Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 09.10.1969)

SG Regensburg (Urteil vom 11.09.1968)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Oktober 1969 und des Sozialgerichts Regensburg vom 11. September 1968 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen eines Unfalles am 22. Dezember 1965 auf der Fahrt von Antequera (Malaga) nach Regensburg.

Die Klägerin war zunächst von Februar 1963 bis Dezember 1964 in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) tätig. Danach lebte sie wieder in Antequera, wo sie seit 1959 ein Eigenheim mit zwei Zimmern, Küche und Bad besitzt. Dort wurden während ihrer Abwesenheit ihre beiden 1955 und 1959 geborenen Kinder von der Schwiegermutter betreut. Seit Mai 1965 arbeitete die Klägerin wieder in der BRD, und zwar gemeinsam mit ihrem Ehemann in Regensburg. Sie bewohnten zur Untermiete ein Zimmer mit Küche ohne fließendes Wasser und ohne Toilette. Am 12. Dezember 1965 fuhr die Klägerin zusammen mit ihrem Ehemann mit dem Autobus nach Spanien. Auf der Rückfahrt ereignete sich bei Barcelona ein Unfall, bei dem die Klägerin einen Oberschenkel – und Schenkelhalstrümmerbruch links erlitt.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 22. Januar 1968 Entschädigungsansprüche ab: Da die Versicherte verheiratet sei und in Regensburg eine eigene Wohnung habe, sei dort der Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse.

Die Klägerin hat Klage erhoben.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 11. September 1968 die Beklagte verurteilt, die Klägerin aus Anlaß des Unfalles vom 22. Dezember 1965 zu entschädigen. Die Klägerin habe ihre ständige Familienwohnung in ihrer Heimat und nicht in Regensburg gehabt. Sie habe gemäß § 550 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf der Fahrt von Spanien zurück unter Versicherungsschutz gestanden. Diese Vorschrift gelte auch für Unfälle jenseits der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland.

Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 9. Oktober 1969 zurückgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Die Wohnung der Klägerin in Regensburg sei nur eine Unterkunft, die Wohnung in Antequera dagegen ihre Familienwohnung gewesen. Angesichts der gesicherten Wohnverhältnisse im eigenen Heim in Spanien könne dem Arbeitsverhältnis nur die Bedeutung eines vorübergehenden, befristeten Aufenthaltes der Klägerin in Deutschland beigemessen werden, der lediglich zum erhöhten Gelderwerb in kurzer Zeit bestimmt war. Somit habe der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Klägerin immer noch in Spanien gelegen, während es sich bei der Unterkunft in Regensburg lediglich um den Mittelpunkt der Arbeitsverhältnisse gehandelt habe; diese Wohnung sei zwar arbeitsorientiert, jedoch nicht familienorientiert gewesen. Die Kinder der Klägerin hätten weiterhin in der Familienwohnung in Antequera gelebt. Es komme nicht auf den Mittelpunkt des Arbeitsverhältnisses, sondern auf den der Lebensverhältnisse an, der im vorliegenden Fall in Antequera gegeben gewesen sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Nach ständiger Rechtsprechung sei unter Familienwohnung nur die Wohnung zu verstehen, die den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bilde. Die Klägerin sei im Unfallzeitpunkt schon sieben Monate in Deutschland gewesen und habe nach einem zweiwöchigen Aufenthalt für einen weiteren längeren Zeitraum dorthin zurückkehren wollen. Bei Ehegatten komme es außerdem entscheidend auf den Aufenthalt des Partners an. Der Aufenthalt der Kinder in der spanischen Wohnung ändere nichts an der Sachlage, noch viel weniger die Beschaffenheit der Räume in Spanien. Maßgebend sei vielmehr, ob sich das Lebensinteresse tatsächlich auf diese Räumlichkeiten konzentriere.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt aus: Ihre Familienwohnung sei in Antequera; ihre Unterkunft in Regensburg sei arbeits- und nicht familienorientiert gewesen. Daß sie mit ihrem Ehemann gemeinsam zur Untermiete gewohnt habe, rechtfertige wegen der Eigentumswohnung in Antequera und der dort verbliebenen Kinder nicht, die Unterkunft in Regensburg als Familienwohnung anzusehen. Diese Unterkunft sei keine richtige Wohnung gewesen, da kein fließendes Wasser vorhanden gewesen und die Toilette bei anderen Mietern mitbenutzt worden sei. Es stehe der Annahme einer Familienwohnung nicht entgegen, daß sich die Klägerin wegen der Entfernung zum Arbeitsort nur selten in der Familienwohnung habe aufhalten können. Je weiter ein Beschäftigter von zu Hause entfernt wohne, um so seltener könne er nach Hause fahren. Eine andere Auffassung würde dem Gleichheitssatz widersprechen. Gemäß Art. 6 des Grundgesetzes (GG) stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates. Dieser Verfassungsgrundsatz müsse bei der Auslegung des § 550 RVO ebenfalls berücksichtigt werden.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die zulässige Revision ist begründet.

