Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirkung der Entscheidungen von Revisionsgerichten

 

Leitsatz (amtlich)

Von einer Zeit, die als Beschäftigungszeit (FRG § 16) nachgewiesen, als Beitragszeit aber nur glaubhaft gemacht ist, sind für jedes Jahr die ersten fünf Sechstel als Beitragszeit iS von FRG § 15 und das letzte Sechstel als Beschäftigungszeit iS von FRG § 16 anzurechnen (Festhaltung an BSG 1976-02-05 11 RA 48/75 = BSGE 41, 163).

 

Orientierungssatz

Die Revisionsgerichte wenden in nahezu jeder ihrer Entscheidungen Rechtsgrundsätze an, die sich nicht nur auf den zu entscheidenden Fall beziehen; sie beanspruchen von vornherein Gültigkeit in allen gleichgelagerten Fällen.

 

Normenkette

FRG § 15 Fassung: 1960-02-25, § 16 Fassung: 1960-02-25, § 19 Abs 2 S 1 Halbs 1 Fassung: 1965-06-09

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 11.04.1979; Aktenzeichen L 13 An 187/78)

SG Nürnberg (Entscheidung vom 17.10.1978; Aktenzeichen S 6 An 277/77)

 

Tatbestand

Die 1920 geborene rumäniendeutsche Klägerin ist 1973 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt; sie ist als Vertriebene anerkannt. Im Verfahren zur Herstellung der Versicherungsunterlagen nach § 11 Abs 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) iVm dem Fremdrentengesetz (FRG) vermerkte die Beklagte auch die vom 1. März 1945 bis 31. Dezember 1948 im rumänischen Arbeitsbuch der Klägerin bescheinigten Zeiten als Beitragszeit (§ 15 FRG), kürzte sie jedoch gemäß § 19 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 FRG pro Jahr um ein Sechstel, weil die Beitragszeit nur glaubhaft gemacht, nicht aber nachgewiesen sei (Bescheid vom 12. Dezember 1974, Widerspruchsbescheid vom 8. September 1977).

Das Sozialgericht (SG) hat die (ua) gegen die Kürzung gerichtete Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) hat ihr stattgegeben (Urteile vom 17. Oktober 1978 und 11. April 1979). Das LSG hat dahinstehen lassen, ob die Zeiten durch die Eintragung in das Arbeitsbuch als Beitragszeit nachgewiesen sind; es hält die volle Anrechnung jedenfalls aufgrund der in BSGE 41, 163 entwickelten Grundsätze für geboten. Danach sei bei nur glaubhaft gemachter Beitragszeit das letzte Sechstel, wenn eine Beschäftigungszeit nachgewiesen sei, als Beschäftigungszeit im Sinne von § 16 FRG zu behandeln. Durch die Eintragung in das rumänische Arbeitsbuch seien hier Beschäftigungszeiten nachgewiesen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte,

das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit sie

verurteilt worden ist, die Zeit vom 1. März 1945

bis 31. Dezember 1948 ungekürzt anzurechnen, und

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG

auch insoweit zurückzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung materiellen und formellen Rechts.

Das herangezogene Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) werde von dem überwiegenden Teil der Rentenversicherungsträger als Einzelfallentscheidung betrachtet und deshalb in der Praxis nicht berücksichtigt; es sei in der Fachliteratur von Weser (DAngVers 1976, S 370) kritisiert worden; dieser Kritik stimme sie zu. Eine Auffüllung von Beitragslücken bei auf fünf Sechstel gekürzten Beitragszeiten mit nachgewiesenen Beschäftigungszeiten sei wegen des methodischen Aufbaus der §§ 15 und 16 FRG, ihrer tatbestandsmäßigen Abgrenzung zueinander und vor allem wegen des Charakters der durch die Fünf-Sechstel-Kürzung entstandenen Lücke abzulehnen: Eine durch Kürzung entstandene Beitragslücke im Sinne von § 15 sei nämlich stets auch eine Beschäftigungslücke im Sinne von § 16 FRG.

