Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Werkstatt für behinderte Menschen. Behindertenbegriff in § 2 SGB 9. Bestimmung der Wesentlichkeit der Behinderung. sachliche Zuständigkeit

 

Orientierungssatz

1. Zum Behindertenbegriff in § 2 Abs 1 S 1 SGB 9.

2. Bei der Feststellung einer Behinderung iS des § 53 Abs 1 S 1 SGB 12 iVm § 2 SGB12§60V ist neben der wesentlichen Fähigkeitseinschränkung auch der Grad der Teilhabebeeinträchtigung zu betrachten; danach kann auch eine leichte geistige Behinderung eine wesentliche Behinderung darstellen.

3. Eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) ist als teilstationäre Einrichtung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB12AG HE einzustufen mit der Folge der sachlichen Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers für die Kosten des Besuchs der WfbM nach § 97 Abs 1 und Abs 2 SGB 12 iVm § 2 Abs 1 Nr 1 SGB12AG HE (hier: Landeswohlfahrtsverband Hessen).

 

Tenor

I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 22. Juni 2006 wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Gründe

Die statthafte (§ 172 SGG) sowie form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte Beschwerde, der seitens des Sozialgerichts nicht abgeholfen wurde, hat keinen Erfolg.

Das Sozialgericht hat den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu Recht verpflichtet, bis zur Entscheidung in der Hauptsache die Kosten zu übernehmen, die durch die Betreuung und Beschäftigung der Antragstellerin in der Werkstatt für behinderte Menschen H. in A-Stadt entstehen. Zutreffend ist das Sozialgericht dabei davon ausgegangen, dass sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht wurden (§ 86b Abs. 2 Satz 3 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO).

Soweit sich der Antragsgegner und Beschwerdeführer im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens gegen die Annahme eines Anordnungsanspruchs gewendet hat, kommt auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens und nochmaliger Prüfung eine Abänderung der sozialgerichtlichen Entscheidung nicht in Betracht.

Die Antragstellerin hat gegen den Antragsgegner einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für ihren Werkstattbesuch gemäß §§ 53, 54 SGB XII in Verbindung mit § 2 der Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Eingliederungshilfe-Verordnung) und in Verbindung mit § 97 Abs. 1 und 2 SGB XII sowie § 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (HAG/SGB XII).

Es ist im Sinne der genannten Vorschriften davon auszugehen, dass die Antragstellerin infolge der Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfang in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist und deshalb als wesentlich geistig behindert im Sinne von § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und § 2 Eingliederungshilfe-Verordnung anzusehen ist.

Dabei ist an den einheitlichen Behindertenbegriff des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX anzuknüpfen, der wiederum auf die “Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit„ (ICF) zurückgreift (vgl. W. Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, Kommentar, 17. Auflage, § 53, Rdn. 12). Behinderung wird danach nicht als Eigenschaft oder persönliches Merkmal eines Menschen betrachtet, sondern als ein Begriff definiert, der “die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person (mit einem Gesundheitsproblem) und ihren Kontextfaktoren (Umwelt- und personen-bezogene Faktoren)„ bezeichnet (vgl. hierzu im einzelnen Bieritz-Harder in LPK-SGB XII, 7. Auflage, § 53 Rdnr. 5). Daraus folgt, dass nicht nur danach zu fragen ist, welche Fähigkeitsbeeinträchtigungen vorliegen, sondern ebenso danach, ob und in welcher Weise es einer Person mit ihrer konkreten Leistungsfähigkeit gelingt, an den wichtigen Lebensbereichen zu partizipieren (vgl. Bieritz-Harder, a.a.O.). In diesem Sinne verlangt auch § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX für die Feststellung einer Behinderung, dass eine vorhandene Funktions- oder Fähigkeitsstörung zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft führt. Für die Frage, welche Lebensbereiche auf mögliche Teilhabebeeinträchtigungen hin untersucht werden sollten, kann die ICF als Orientierung dienen. Hier werden insbesondere die Lebensbereiche Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben und Hilfe für andere, interpersonelle Interaktionen, Bildung, Arbeit und Beschäftigung, wirtschaftliche Sicherheit, Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben genannt.

Die Feststellung der wesentlichen geistigen Behinderung in dem genannten Sinne ergibt sich aus den zahlreichen, in der Verwaltungsakte des Antragsgegners befindlichen Gutachten, die sich über mehrere Jahre zurückverfolgen lassen.

Bereits im November 2002 wurde - seinerzeit für das Arbeitsamt PK. - ein psychologisches Gutachten erstellt, in dem eine über das Maß einer Lernbehinderung hinausgehende Einschränkung des inte...

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