Die Klägerin hat auf ihrer Fahrt im Dezember 1965 nach und von Antequera nicht gemäß § 550 Satz 2 RVO in der Fassung bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237) am 1. April 1971 (RVO aF = § 550 Satz 3 RVO i.d.F. dieses Gesetzes) unter Versicherungsschutz gestanden. Nach dieser Vorschrift schließt der Umstand, daß der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft hat, die Versicherung auf dem Weg von und nach der Familienwohnung nicht aus. Strittig ist hier nur, ob die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalles noch in Antequera ihre ständige Familienwohnung und in Regensburg nur eine Unterkunft hatte. Dies hat der Senat im Gegensatz zu der Auffassung der Vorinstanzen verneint.

Nach der auch vom Schrifttum geteilten Rechtsprechung des erkennenden Senats ist ständige Familienwohnung im Sinne des § 550 Satz 2 RVO aF eine Wohnung, die für nicht unerhebliche Zeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet (vgl. u. a. BSG 1, 171, 173; 20, 110, 111; 25, 93, 95; Brackmann; Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 486 h II; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 550 Anm. 20). Das SG und das LSG gehen davon aus, daß der Aufenthalt der Klägerin in Regensburg nur dem erhöhten Gelderwerb diente und – wie das LSG ausführt – deshalb „arbeitsorientiert” und nicht „familienorientiert” war. Der Rückkehrwille und die „Orientierung” des sich schon über mehrere Monate erstreckenden und für weitere Zeit geplanten Aufenthalts der Klägerin in Regensburg bilden jedoch kein ausreichendes Kriterium dafür, wo der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Klägerin im Unfallzeitpunkt war. Hätte die Klägerin trotz festen Rückkehrwillens ihre Wohnung in Antequera aufgegeben, so wäre ihr Aufenthalt in Regensburg nicht minder „arbeitsorientiert” gewesen. Andererseits kann z. B. ein Versicherter, der beabsichtigt, an den Ort seiner neuen Tätigkeit umzuziehen, in seinem Heimatort die Familienwohnung beibehalten, solange dort noch der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse ist. Wesentlich ist vielmehr die tatsächliche Gestaltung der Lebensverhältnisse des Versicherten im Einzelfall (BSG 25, 93, 95). Bei einem verheirateten Versicherten wird sich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse im allgemeinen an dem Ort befinden, an dem sich der andere Ehepartner nicht nur vorübergehend aufhält (vgl. u. a. BSG 2, 78, 80; BSG Breith. 1966, 383; Brackmann aaO, Lauterbach aaO § 550 Anm. 23 Buchst. a). Deshalb bildet die gemeinsame Wohnung der Eheleute regelmäßig die neue Familienwohnung, wenn sich in ihr das Leben der Eheleute annähernd so gestaltet, wie es zuvor in der ehelichen Wohnung sich abgespielt hat. In seiner Entscheidung von 2. Oktober 1965 (Breith. aaO) hat der Senat als maßgebend angesehen, welche Absicht mit dem Aufenthalt der Ehefrau außerhalb der gemeinsamen Wohnung der Eheleute verbunden ist. Hält sich die Ehefrau dort nur besuchsweise auf, bleibt die eheliche Wohnung nach wie vor der durch enge persönliche Beziehungen gekennzeichnete Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Eheleute. Dies ist jedoch auch hier nicht der Fall. Die Klägerin war nicht besuchsweise in Regensburg, sondern arbeitete dort gemeinsam mit dem Ehemann seit einigen Monaten und für weitere zunächst unbestimmte, jedenfalls nicht nur kurz befristete Zeit. In dem der Entscheidung des Senats vom 27. Oktober 1965 (aaO) zugrunde liegenden Sachverhalt befanden sich zwar die Ehefrau und die gemeinsamen Kinder bei dem Versicherten. Das Verbleiben der Kinder der Klägerin in Antequera rechtfertigt es jedoch nicht, dort weiterhin den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Klägerin anzunehmen. Die Klägerin meint zu Unrecht, die Familienwohnung einer verheirateten Versicherten befinde sich dort, wo alle Familienmitglieder vereint gewesen seien und nach Abschluß der beruflichen Abwesenheit vereint sein sollten; es sei mit dem Wortlaut des § 550 Satz 2 RVO aF nicht vereinbar, die „Familienwohnung” dort anzunehmen, wo sich die Kinder nicht aufgehalten hätten und