Selbst wenn man der BSG-Entscheidung folge, sei das Urteil des SG gleichwohl anfechtbar. Denn die bloße Feststellung des LSG, die Zeit vom 1. März 1945 bis 31. Dezember 1948 sei als Beschäftigungszeit nachgewiesen, genüge nicht der Begründungspflicht nach § 128 Abs 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), sie überschreite auch die durch Satz 1 der Überzeugungsbildung gezogenen Grenzen. Nachgewiesen sei eine ununterbrochene Beschäftigung erst dann, wenn nicht nur - wie hier durch das Arbeitsbuch - ihr Anfang und Ende, sondern auch das Nichtvorhandensein von Fehlzeiten nachgewiesen sei. Deshalb habe das LSG überdies § 103 SGG verletzt.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist mit der Maßgabe begründet, daß das Berufungsurteil in dem angefochtenen Teil aufzuheben ist. Der Rechtsstreit ist insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Rechtsgrundlage für das hier streitige Herstellungsverlangen ist § 11 Abs 2 VuVO; danach sind auf Antrag außerhalb des Leistungsverfahrens nach Maßgabe des FRG Versicherungsunterlagen für nach dem FRG anrechenbare Zeiten herzustellen. Demgemäß muß die Beklagte diese Zeiten in Versicherungsunterlagen eintragen (vormerken) und nicht bloß "anerkennen", wie es im Tenor des Berufungsurteils mißverständlich heißt.

Das LSG hat die Beklagte nicht verurteilt, die Zeit vom 1. März 1945 bis 31. Dezember 1948 ungekürzt als Beitragszeit nach § 15 FRG einzutragen. Dagegen hat die Klägerin kein Rechtsmittel eingelegt. Die Revision der Beklagten wendet sich nur gegen die Verurteilung, das jährlich letzte Sechstel jeweils als - durch die Eintragung in das rumänische Arbeitsbuch - nachgewiesene Beschäftigungszeit im Sinne von § 16 FRG zu behandeln. Damit stellt sich für den Senat zunächst die Frage, ob rechtliche Gründe es ausschließen, bei einer auf fünf Sechstel gekürzten Beitragszeit das an der vollen Beitragszeit fehlende letzte Sechstel als Beschäftigungszeit anzurechnen. Diese Frage ist zu verneinen.

Bereits in dem Urteil vom 5. Februar 1976 (BSGE 41, 163 = SozR 5050 § 15 Nr 4) hat der Senat entschieden, daß eine sich bei glaubhaft gemachten und deshalb nach § 19 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 FRG auf fünf Sechstel gekürzten Beitragszeiten ergebende Lücke mit nachgewiesenen Beschäftigungszeiten "auffüllbar" ist; an dieser Auffassung hält er fest.

Zur Aufgabe seiner Rechtsansicht kann den Senat keinesfalls die Bemerkung veranlassen, die Entscheidung vom 5. Februar 1976 werde "von dem überwiegenden Teil der Rentenversicherungsträger als Einzelfallentscheidung betrachtet und deshalb in der täglichen Praxis nicht berücksichtigt" (so Schnupfhagn, Der Kompaß 1977, S 321). Hierbei wird übersehen, daß jede Revisionsentscheidung eine Einzelfallentscheidung ist. Dessenungeachtet wenden die Revisionsgerichte aber in nahezu jeder ihrer Entscheidungen Rechtsgrundsätze an, die sich nicht nur auf den zu entscheidenden Fall beziehen; sie beanspruchen von vornherein Gültigkeit in allen gleichgelagerten Fällen.

