Entscheidungsstichwort (Thema)

Annahmeverzug des Arbeitgebers bei gesundheitlich eingeschränktem Arbeitnehmer. Schadensersatzpflicht des Arbeitgebers bei Nichtnutzung anderer Beschäftigungsmöglichkeiten. Darlegungslast des Arbeitgebers für fehlende gesundheitskonforme Einsatzmöglichkeiten. Erhöhte Darlegungslast des Arbeitgebers für fehlende Einsatzmöglichkeiten bei fehlendem BEM. Übergang von Arbeitsentgelt auf Bundesagentur für Arbeit in Bedarfsgemeinschaft. Halbierung der Gerichtsgebühr bei erfolgreicher Beschwerde

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein oder eine Arbeitgeber*in kommt in Annahmeverzug, wenn es ihm oder ihr möglich und zumutbar ist, einen oder eine gesundheitlich eingeschränkte Arbeitnehmer*in in dem diesem oder dieser obliegenden Aufgabenbereich mit Tätigkeiten unter Berücksichtigung der Einschränkungen zu betrauen und er den oder die Arbeitnehmer*in nicht beschäftigt, gleichwohl dieser oder die seine oder ihre Arbeitleistung angeboten hat.

2. Ist dies nicht möglich, kann sich der oder die Arbeitgeber*in schadensersatzpflichtig machen, wenn es ihm oder ihr möglich und zumutbar ist, dem oder der Arbeitnehmer*in einen anderen geeigneten Arbeitsplatz gegebenenfalls nach entsprechender Umorganisation zuzuweisen und er oder sie dies unterlässt.

3. In beiden Fällen muss der oder die Arbeitnehmer*in die in Betracht kommenden Einsatzmöglichkeiten aufzeigen. Darauf hat sich der oder die Arbeitgeber*in nach § 138 Absatz 2 ZPO einzulassen und substantiiert vorzutragen, weshalb diese nicht bestehen oder ihm oder ihr nicht zumutbar sind. Es obliegt dann dem oder der Arbeitnehmer*in, die Behauptungen des oder der Arbeitgeber*in zu widerlegen.

4. Die Darlegungslast des oder der Arbeitgeber*in verschärft sich, wenn er oder sie ein nach § 167 Abs. 2 SGB IX erforderliches BEM unterlassen hat. Er oder sie hat dann von vornherein umfassend darzulegen, weshalb keine zumutbaren Beschäftigungmöglichkeiten bestehen.

5. Zum Übergang des Anspruchs auf Arbeitsentgelt nach § 115 Absatz 1 SGB X wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld I und aufstockendem Arbeitslosengeld II als Bedarfsgemeinschaft.

 

Normenkette

ZPO § 114 S. 1; BGB § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1, §§ 293-294, 611a Abs. 2, § 615 S. 1; SGB II §§ 11b, 34c, 42 Abs. 1; SGB III § 337 Abs. 2; SGB X § 115 Abs. 1; ArbGG § 72 Abs. 2; GKG § 3 Abs. 2 Anl. 1 Teil 8 Nr. 8614 letzter S. Alt. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 17.06.2021; Aktenzeichen 57 Ca 6305/21)

 

Tenor

I. Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird - unter Zurückweisung der sofortigen Beschwerde im Übrigen - der Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 17. Juni 2021 - 57 Ca 6305/21 - teilweise abgeändert:

Dem Antragsteller wird für die I. Instanz Prozesskostenhilfe für den Antrag aus dem Klageentwurf vom 5. Juli 2021 im Umfang von 7.859,86 Euro brutto abzüglich 5.089,40 Euro netto nebst Zinsen mit Wirkung ab dem 16. November 2021 bewilligt.

Zur Wahrnehmung der Rechte in dieser Instanz wird dem Antragsteller Rechtsanwalt Andreas S beigeordnet.

Die Bewilligung erfolgt mit der Maßgabe, dass hinsichtlich der Prozesskosten vorläufig kein eigener Beitrag zu zahlen ist.

II. Die Gerichtsgebühr wird auf die Hälfte ermäßigt.

III. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen

 

Gründe

I. In dem Beschwerdeverfahren wendet sich der Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Antragsteller) gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage gegen seine Arbeitgeberin (im Folgenden: mögliche Beklagte) auf Arbeitsentgelt für die Zeit vom 19. März bis zum 30. Juni 2021.

Der Antragsteller ist verheiratet und hat drei minderjährige Kinder. Er ist bei der möglichen Beklagten seit dem 5. Juli 2011 als Bauhelfer auf der Grundlage des schriftlichen Arbeitsvertrages vom selben Tag (Blatt 8 ff. (fortfolgende) der Akten) mit monatlich 160 Stunden und einem Stundenlohn von 14,00 Euro beschäftigt. Die mögliche Beklagte betreibt in Berlin ein Bauunternehmen und beschäftigt über hundert Techniker*innen sowie mehrere hundert gewerbliche Facharbeiter*innen. Am 20. Mai 2019 erlitt der Antragsteller einen Arbeitsunfall und wird seitdem nicht mehr beschäftigt. Bei dem Arbeitsunfall kam es zu einem Abriss des Seitenbandes an seinem linken Daumen. Trotz mehrerer Operationen konnte die Stabilität des Daumengrundgelenks nicht wiederhergestellt werden, was dazu führte, dass die Kraft beim Spitzgriff gemindert und die linke Hand dadurch nicht mehr voll einsatzfähig ist. Ab dem 2. Juli 2019 nach Auslaufen der Entgeltfortzahlung bezog der Antragsteller Verletztengeld. Nachdem im November 2020 auch dieses ausgelaufen war, erhielt er monatlich 1.215,00 Euro Arbeitslosengeld I (ALG I) und aufstockend für sich und die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen 360,58 Euro Arbeitslosengeld II (ALG II). Seit dem 16. November 2021 erhält er nur noch ALG II.

Ein Antrag des Antragstellers auf Erwerbsminderungsrente wurde zurückgewiesen, da die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht mindestens 20 % betrage. Ein im Widerspruch...

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