran teilzunehmen.

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. November 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I.

Der fast 17jährige Kläger begehrt die Versorgung mit einer Handprothese als Wechselhand zur bereits vorhandenen Prothese.

Der Kläger ist im November 2003 ohne rechte Hand geboren. Er ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert und wurde im Juli 2007 erstmals mit einer Prothesenhand versorgt. Wachstumsbedingte Neuversorgungen fanden in den Jahren 2012 und 2014 statt. Im Jahr 2016 wurde der Kläger mit einer myoelektrischen Handprothese (MyoHand) des Modells bebionic (Fa. Otto Bock) mit 14 wählbaren Griffarten versorgt, die er, sofern sie sich nicht reparaturbedingt beim Hilfsmittelversorger befand oder befindet, täglich nutzte und noch gegenwärtig nutzt.

Die den Kläger behandelnde Kinderärztin Dr. D verordnete ihm am 23. Mai 2017 wegen Brachydaktylie rechts (Q73.8+RG) als Hilfsmittel eine „VarioPlus Speed re Gr. 7 ¼ zum vorhandenen Prothesenschaftsystem von 2016“. Den unter Vorlage eines Angebots des Zentrums für Prothetik und Rehabilitation N vom 4. Juli 2017 über eine neue VariPlus Speed Hand / Wechselhand zur Ergänzung der vorhandenen elektrischen Unterarmprothese von 2016 in Höhe von brutto 9.266,18 € gestellten Versorgungsantrag vom 7. Juli 2017 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. August 2017 ab mit der Begründung, innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Frist sei eine abschließende Beurteilung nicht möglich.

Im Zuge des nachfolgenden Widerspruchsverfahrens teilte die Firma N dem von der Beklagten eingeschalteten Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit, die beantragte Zweitausstattung mit der VarioPlus Speed Hand diene als Ergänzung der bebionic Hand und sei für robustere Arbeiten geeignet (Schreiben vom 1. August 2017). Mit ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 4. September 2017 stellte die Sachverständige des MDK Dr. K fest, die medizinischen bzw. sozialmedizinischen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung seien nicht erfüllt. Mit der erfolgten Reparatur bzw. Instandsetzung der vorhandenen bebionic Hand „müsste“ bereits eine zweckmäßige und ausreichende Versorgung stattgefunden haben. Mit Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2018 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Die bestehende Versorgung sei zweckmäßig und ausreichend.

Mit der am 23. Februar 2018 vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, er nutze die bebionic Hand, deren Verwendung vom Hersteller mittlerweile ohne Kosmetikhandschuh freigegeben worden sei, soweit sie ihm tatsächlich zur Verfügung stehe und nicht repariert werden müsse, ganztägig und könne damit insbesondere feinmotorische Tätigkeiten gut bewältigen. Die Alltagsverrichtungen eines Jugendlichen seines Alters bedingten aber auch eine hinreichende Robustheit der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel, und zwar in der Schule, der Familie und in der Freizeit. Diesen Anforderungen werde die vorhandene Prothese nicht gerecht. Beschädigungen zögen längere Ausfallzeiten nach sich. Wegen der durch die Funktionalität bedingten offenen und technisch aufwändigen Bauweise sei die vorhandene Hand darüber hinaus defektanfälliger und nicht gleichermaßen für sämtliche Alltagstätigkeiten geeignet. Die Voraussetzungen für eine ergänzende Versorgung lägen bei ihm vor.

Das Sozialgericht hat nach Durchführung eines Erörterungstermins am 20. August 2019 - auf das Protokoll Bl. 108 f. der Gerichtsakten wird Bezug genommen - mit Urteil vom 26. November 2019 den Bescheid vom 8. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2018 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger mit einer VariPlus Speed-Hand zu versorgen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die beg...

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