In den zum Urteil vom 5. Februar 1976 geäußerten Literaturstimmen (Weser und Schnupfhagn aaO) besteht Übereinstimmung mit dem erkennenden Senat insoweit, als für das einzelne Jahr nicht nachgewiesener Beitragszeit ein Sechstel als auffüllbare Zeit zur Verfügung steht; denn für jedes Jahr nur glaubhaft gemachter (vgl § 4 FRG) Beitragszeit werden grundsätzlich nur fünf Sechstel angerechnet (§ 19 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 FRG). Das heißt nicht, daß dem letzten Sechstel der Charakter einer lediglich nicht anrechenbaren Beitragszeit verbliebe; es ist vielmehr in keiner Beziehung mehr eine Beitragszeit und somit für eine Auffüllung frei. Die Kürzung auf fünf Sechstel beruht nämlich, wie der Senat bereits aaO ausgeführt hat, auf der Erfahrung, daß die durchschnittliche Beitragsdichte im Bundesgebiet diesem Umfang entspricht; dementsprechend wird die glaubhaft gemachte Beitragszeit auf diesen Durchschnitt reduziert. Daraus folgt, daß das bei einer Fünf-Sechstel-Kürzung übrigbleibende Sechstel nach allgemeiner Meinung zB mit einer Ersatzzeit oder Ausfallzeit sowie auch mit der pauschalen Ausfallzeit nach Art 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) aufgefüllt werden kann (vgl noch Merkle/Michel, FANG, 3. Aufl, Anm 3e zu § 19 FRG; Ludwig, SozVers 1960, S 322). Der Senat sieht weiterhin keinen Grund, warum für eine Auffüllung nicht auch nachgewiesene Beschäftigungszeiten im Sinne von § 16 FRG in Betracht kommen sollten.

Das Verhältnis des § 16 FRG zu § 15 dieses Gesetzes steht dem jedenfalls nicht entgegen. § 16 FRG ist zwar in erster Linie geschaffen worden, um die Nachteile auszuräumen, die sich durch das Fehlen einer Rentenversicherung im Herkunftsland ergeben (so zuletzt der Große Senat des BSG im Beschluß vom 6. Dezember 1979 - GS 1/79). Das Fehlen einer Rentenversicherung ist aber kein Tatbestandsmerkmal des § 16 FRG geworden; dessen Satz 1 letzter Halbsatz schließt die Anwendung des § 16 FRG nicht schon bei möglichen Beitragszeiten, vielmehr erst dann aus, wenn die Beschäftigungszeit mit einer festgestellten Beitragszeit zusammenfällt. Nach seinem Wortlaut, Sinn und Zweck erfaßt § 16 FRG darum nicht nur Beschäftigungen, die wegen fehlender Rentenversicherung im Herkunftsland beitragsfrei bleiben mußten, sondern auch Beschäftigungen, bei denen - aus welchen Gründen auch immer - eine mögliche Beitragszahlung unterblieben ist (SozR Nr 11 zu § 16 FRG) und schließlich ebenso die Fälle, in denen eine Beitragszahlung nicht feststellbar ist (vgl BT-Drucks III/1109 S 40); dies räumt auch die Beklagte ein. Demzufolge stehen die §§ 15 und 16 FRG aber zueinander nicht im Verhältnis einer sich unbedingt ausschließenden "Gesetzeskonkurrenz" (verneint schon in SozR Nr 4 zu § 16 FRG); § 16 FRG kann vielmehr auch dann anwendbar sein, wenn in Wahrheit eine Beitragszeit vorhanden, diese jedoch nicht feststellbar ist. Wie auch Schnupfhagn aaO meint, kann somit von der Tatbestandsabgrenzung der §§ 15, 16 FRG her das Auffüllen von Beitragslücken mit einer Beschäftigungszeit im Sinne von § 16 FRG nicht verwehrt sein.

Nicht richtig ist es ferner, daß dennoch stets zunächst das Vorhandensein von Beitragszeiten geklärt werden müßte. Dies ist nur dann geboten, wenn davon im konkreten Fall des Versicherten unterschiedliche Rechtsfolgen abhängen (vgl §§ 18 Abs 2 und 3 FRG, 98 Abs 2 und 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes). Kommen solche, wie hier, nicht in Betracht, dann kann, wenn sich Schwierigkeiten bei der Feststellung von Beitragszeiten ergeben, die vorzunehmende Klärung auf die Feststellung von Beschäftigungszeiten beschränkt werden.

