Entscheidungsstichwort (Thema)
Besonderer Kündigungsschutz für Wahlinitiatoren. Voraussetzungen der betriebsbedingten Kündigung. Betriebsbedingte Kündigung und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Darlegungs- und Beweislast bezüglich der Sozialauswahl
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Kündigung eines Arbeitnehmers, der zu einer Betriebsversammlung zur Wahl eines Wahlvorstands gem. § 17 Abs. 3 BetrVG einlädt, ist vom Zeitpunkt der Einladung bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses unzulässig. Denn er ist im Hinblick auf mögliche Interessenkonflikte mit dem Arbeitgeber für die Zeit der Wahl besonders schutzbedürftig. Nachwirkender Sonderkündigungsschutz kommt dem Wahlinitiator nicht zu.
2. Eine Kündigung ist im Sinn von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt, wenn der Bedarf für eine Weiterbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers im Betrieb voraussichtlich dauerhaft entfallen ist. Dazu müssen im Tätigkeitsbereich des Gekündigten mehr Arbeitnehmer beschäftigt sein, als zur Erledigung der zukünftig anfallenden Arbeiten benötigt werden.
3. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist stets zu prüfen, ob die Kündigung durch eine anderweitige Beschäftigung des Arbeitnehmers hätte vermieden werden können. Ist die Weiterarbeit an einem anderen freien Arbeitsplatz, über den der Arbeitgeber verfügen kann, möglich und zumutbar, ist die Kündigung weder dringend noch durch ein betriebliches Erfordernis bedingt. Dabei sind auch solche Arbeitsplätze zu berücksichtigen, deren Anforderungen der Arbeitnehmer erst nach einer angemessenen Einarbeitungszeit genügen kann.
4. Hat der Arbeitgeber seine subjektiven Auswahlüberlegungen vorgetragen und ggfs. auch bewiesen und war danach die soziale Auswahl zutreffend, trägt der Arbeitnehmer wieder die volle Darlegungs- und Beweislast für eine objektiv fehlerhafte Auswahlentscheidung.
Normenkette
KSchG §§ 1, 15; BetrVG § 17 Abs. 3, § 18 Abs. 3; ArbGG § 61a Abs. 3, § 67
Verfahrensgang
ArbG Würzburg (Entscheidung vom 23.02.2021; Aktenzeichen 12 Ca 987/19) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Teilurteil des Arbeitsgerichts Würzburg vom 23.02.2021, Az.: 12 Ca 987/19, abgeändert und zur Klarstellung wie folgt gefasst:
1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 23.06.2020 zum 30.09.2020 nicht aufgelöst wird.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für Oktober 2020 7.916,67 € brutto abzüglich erhaltenes Arbeitslosengeld in Höhe von 2.542,80 € netto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 03.11.2020 zu zahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für November 2020 7.916,67 € brutto abzüglich erhaltenes Arbeitslosengeld in Höhe von 2.542,80 € netto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.12.2020 zu zahlen.
4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für Dezember 2020 7.916,67 € brutto abzüglich erhaltenes Arbeitslosengeld in Höhe von 2.542,80 € netto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.01.2021 zu zahlen.
5. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für Januar 2021 7.916,67 € brutto abzüglich erhaltenes Arbeitslosengeld in Höhe von 2.542,80 € netto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 02.02.2021 zu zahlen.
6. Im Übrigen wird die Klage in Ziffer 2 abgewiesen.
7. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
8. Der Streitwert wird festgesetzt auf 63.701,37 €.
II. Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.
III. Von den Kosten der Berufung trägt der Kläger 76 %, die Beklagte 24 %.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um zwei betriebsbedingte Arbeitgeberkündigungen.
Der am 02.04.1963 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit dem 15.01.2017 als Sales Manager EMEA im Industrievertrieb beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wird geregelt durch den schriftlichen Arbeitsvertrag vom 21.12.2016 (Anlage K1 zur Klage, Bl. 5 ff. d.A.).
§ 1 Abs. 2 lautet: "Als Dienstsitz des Mitarbeiters wird ein Home Office vereinbart".
In § 1 Abs. 5 wird auf eine dem Vertrag als Anlage 1 beigefügte Stellenbeschreibung verwiesen. Dort ist geregelt, dass die Stellenbeschreibung innerhalb der ersten vier Wochen gemeinsam erstellt wird. Es existiert eine Stellenbeschreibung (Anlage B1 zum Schriftsatz vom 28.10.2019, Bl. 48 f. d.A.), der Kläger hat vorgetragen, dass diese nicht durch die Parteien gemeinsam erstellt wurde.
Die Stellenbeschreibung sieht hinsichtlich des Tätigkeitsbereichs des Klägers Folgendes vor:
• Verantwortlich für das Managen des gesamten Vertriebsaufwands für einen zugewiesenen Kundenstamm in EMEA.
• Kundenpräsentationen an wichtige Entscheidungsträger und andere relevante Funktionsbereiche von bestehenden und potenziellen Kunden innerhalb des jeweiligen Kundenstamms.
• Erfüllen der festgelegten vierteljährlichen Vertriebsziele für die EMEA-Region.
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