Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen des Anspruchs eines Arbeitnehmers auf arbeitsmedizinische Wunschvorsorge

 

Leitsatz (amtlich)

1. Beschäftigte haben einen vertraglichen Anspruch auf arbeitsschutzrechtlich vorgeschriebene Vorsorgeuntersuchungen.

2. Der Anspruch auf eine arbeitsmedizinische Wunschvorsorge nach § 5a ArbMedVV bzw. § 11 ArbSchG setzt lediglich voraus, dass die oder der Beschäftigte den entsprechenden Wunsch äußert.

3. Nach § 5a 2. Halbs. ArbMedVV bzw. § 11 letzter Halbs. ArbSchG entfällt der Anspruch auf arbeitsmedizinische Wunschvorsorge im Einzelfall, wenn sich aus einer aktuellen belastbaren Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG und den danach getroffenen Schutzmaßnahmen ergibt, dass mit einem Gesundheitsschaden nicht zu rechnen ist.

Es bleibt offen, ob dieser Ausnahmetatbestand auch eingreifen kann, wenn die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber darlegt und beweist, dass aufgrund der Arbeitstätigkeit eine Gefahr für die Gesundheit ausgeschlossen ist.

4. Eine Gesundheitsgefahr kann sich auch aus den Wechselwirkungen zwischen den Arbeitsbedingungen und individuellen Dispositionen ergeben.

5. Die Kosten der arbeitsmedizinischen Wunschvorsorge hat die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber zu tragen.

 

Normenkette

ArbMedVV § 5a; ArbSchG § 11

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 03.12.2015; Aktenzeichen 1 Ca 17694/14)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 3. Dezember 2015 - 1 Ca 17694/14 - abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin auf Kosten der Beklagten durch eine Arbeitsmedizinerin oder einen Arbeitsmediziner i. S. v. § 7 ArbMedVV arbeitsmedizinisch untersuchen zu lassen.

II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin auf Kosten der Beklagten eine arbeitsmedizinische Untersuchung zusteht.

Die 1957 geborene Klägerin ist seit 1977 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen in Berlin beschäftigt und aktuell als Senior Referentin in der IT-Organisation gegen eine monatliche Bruttovergütung von 4.600,00 Euro tätig. Die Beklagte betreibt ein Kreditinstitut mit weit mehr als zehn Beschäftigten. Ein Betriebsrat ist gebildet.

Ende 2007 wurde die Klägerin in ein Großraumbüro, den Raum A3.23, im Dienstleistungszentrum der Beklagten in der Brunnenstraße 111 umgesetzt. Nach kurzer Zeit traten bei ihr Haut- und Atemwegserkrankungen auf. Nach einem von der Beklagten am 29. April 2008 eingeholten Raumluftgutachten lagen sämtliche gemessenen Werte hinsichtlich flüchtiger organischer Verbindungen (VOC), Formaldehyd und Schimmelpilzen deutlich unterhalb der jeweiligen Unbedenklichkeitsgrenze.

Nachdem sich die Beschwerden der Klägerin im Herbst 2008 in Form von Atemnot und Atemwegsreizungen, Gelenkschmerzen und massiven Hautveränderungen verschlimmerten, nahm die Klägerin das Angebot eines Kollegen, sein Büro mitzubenutzen, an und wechselte in den Raum A22.16, in dem seinerzeit die Klimaanlage defekt war. Daraufhin klangen die Symptome ab. Nach der Reparatur der Klimaanlage Ende 2009 traten die Symptome in abgeschwächter Form wieder auf. Mit Hilfe ihrer Teamleiterin Frau H. konnte die Klägerin in den Bauteil P und einen Raum umziehen, der weder über eine Klimaanlage noch über eine sonstige raumlufttechnische Anlage verfügt. Daraufhin klangen die Symptome wieder ab, traten aber erneut auf, wenn die Klägerin an Besprechungen in Räumen mit Klimaanlage teilnehmen musste.

Im Jahr 2010 unterzog sich die Klägerin in der Charité einem Allergietest (Pricktest), bei dem kein Auslöser für die Beschwerden gefunden wurde. Unter dem 16. Februar 2012 stellte die Hausärztin der Klägerin dieser ein Attest aus, welches die Klägerin der Beklagten aber erst im März 2014 einreichte. In dem Attest (Bl. 9 d. A.) heißt es, die Klägerin leide mit zunehmender Intensität unter allergischen Beschwerden. Als Auslöser der allergischen Symptome sei ausschließlich die Klimaanlage gefunden worden. Es werde ärztlicherseits dringend angeraten, der Klägerin einen Arbeitsplatz ohne Klimaanlage mit der Möglichkeit, ein Fenster zu öffnen, zuzuweisen.

Im März 2012 zog die Klägerin nach einem Abteilungswechsel in den Raum O1.1.08 um, der weder mit einer Klima- noch einer raumlufttechnischen Anlage ausgestattet ist und Fenster zum Öffnen hat. Auch dort zeigten sich keine Symptome. Etwa zwei Monate später erfolgte ein weiterer Umzug in den Raum O1.1.01 mit einer raumlufttechnischen Anlage, in dem die Symptome erneut auftraten. Durch Unterstützung des Abteilungsleiters Herrn T. konnte die Klägerin in den Raum Q1.06 ohne Klima- oder raumlufttechnische Anlage und mit zu öffnenden Fenstern wechseln. Dort klangen die Symptome ab, traten aber bei wöchentlich mehrfach stattfindenden Besprechungen im Raum O1.1.04 mit raumlufttechnischer Anlage immer wieder auf.

Im Januar 2014 wechselte die Klägerin im Zuge der Zuordnung zu einer neuen Abteilung wieder in den Raum O1.1.08. Während der Auftaktvera...

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