Leitsatz (amtlich)

Zeiten einer nachgewiesenen Beschäftigung (FRG § 16), für die eine Beitragsleistung nur glaubhaft gemacht ist, sind in der Weise als Versicherungszeiten anzurechnen, daß für jedes Jahr jeweils die ersten fünf Sechstel als Beitragszeit iS von FRG § 15 und das letzte Sechstel als Beschäftigungszeit iS von FRG § 16 zu behandeln sind.

 

Normenkette

FRG § 4 Fassung: 1960-02-25, § 15 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, § 16 Fassung: 1960-02-25, § 19 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1965-06-09; AnVNG Art. 2 § 14 Fassung: 1965-06-09; ArVNG Art. 2 § 14 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. Oktober 1974 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Unter den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin in Polen zurückgelegte nachgewiesene Beschäftigungszeiten, für die eine Beitragsleistung nur glaubhaft gemacht ist, voll oder zu fünf Sechsteln anzurechnen sind.

Die 1912 geborene Klägerin, eine Vertriebene, war vom 8. Dezember 1928 bis 31. Juli 1938, vom 1. August 1938 bis 31. Juli 1939 und vom 22. August 1939 bis 17. Oktober 1939 hintereinander bei verschiedenen Arbeitgebern in Polen beschäftigt. Nach Mitteilung der Botschaft der Volksrepublik Polen sind Versicherungsunterlagen für diese Zeiten nicht vorhanden. Bei der Berechnung des Altersruhegeldes rechnete die Beklagte der Klägerin die streitige Zeit zu fünf Sechsteln an, wobei sie eine Beitragsleistung als glaubhaft gemacht ansah.

Mit ihrer auf ungekürzte Anrechnung gerichteten Klage machte die Klägerin geltend, sie sei in den streitigen Zeiten ununterbrochen pflichtversichert und nie ernstlich krank gewesen.

Die Klage hatte in den Vorinstanzen Erfolg. Nach Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) ist für eine Kürzung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 des Fremdrentengesetzes (FRG) kein Raum, weil die drei Beschäftigungszeiten nachgewiesen seien. Daß eine Beitragsleistung nur glaubhaft gemacht ist, stehe dem nicht entgegen, da hier § 16 FRG in den Anwendungsbereich des § 15 FRG übergreife.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

die Klage unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, daß § 16 FRG nicht anwendbar sei. Beschäftigungszeiten dürften nur angerechnet werden, wenn sie nicht mit Beitragszeiten zusammenfielen. Ein solches Zusammenfallen liege auch dann vor, wenn für eine Zeit die Beitragsleistung nur glaubhaft gemacht sei. Die Ansicht des LSG laufe auf ein Günstigkeitsprinzip hinaus, das dem Gesetz in dieser Form fremd sei. Auch könne ein Berechtigter nicht auf eine sich für ihn aus § 15 Abs. 1 FRG ergebende Stellung verzichten.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Der Klägerin sind die streitigen Zeiten von Dezember 1928 bis Oktober 1939 ungekürzt in der Weise als Versicherungszeit anzurechnen, daß für jedes Jahr jeweils die ersten fünf Sechstel der Zeiten als Beitragszeit i. S. von § 15 FRG und das letzte Sechstel als Beschäftigungszeit i. S. von § 16 FRG zu behandeln sind.

Nach § 16 Satz 1 FRG steht eine Beschäftigung in den dort genannten fremden Gebieten einer mit Beiträgen belegten rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Bundesgebiet gleich, "soweit sie nicht mit einer Beitragszeit zusammenfällt". Die Beschäftigung fällt insoweit mit einer Beitragszeit zusammen, als sie sich mit einer solchen deckt. Das ist nicht der Fall, soweit eine nachgewiesene Beschäftigung auf einen Zeitraum entfällt, um den eine Beitragszeit nach § 19 Abs. 2 Satz 1 FRG zu kürzen ist. Diese Auslegung ergibt sich aus Sinn und Zweck der Vorschriften der §§ 16, 19 FRG.

