Entscheidungsstichwort (Thema)

Neues bEM-Verfahren bei erneuter sechswöchiger Arbeitsunfähigkeit. Pflicht zu erneutem bEM-Verfahren innerhalb einer Jahresfrist. Objektive Nutzlosigkeit eines bEM-Verfahrens wegen fehlender alternativer Beschäftigungsmöglichkeit. Beweislast des Arbeitgebers für Nutzlosigkeit eines bEM-Verfahrens. Vermutungswirkung der Zustimmung durch Integrationsamt. Darlegungslast für Leistungserbringung beim Anspruchssteller

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Arbeitgeber hat gem. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX grundsätzlich ein neuerliches betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war, und zwar auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten bEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist.

2. Dies gilt auch dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit über den Abschluss des vorherigen bEM hinaus ununterbrochen nochmals mehr als sechs Wochen angedauert hat.

3. Der Arbeitgeber kann unabhängig davon, ob bereits ein zuvor durchgeführtes bEM Rückschlüsse auf die Nutzlosigkeit eines weiteren erlaubt, geltend machen, dass die Durchführung eines (weiteren) bEM keine positiven Ergebnisse hätte zeitigen können.

4. Für die objektive Nutzlosigkeit des bEM trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast. Er muss auch von sich aus zum Fehlen alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten oder zur Nutzlosigkeit anderer, ihm zumutbarer Maßnahmen vortragen. Allerdings gilt dies nur im Rahmen des ihm Möglichen und des nach den Umständen des Streitfalls Veranlassten.

5. Die Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers hat keine Vermutungswirkung dahingehend, dass ein bEM eine Kündigung nicht hätte verhindern können.

6. Die Beweislast für eine Leistungsbefreiung nach § 275 BGB trägt nach allgemeinen Grundsätzen diejenige Partei, die daraus eine ihr günstige Rechtsfolge herleitet.

 

Normenkette

SGB IX § 167 Abs. 2 S. 1, § 164; BGB § 275; ArbGG § 67 Abs. 1-3; KSchG § 1 Abs. 2; ZPO § 97 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 19.05.2021; Aktenzeichen 15 Ca 3932/20)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 15.12.2022; Aktenzeichen 2 AZR 162/22)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 19. Mai 2021 - Az: 15 Ca 3932/20 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:

    1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 26. Mai 2020 nicht aufgelöst wurde.
    2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin über den 31. Dezember 2020 hinaus arbeitsvertragsgemäß als Sachbearbeiterin in S. bis zur Rechtskraft einer Entscheidung über den Kündigungsschutzantrag weiter zu beschäftigen.
  • II.

    Die Kosten des Rechtsstreits in zweiter Instanz hat die Beklagte zu tragen.

    Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz hat die Beklagte zu 81 % und die Klägerin zu 19 % zu tragen.

  • III.

    Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung und einen Weiterbeschäftigungsanspruch.

Die am xx.xx.xxxx geborene, . . . , einem schwerbehinderte Menschen gleichgestellte Klägerin war ab dem 1. Januar 1999 bei der Beklagten in S. als Versicherungssachbearbeiterin in Teilzeit mit 20 Wochenstunden zu einer Bruttomonatsvergütung in Höhe von zuletzt 2.105,75 Euro beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt in ihrem Betrieb in S. weit mehr als zehn Arbeitnehmer. Ein Betriebsrat und eine Schwerbehindertenvertretung sind im Betrieb gebildet.

Bei der Tätigkeit als Versicherungssachbearbeiterin handelt es sich um eine überwiegend im Sitzen ausgeführte Tätigkeit. Die Arbeit findet am Telefon und am PC statt. Der Klägerin wurden Geschäftsvorfälle zur Bearbeitung zugewiesen. Für die Bearbeitung gab es je nach Geschäftsvorfall einzuhaltende Vorgaben. Zur Stelle gehört auch die Kommunikation mit in- und externen Stellen, die per Telefon oder schriftlich stattfinden kann. Der Arbeitsplatz der Klägerin befand sich in einem sog. Gruppenarbeitsraum. Hierbei handelt es sich um ein Büro, in dem mehrere Schreibtische mit Computern und Telefonen stehen und in dem mehrere Personen arbeiten. Die gesetzlichen Vorgaben zum Arbeitsschutz wie z.B. Beleuchtung, Lüftung, Heizung wurden stets eingehalten. Die Arbeit findet nicht im Schichtdienst statt und üblicherweise auch nicht in der Nacht oder am Wochenende. Im Rahmen einer Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitflexibilisierung (BV Flexible Arbeitszeit) können die Mitarbeiter weitgehend selbst über Beginn und Ende ihrer täglichen Arbeitszeit sowie über die Lage der Pausen bestimmen.

Die Klägerin war vom 12. Dezember 2014 an bis zum 27. Mai 2020 ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt. Am 21. Februar 2019 stellte die Klägerin sich auf Aufforderung der Beklagten beim Betriebsarzt vor, der keine eigene Untersuchung durchführte, sondern zunächst die Vorlage sämtlicher Arztberichte und Befunde forderte, kei...

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