2.1.5.1 Generelle und individuelle Kausalität

 

Rz. 30

Nimmt der Verordnungsgeber eine Erkrankung in die Berufskrankheitenliste auf, so erkennt er nur den generellen Ursachenzusammenhang zwischen ihr und den jeweiligen Einwirkungen verbindlich an (BSG, Urteil v. 26.2.1992, HV-Info 1992 S. 2796). Der generelle Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und der Krankheit bei der Prüfung der Voraussetzungen einer Berufskrankheiten-Bezeichnung unterscheidet sich aufgrund der allgemeinen und abstrakten Prüfungsebene von dem Ursachenzusammenhang bei der Prüfung der haftungsbegründenden Kausalität beim einzelnen Arbeitsunfall oder der Listen-Berufskrankheit im Einzelfall (BSG, Urteil v. 27.4.2010, B 2 U 13/09 R). Hierauf kann die individuelle Kausalitätsprüfung aufbauen. Ist generell anerkannt, dass bestimmte Stoffe bestimmte Krankheiten hervorrufen, so kann daraus keinesfalls automatisch auf den Zusammenhang im Einzelfall geschlossen werden (Becker, SGb 2006 S. 449, 453); denn die Bezeichnung als Berufskrankheit führt bei der Individualprüfung nur ausnahmsweise zu Beweiserleichterungen, nämlich wenn der Listentatbestand hinreichend bestimmt formuliert (z. B. Faserjahrmodell der BK 4104) oder die Einwirkung arbeitsspezifisch und die Erkrankung einwirkungsspezifisch ist (Mesotheliom des Brustfells, das nur durch Asbest hervorgerufen wird, BK 4105). Ist die Listenerkrankung dagegen unbestimmt und offen beschrieben ("Erkrankungen durch …"), scheiden Beweiserleichterungen von vornherein aus (Kater/Leube, SGB VII, § 9 Rz. 69). Die Kausalitätsfrage ist dann einzelfallbezogen zweistufig durchzuführen, indem zunächst Wirkursachen und ggf. Alternativursachen festgestellt werden und sodann nach der Theorie der wesentlichen Bedingung die Kausalfrage geklärt wird.

2.1.5.2 Haftungsbegründende Kausalität im Einzelfall

 

Rz. 31

Der ursächliche Zusammenhang zwischen listenmäßiger Einwirkung und listenmäßiger Erkrankung (haftungsbegründende Kausalität) ist ebenfalls in 2 Prüfungsschritten zu klären. Im ersten Prüfungsschritt ist die rein naturwissenschaftliche Verursachung zu klären. Erst wenn festgestellt werden kann, dass die Einwirkungen nicht hinweggedacht werden können, ohne dass die Erkrankung entfiele (condition sine qua non), ist wertend zu entscheiden, ob die festgestellten Wirkursachen rechtlich wesentlich für den Eintritt der Erkrankung waren. Dies beurteilt sich nach der unfallrechtlichen Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung. Danach sind nur die Bedingungen (mit-)ursächlich, die wegen ihrer besonderen Bedeutung für den Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Der Ursachenzusammenhang muss hinreichend wahrscheinlich sein; die bloße Möglichkeit genügt nicht (BSG, Urteile v. 2.2.1978, 8 RU 66/77, und v. 29.1.1974, 8/7 RU 18/72; Mehrtens/Brandenburg, E § 9 SGB VII Rz. 26). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (BSG, Urteile v. 2.2.1978, 8 RU 66/77, und v. 18.12.1997, 2 RU 48/96). Die Faktoren, die für den Ursachenzusammenhang sprechen, müssen die Umstände, die gegen die Kausalität sprechen, deutlich überwiegen (vgl. Schulz-Weidner, SGb 1992 S. 59, 64 f.).

2.1.5.3 Der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand

 

Rz. 31a

Zur Klärung des Ursachenzusammenhanges zwischen beruflichen Einwirkungen und der Erkrankung ist in jedem Einzelfall unter Zuhilfenahme medizinischen Sachverstandes zu prüfen, ob Erfahrungssätze für oder gegen den Zusammenhang sprechen. Diese Erfahrungssätze müssen dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand in der medizinischen Wissenschaft entsprechen (BSG, Urteil v. 23.4.2015, B 2 U 10/14 R; Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 5/05 R; Becker, ASUMed 2009 S. 593). Der Unfallversicherungsträger und im sozialgerichtlichen Verfahren die Tatsachengerichte müssen folglich prüfen, ob die der Entscheidung zugrunde liegenden Gutachten bestehende Erfahrungssätze beachten und nicht etwa solche medizinischen Erkenntnisse ihren Beurteilungen zugrunde legen, die den aktuellen Erkenntnisstand in der medizinischen Wissenschaft nicht berücksichtigen.

 

Rz. 31b

Als Erkenntnisquellen, aus der ein solcher Erfahrungssatz gewonnen werden kann, kommen zunächst das amtliche Merkblatt zur jeweiligen Berufskrankheit und die wissenschaftliche Begründung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Betracht, soweit sich diese auf aktuellem Stand befinden. Als weitere Erkenntnisquellen können Begutachtungsempfehlungen, Konsensempfehlungen und Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften herangezogen werden (Kranig, MEDSACH 2010 S. 54; Siefert, MEDSACH 2010 S. 60).

2.1.5.4 Dosismodelle, Orientierungswerte und Grenzwerte

 

Rz. 31c

Einzelne Berufskrankheiten-Tatbestände geben mehr oder weniger genau an, wie die berufliche Belastung (mindestens) beschaffen sein muss:

 
Praxis-Beispiel
  • Berufskrankheit Nr. 2112: "Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdaue...

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