Für das einzelne Jahr nicht nachgewiesener, d. h. nur glaubhaft gemachter (vgl. § 4 FRG) Beitrags- oder Beschäftigungszeiten werden grundsätzlich nur fünf Sechstel angerechnet (§ 19 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 FRG). Dem liegt die Erfahrung zugrunde, daß Zeiten einer Beschäftigung im allgemeinen nur zu fünf Sechstel mit Beiträgen belegt sind (vgl. BSG 22, 255 (258); 38, 80 (83)). § 19 Abs. 2 FRG will also nicht lediglich die Anrechenbarkeit von Zeiten trotz ihrer Anerkennung als Versicherungszeit beschränken, sondern die Berücksichtigung als Versicherungszeit auf die Zeit begrenzen, von der angenommen werden kann, daß sie bei einem Aufenthalt im Bundesgebiet der Dauer nach als Beitragszeit zurückgelegt worden wäre; er konkretisiert damit die in den §§ 15, 16, 17 FRG getroffenen Regelungen für den Fall bloßer Glaubhaftmachung. Daß der Gesetzgeber von der Vorstellung einer vor allem durch Krankheit und Arbeitslosigkeit bedingten lückenhaften Beschäftigung und Beitragsleistung ausgegangen ist, bestätigt mittelbar auch der 2. Halbsatz von § 19 Abs. 2 Satz 1 FRG, der durch das RVÄndG vom 9. Juni 1965 eingefügt worden ist. Denn wenn hier für die Zeit eines "ununterbrochenen" Beschäftigungsverhältnisses von mindestens zehnjähriger Dauer bei demselben Arbeitgeber eine volle Anrechnung vorgeschrieben wird, so kann eine solche Regelung sinnvoll nur dahin gedeutet werden, daß nach der Vorstellung des Gesetzgebers ein mindestens zehn Jahre währendes zusammenhängendes Beschäftigungsverhältnis von sonst zu vermutenden Ausfalltatbeständen frei zu sein pflegt.

Die Anwendung von § 19 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 FRG führt somit dazu, daß von jedem Jahr einer glaubhaft gemachten Beitragszeit nur zehn Monate als mit Beiträgen belegt anzusehen sind, während die restlichen beiden Monate Beitragslücken bilden, die grundsätzlich einer Auffüllung etwa durch die pauschale Ausfallzeit des Art. 2 § 14 AnVNG (insoweit als "verbleibende" Zeit i. S. des Satzes 5), aber auch durch sonstige nach den §§ 27, 28, 35 AVG anrechnungsfähige Zeiten zugänglich sind (vgl. Merkle/Michel, FANG, 3. Aufl., Anm. 3 e zu § 19 FRG; Ludwig, SozVers 60, 222).

Es ist kein Grund ersichtlich, warum nachgewiesene Beschäftigungszeiten i. S. von § 16 FRG für eine solche Auffüllung nicht in Betracht kommen sollten. Die Ansicht der Beklagten, § 19 Abs. 2 FRG lasse als bloße Berechnungsvorschrift das letzte Sechstel seinem Charakter nach als Beitragszeit bestehen, müßte dazu führen, daß die Kürzung um ein Sechstel nicht einmal durch Anwendung von Art. 2 § 14 AnVNG ausgeglichen oder gemildert werden könnte; dadurch wären die Betroffenen gegenüber anderen Versicherten in einer Weise benachteiligt, für die es an einer einleuchtenden Begründung fehlt. Es entspricht dem das FRG tragenden Eingliederungsprinzip, die Vertriebenen nicht günstiger, aber auch nicht ungünstiger zu behandeln als die Einheimischen. Unter diesem Gesichtspunkt mag es angebracht sein, bei bloßer Glaubhaftmachung keine größere Beitragsdichte zu unterstellen, als sie bei Einheimischen gegeben zu sein pflegt; es wäre aber eine nicht verständliche Schlechterstellung, wollte man den Vertriebenen auch die Schließung der so angenommenen Beitragslücken verwehren. Hinzu kommt, daß andernfalls sich das Unterbleiben einer nach den Vorschriften des Herkunftslandes geschuldeten Beitragsleistung günstiger als die Glaubhaftmachung der Beitragsleistung auswirken würde; eine solche Besserstellung wäre nicht nur vom Ergebnis im Einzelfall her gesehen kaum verständlich, sondern sie könnte auch Rentenbewerbern Anlaß zu wahrheitswidrigen Angaben und zu einer Behinderung der Sachaufklärung geben.

Das LSG hat die Beschäftigungen nicht nur mit ihrem jeweiligen Beginn und Ende (vgl. hierzu BSG 38, 80 (83)), sondern, wie aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe zu entnehmen ist, für die ganze jeweilige Zeit für erwiesen erachtet. An diese Feststellung ist das BSG in Ermangelung einer Verfahrensrüge der Beklagten gebunden (§ 163 SGG). Dementsprechend sind die streitigen Zeiten für jedes Jahr in den ersten fünf Sechsteln nach § 15 FRG, im letzten Sechstel nach § 16 FRG anzurechnen (zur Zeitverteilung vgl. SozR Nr. 43 zu § 1259 RVO).

Nach alledem erweist sich das angefochtene Urteil als im Ergebnis zutreffend; die Revision war daher mit der Kostenentscheidung aus § 193 SGG zurückzuweisen (§ 170 SGG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1646859

BSGE, 163

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