nicht aufhalten würden. Für den Versicherungsschutz nach § 550 Satz 2 RVO aF und insbesondere für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Familienwohnung ist nicht die frühere oder spätere, sondern die tatsächliche Gestaltung der Lebensverhältnisse des Versicherten im Unfallzeitpunkt maßgebend. Die Auffassung der Klägerin müßte außerdem dazu führen, daß sich die Familienwohnung im Sinne dieser Vorschrift nicht nach der tatsächlichen Gestaltung der Lebensverhältnisse des Versicherten, sondern nach dem bisherigen und zukünftigen Aufenthaltsort richten würde, sobald die Kinder dort geblieben sind. Art. 6 GG zwingt ebenfalls nicht dazu, die Familienwohnung im Sinne des § 550 Satz 2 RVO aF stets am Aufenthaltsort der Kinder und nicht nach der tatsächlichen Gestaltung am Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Eltern anzunehmen. In der gemeinsamen Wohnung der Eheleute in Regensburg vollzog sich jedoch nicht nur das Eheleben beider Ehegatten, sondern auch der den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse mitbestimmende soziale Kontakt der Eheleute zu anderen Personen (s. BGHZ 7, 104, 107). An dem Ort der gemeinsamen Tätigkeit beider Eheleute waren ebenfalls die persönlichen Entscheidungen hinsichtlich der am früheren Wohnort verbliebenen Kinder zu treffen, soweit sie über die tägliche Betreuung durch Dritte – hier die Großmutter – hinausgingen und durch die längere Abwesenheit der Eltern auch nicht weiter aufgeschoben werden konnten. Der Auffassung des Senats steht auch nicht entgegen, daß nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG die Wohnverhältnisse der Klägerin in Regensburg schlechter als die in ihrer Eigentumswohnung in Antequera gewesen sind. Der Gesetzgeber ist nach der sprachlichen Unterscheidung in § 550 Satz 2 RVO aF allerdings von der Lebenserfahrung ausgegangen, daß im Mittelpunkt der Lebensverhältnisse im Regelfall auch die besseren Wohnverhältnisse gegeben sein werden. Deshalb haben Rechtsprechung und Schrifttum Art. und Ausstattung der Wohnräume am Beschäftigungsort als ein Indiz für oder gegebenenfalls gegen den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse an diesem Ort gewertet (vgl. BSG 17, 270, 273; 20, 110, 112; BSG SozR Nr. 17 und 24 zu § 543 RVO aF; Brackmann aaO S. 486 k und l mit weiteren Nachweisen). Auch die Klägerin übersieht jedoch nicht, daß die Wohnverhältnisse nur als Anhaltspunkt dafür in Betracht kommen, wo der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten ist. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 15. Dezember 1959 (SozR Nr. 17 zu § 543 RVO aF) darauf hingewiesen, daß ein nur dürftig ausgestattetes Zimmer auf Umständen beruhen kann, unter denen alleinstehende Arbeitnehmer häufig ihr außerberufliches Leben einrichten müßten, die aber für die versicherungsrechtliche Beurteilung unerheblich seien (z. B. die Knappheit an möblierten Zimmern in der betreffenden Stadt, Sparsamkeit im Wohnungsaufwand zwecks Ermöglichung von Anschaffungen usw.). Dies gilt auch für verheiratete Versicherte, die gemeinsam mit dem Ehegatten an den Ort der Tätigkeit oder in dessen Nähe wohnen. Hierzu zählt – regelmäßig verbunden mit Sparsamkeitserwägungen – auch der Verzicht auf eine dem Mittelpunkt der Lebensverhältnisse an sich entsprechende Wohnung, weil dieser später wieder in die noch bestehende gemeinsame eheliche Wohnung zurückverlegt werden soll.

Der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Klägerin hat nach der maßgebenden tatsächlichen Gestaltung somit in Regensburg gelegen, wo sie gemeinsam mit ihrem Ehemann arbeitete und wohnte. Die Klägerin ist deshalb am 22. Dezember 1965 nicht auf einer Fahrt von der ständigen Familienwohnung zurück zur Unterkunft i. S. des § 550 Satz 2 RVO aF verunglückt. Die Beklagte hat demnach eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen des Unfalles zu Recht abgelehnt. Die Urteile des Sozialgerichts Regensburg und des Bayerischen Landessozialgerichts waren aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 32

NJW 1973, 391

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