Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflicht des Arbeitgebers zur Fortsetzung der Gewährung von kostenlosen Freifahrtmöglichkeiten nach Eintritt in den Ruhestand. Ablösung durch Betriebsvereinbarung zu Lasten von Arbeitnehmern in der Passivphase der Altersteilzeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Gewährt ein Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs seinen Arbeitnehmern und deren Ehegatten sowie nach Eintritt in den Ruhestand den Betriebsrentnern und deren Ehegatten jahrzehntelang kostenlose Freifahrtmöglichkeiten, so handelt es sich für die Zeit des Ruhestandes um Leistungen der betrieblichen Altersversorgung. Dies gilt auch betreffend die Ehegatten der Betriebsrentner.

2. Die jahrzehntelang tatsächliche Handhabung im konkreten Fall führte unter Berücksichtigung der Umstände des Falles dazu, dass es sich um eine betriebsvereinbarungsoffene Regelung handelte. Insoweit ist nicht entscheidungserheblich, ob die Gewährung auf einer Gesamtzusage oder einer betrieblichen Übung beruhte. In beiden Fällen ist eine Ablösung durch eine Betriebsvereinbarung möglich.

3. Die erfolgte Ablösung durch eine Betriebsvereinbarung war für die aktiven Arbeitnehmer wirksam. Sie wirkt auch zu Lasten von Arbeitnehmern, die sich bereits in der Passivphase der Altersteilzeit befinden.

4. Soweit die kostenlose Nutzung des Nahverkehrs für die Zeit ab dem Ruhestand eine Leistung der betriebliche Altersversorgung ist, ist ein Eingriff in die dahingehenden Anwartschaften nur nach den Grundsätzen der Drei-Stufen-Theorie zulässig. Die Voraussetzungen waren vorliegend nicht erfüllt.

 

Normenkette

BetrAVG § 1 Abs. 1 S. 1; BetrVG § 77 Abs. 4 S. 1; BGB § 125 Abs. 1 S. 2, §§ 126, 145, 151, 280, 305b, 306 Abs. 2, § 307 Abs. 1 S. 1, §§ 328, 335, 611; ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2, §§ 256, 259; BMT-G § 4 Abs. 2 S. 1; TV-NW § 3 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Essen (Entscheidung vom 29.09.2016; Aktenzeichen 1 Ca 1677/16)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 25.06.2019; Aktenzeichen 3 AZR 458/17)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Berufungen des Klägers und der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Essen vom 29.09.2016 - 1 Ca 1677/16 - teilweise abgeändert und zum Zwecke der Klarstellung in der Hauptsache wie folgt neu gefasst:

    1. Die Beklagte wird verurteilt, der Ehefrau des Klägers, Frau C. X., ab dem 01.07.2018, jedoch frühestens ab Rechtskraft dieses Urteils, ein Ticket 1000 der Preisstufe D des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) lebenslang zu gewähren, solange die Eheleute verheiratet sind und im selben Haushalt leben.
    2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab dem 01.07.2018, jedoch frühestens ab Rechtskraft dieses Urteils, ein Ticket 1000 der Preisstufe D des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) lebenslang zu gewähren.
    3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
  • II.

    Die weitergehenden Berufungen des Klägers und der Beklagten werden zurückgewiesen.

  • III.

    Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger und die Beklagte jeweils zu 50%.

  • IV.

    Die Revision wird für beide Parteien zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Wesentlichen über einen Anspruch des Klägers auf Überlassung eines kostenlosen Tickets zur Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs für sich selbst und für seine Ehefrau, sowie die Einordnung dieser Leistungen als solche der betrieblichen Altersversorgung.

Die Beklagte ist ein Unternehmen, welches für die Stadt F. den öffentlichen Nahverkehr betreibt. Der am 28.06.1953 geborene Kläger wurde zum 01.04.1976 als Omnibusfahrer eingestellt. Der Arbeitsvertrag enthielt u.a. folgende Regelung:

"§ 2

Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach den Bestimmungen des Bundesmanteltarifvertrages für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G) vom 22. Mai 1953 und der zusätzlich abgeschlossenen Tarifverträge - insbesondere des Bezirkszusatztarifvertrages (BZT-G/NRW) - in ihrer jeweils geltenden Fassung. Das gleiche gilt für die an deren Stelle tretenden Tarifverträge. Daneben finden die für den Bereich des Arbeitgebers jeweils in Kraft befindlichen sonstigen Tarifverträge, betrieblichen Vereinbarungen und die Dienst- bzw. Arbeitsordnung Anwendung."

Die Beklagte stellte in der Vergangenheit ihren Mitarbeitern und deren Ehepartnern auf Antrag ein unentgeltliches Ticket zur Nutzung der Verkehrsmittel im öffentlichen Nahverkehr zur Verfügung. Zeitweise warb sie auf Fahrzeugen für Mitarbeiter mit einer Aufschrift, die sinngemäß lautete: "Als Mitarbeiter der F. haben Sie und Ihre Frauen immer freie Fahrt."

Grundlage der Gewährung in der Vergangenheit waren zunächst "Bestimmungen über die Gewährung von Dienstausweisen, Frei-Fahrkarten, Familien-Fahrkarten, Lehrlings- und Schülerkarten" vom 25.10.1958, die u.a. folgendes beinhalteten:

"I. Dienstausweise

...

b)Die Verkehrsaufseher ... erhalten einen Dienstausweis mit rotem Band, der gleichzeitig für Freifahrt auf unserem Straßenbahn- und Omnibusstreckennetzt (außer Fernlinien) Gültigkeit hat.

c)Sämtliche im Fahrdienst beschäftigten Belegschaftsmitglieder ... erhalten einen Dienstausweis. Freifahrtberechtigung wie b).

II. Frei-Fahrkarten

....

III. Familien-Fahrkarten

1. Ver...

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