Entgegen Weser aaO muß eine Beitragslücke auch nicht immer zwangsläufig eine Beschäftigungslücke sein; das Gesetz bietet dafür keinen Anhalt. Anderenfalls bliebe zB offen, auf welcher rechtlichen Grundlage in Fällen unterlassener Beitragsentrichtung die nachgewiesenen Beschäftigungszeiten voll zur Anrechnung kommen können (s auch Schnupfhagn aaO). Bei der Annahme einer zwangsläufigen Verbindung (und eines gegenseitigen Ausschlusses) wird zudem zu wenig beachtet, daß im Falle des Nachweises sowohl die Beitragszeit als auch die Beschäftigungszeit von einer Kürzung ausgenommen ist. Sonach würden aber diejenigen, die eine Beschäftigungszeit nachweisen und eine Beitragszeit immerhin noch glaubhaft machen können, gegenüber denjenigen schlechtergestellt, denen zwar der Nachweis einer Beschäftigungszeit, nicht aber die Glaubhaftmachung einer Beitragszeit gelingt. Eine solche Differenzierung ist nicht einsichtig.

Ebensowenig bieten Gesetz und Rechtsprechung einen begründeten Anhalt für die Zulässigkeit einer "typisierten und generalisierten Beweiswürdigung", die nach der Auffassung der Beklagten wiederum zu dem Ergebnis führen soll, daß eine aufgrund einer Fünf-Sechstel-Kürzung entstandene Beitragslücke stets auch eine Beschäftigungslücke sei. Fälle, in denen eine Beitragszeit nur glaubhaft gemacht, eine Beschäftigungszeit dagegen erwiesen ist, werden zwar selten sein; sie lassen sich aber nicht von vornherein ausschließen. Maßgebend kann immer nur die Beweiswürdigung im Einzelfall sein.

Ist dem LSG nach alledem in dem zugrunde gelegten Rechtsstandpunkt zu folgen, so vermag der Senat gleichwohl nicht abschließend zu befinden. Zutreffend hat die Beklagte gerügt, daß ein Verstoß gegen § 128 Abs 1 Satz 2 SGG gegeben ist, weil das LSG nicht die Gründe angegeben habe, die für seine Überzeugung leitend gewesen seien. Dieser Vorwurf trifft zu, soweit das Berufungsgericht - ohne weiteren Zusatz - festgestellt hat, die Zeit vom 1. März 1945 bis 31. Dezember 1948 sei als Beschäftigungszeit nach § 16 FRG "durch die Eintragung in das rumänische Arbeitsbuch nachgewiesen". Da das erstinstanzliche Gericht in den Entscheidungsgründen seines Urteils die Beweiskraft des Arbeitsbuches abweichend gewürdigt und die Beklagte außerdem in der Berufungserwiderung sich eingehend zu dem Beweiswert der rumänischen Arbeitsbücher geäußert hat, hätte das LSG seine allein auf das Arbeitsbuch gestützte Überzeugung vom Nachweis der Beschäftigungszeit hier näher begründen müssen. Dabei hätte es auch auf den Inhalt der Eintragungen eingehen sollen. Denn das Arbeitsbuch Nr 52 343, von dem sich in den Akten nur eine auszugsweise einfache Abschrift in deutscher Übersetzung befindet, ist offenbar erst am 19. Juni 1960 ausgestellt worden; seine Eintragungen beziehen sich bis zum 15. Juli 1948 und ab 23. September 1948 auf ein anderes Arbeitsbuch mit der Nr 74 611 sowie für die erste Zeit zusätzlich auf ein beziffertes Dienstzeugnis und für die dazwischen liegende Zeit auf eine "Bescheinigung Nr 711/24.2.949 (oder auch 1949).

Da hiernach schon die Rüge einer Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 2 SGG durchgreift, braucht sich der Senat mit den weiteren Verfahrensrügen der Beklagten nicht mehr zu befassen.

Unter diesen Umständen ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, damit verfahrensrechtlich einwandfreie Feststellungen über die hier streitigen Zeiten getroffen werden.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Sachurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656389

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge