Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichteinladung eines behinderten Bewerbers zum Vorstellungsgespräch beim öffentlichen Arbeitgeber. Differenzierung zwischen offensichtlicher fachlicher Nichteignung und lediglich Zweifeln an der fachlichen Eignung bei schwerbehinderten Stellenbewerbern. Rechtsmissbrauch bei häufigen Klagen auf Entschädigung wegen Benachteiligung nach dem AGG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Verletzung der in § 165 Satz 3 SGB IX geregelten Verpflichtung eines öffentlichen Arbeitgebers, einen schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, begründet regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung.

2. "Offensichtlich" fachlich nicht geeignet ist, wer unzweifelhaft nicht dem Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle entspricht. Bloße Zweifel an der fachlichen Eignung rechtfertigen es nicht, von einer Einladung abzusehen, weil sich Zweifel im Vorstellungsgespräch ausräumen lassen können. Der schwerbehinderte Mensch soll nach § 165 Satz 3 SGB IX die Chance haben, sich in einem Vorstellungsgespräch zu präsentieren und den öffentlichen Arbeitgeber von seiner Eignung zu überzeugen.

3. Auf Rechtsmissbrauch kann nicht bereits daraus geschlossen werden, dass eine Person eine Vielzahl erfolgloser Bewerbungen versandt und mehrere Entschädigungsprozesse geführt hat oder führt.

 

Normenkette

AGG §§ 1, 6 Abs. 1, § 7 Abs. .1, § 15 Abs. 2, § 22; SGB IX § 164 Abs. 2, § 165; ZPO § 253 Abs. 2, §§ 420, 435, 417; BGB § 242

 

Verfahrensgang

ArbG Schwerin (Entscheidung vom 17.04.2019; Aktenzeichen 4 Ca 1283/18)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 17.04.2019 - 4 Ca 1283/18 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Zahlung einer Entschädigung wegen Benachteiligung aus Gründen einer Behinderung, insbesondere wegen der unterbliebenen Einladung zum Vorstellungsgespräch.

Das Amt K. W. schrieb im April 2018 über das Portal "Interamt.de" für die beklagte amtsangehörige Gemeinde die - zunächst auf 1 Jahr befristete - Vollzeit-Stelle einer/eines Betriebsleiter/in für das Projekt "minimare" mit einer Eingruppierung nach Entgeltgruppe 11 TVöD aus. Die beklagte Gemeinde liegt unmittelbar an der Ostseeküste und hat rund 1.800 Einwohner. Sie plante die Einrichtung eines Freizeit- und Erlebnisparks unter der Bezeichnung "minimare", der in einem wirtschaftlich selbstständigen Betrieb geführt werden sollte. In der Ausschreibung heißt es:

"...

Der Tätigkeitsbereich umfasst folgende Aufgaben:

• Leitung und wirtschaftliche Führung des Projektes minimare

• Entwicklung und Umsetzung von Marketingstrategien

• Organisation von Werbung, Veranstaltungen und PR-Tätigkeit (Öffentlichkeitsarbeit)

• Zusammenarbeit mit den touristischen Dienstleistern, Gewerbetreibenden, Agenturen, Vereinen sowie den Einwohnern

• Personalmanagement, Personalführung und Personaleinsatzplanung

• Haushalts- und Wirtschaftsplanung

Von den Bewerbern/Bewerberinnen erwarten wir:

• abgeschlossenes Studium (FH / Bachelor oder Master) in der Fachrichtung Betriebswirtschaft, Tourismus, Marketing oder Kommunikation bzw. einen vergleichbaren Abschluss,

• Erfahrungen in den Bereichen Betriebswirtschaft/Marketing/Tourismus sind wünschenswert,

• Kommunikationsfähigkeit sowie Kunden- und Serviceorientierung,

• Hohes Maß an Eigeninitiative und Durchsetzungsvermögen sowie eine strukturierte, sorgfältige und selbständige Arbeitsweise,

• Kenntnisse sowie routinierter Umgang mit Office- und Internetanwendungen sind wünschenswert,

• Reisebereitschaft (Führerschein Klasse B).

..."

Auf diese Stelle bewarb sich der Kläger mit dem per E-Mail übersandten Schreiben vom 26.04.2018, das mit Anlagen insgesamt 53 Seiten umfasste. Unter den Anlagen befand sich ein eingescannter Gleichstellungsbescheid der Agentur für Arbeit C. vom 17.10.2016. Eine Wohnanschrift teilte der Kläger in der Bewerbung nicht mit, sondern gab lediglich eine Postfachadresse in Z. an. In dem Bewerbungsanschreiben heißt es u. a.:

"...

Den von Ihnen dargestellten Aufgaben bin ich gewachsen und würde mich freuen, sie bewältigen zu dürfen. Meine Gleichstellung mit Schwerbehinderten hat keinen Einfluss auf meine Arbeitsleistung bei dieser Stelle. Auf eine persönliche Vorstellung freue ich mich sehr und verbleibe,

mit freundlichen Grüßen

..."

In dem beigefügten Lebenslauf gab der Kläger an, im November 1987 geboren und ledig zu sein und die Schulausbildung im Juli 2007 mit dem Abitur in der Fachrichtung Informations- und Kommunikationstechnologie beendet zu haben. Seinen Angaben zufolge nahm er nach Ableistung des Grundwehrdienstes am 01.09.2008 eine Laufbahnausbildung im gehobenen Dienst der Bundespolizei auf. Nach den Bewerbungsunterlagen bestand er im August 2011 die Laufbahnprüfung des gehobenen Polizeivollzugsdienstes in der Bundespolizei mit der Note "befriedigend" und erwarb den akademischen Grad "Diplom-Verwaltungswirt (FH)". Anschließend war er seinen Angaben nach bis zum 13.05.2012 als Polize...

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