Beteiligte

Klägerin und Revisionsklägerin

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin beantragte bei der Beklagten die Übernahme der Kosten von 1.650,-- DM für eine selbstbeschaffte Ersatzkraft im Haushalt, die sie während einer ihr von der Beklagten aufgrund von § 84 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) gewährten Kur vom 11, März bis zum 22. April 1975 benötigt hatte. Zu dieser Zeit gehörten zum Haushalt noch ihr - berufstätiger - Ehemann und ihre zwei Söhne (Rolf, geboren 1964 und Dirk, geboren am 4.12.1966). Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 30. April 1975, Widerspruchsbescheid vom 19. August 1975), weil in dem Haushalt kein Kind lebe, das das 8. Lebensjahr noch nicht vollendet habe oder das behindert und auf Hilfe angewiesen sei (§ 14b Abs. 1 Nr. 5 AVG).

Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung von Äußerungen eines praktischen Arztes, eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie und der zuständigen Erziehungsberatungsstelle die Beklagte verurteilt, 1.332,-- DM zu erstatten (Urteil vom 16. September 1976). Auf die - zugelassene - Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 9. November 1977 die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Sohn Dirk sei entgegen der Meinung des SG nicht behindert und auf Hilfe angewiesen gewesen. Hierfür verlange das Gesetz eine erhebliche Beeinträchtigung der körperlichen oder geistig-seelischen Gesundheit, die eine besondere, das altersübliche Maß erheblich übersteigende Hilfsbedürftigkeit bedinge. Bei Dirk habe außer einem durch Behandlung ausgeglichenen Augenleiden keine Krankheit vorgelegen. Zu verzeichnen seien lediglich Auffälligkeiten wie unterdurchschnittliche Begabung, Unkonzentriertheit, Nervosität und psychische Labilität; sie hätten zu Schwierigkeiten in Haus und Schule geführt und ließen einen gewissen Rückstand in der geistigen Entwicklung erkennen. Diese Störungen seien keine "Behinderung" im Sinne des Gesetzes.

Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Klägerin (sinngemäß),das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Schleswig zurückzuweisen.

Sie rügt eine unrichtige Auslegung der Begriffe "behindert" und "auf Hilfe angewiesen" in § 14b Abs. 1 Nr. 5 AVG. Eine lediglich formale Betrachtung widerspreche der gebotenen verfassungskonformen Auslegung; danach sei Dirk behindert und hilfsbedürftig gewesen. Gemäß den §§ 2 ff. der Eingliederungshilfe-VO zu § 39 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) liege eine Behinderung vor, wenn die Abweichung von der Norm über das normale Maß hinausgehe. Dies sei bei Dirk der Fall gewesen; er sei wie ein normal entwickeltes Kind unter acht Jahren zu beurteilen.

Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

Offenbar aufgrund von Teil 2.3 Abs. 3 des Gemeinsamen Rundschreibens der Spitzenverbände der Rehabilitationsträger über Haushaltshilfe vom 2. Dezember 1974 gewährt die Beklagte auch bei zusätzlichen Maßnahmen nach § 84 AVG im Rahmen ihres Ermessens Haushaltshilfe wie bei Regelleistungen der Rehabilitation nach § 14b Abs. 1 Nr. 5 AVG. Die Stellung einer Ersatzkraft oder der Ersatz von Kosten für eine selbstbeschaffte Ersatzkraft setzen hiernach - u.a. - voraus, daß im Haushalt des Betreuten ein Kind lebt, das das achte Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder das behindert und auf Hilfe angewiesen ist. Diesen Tatbestand hat die Beklagte zu Recht verneint; sie hat darum bei der Ablehnung der Kostenerstattung ihr Ermessen nicht verletzt.

Da der Sohn Dirk schon vor der Kur das achte Lebensjahr vollendet hatte, kommt es nur darauf an, ob er behindert und auf Hilfe angewiesen gewesen ist. Nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen Feststellungen des LSG war das nicht der Fall.

Was unter einer Behinderung zu verstehen ist, erläutert das AVG nicht; auch die Materialien zu § 14b Abs. 1 Nr. 5 AVG geben darüber keinen Aufschluß (vgl. den Ausschußbericht zu BT-Drucks. 7/2245, BT-Drucks. 7/2256 S. 10 i.V.m. BT-Drucks. 7/377 S. 5 zu 3 185b der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Ein Blick auf sonstige gesetzliche Regelungen, die Rechtsfolgen an das Vorliegen einer Behinderung knüpfen (§§ 205 Abs. 2 Satz 4 RVO, 2 Abs. 2 Nr. 3 des Bundeskindergeldgesetzes, 39 BSHG, 1 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes, 56 ff. i.V.m. § 2 Nr. 4 des Arbeitsförderungsgesetzes, 10 Sozialgesetzbuch I, 1 des Schwerbehindertengesetzes, 1 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter) zeigt jedoch, daß an Behinderungen im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich gedacht ist; dies muß mangels entgegenstehender Anhaltspunkte auch für § 14b Abs. 1 Nr. 5 AVG gelten, ohne daß hier - entgegen der Definition des LSG - eine erhebliche oder "wesentliche" Behinderung (wie in § 39 BSHG, 1 bis 3 der Eingliederungshilfe-VO i.d.F. vom 1. Februar 1975) zu verlangen wäre. Behinderung ist in diesen Zusammenhängen die Abweichung von der normalen körperlichen, geistigen oder seelischen Verfassung (vgl. SozR 4100 § 56 Nr. 1); sie muß sich als medizinisch feststellbare Abweichung von diesem Regelzustand darstellen (vgl. BSGE 13, 134, 136; 26, 240, 242; Hauck/Haines, Komm. zum SGB I, K § 10 Anm. 3; Lauf, Der Kompaß 1978, S. 254, 255 - zu § 205 RVO) und hat insofern die gleiche medizinische Ausgangslage wie der Begriff der Krankheit. Die vom LSG festgestellten Auffälligkeiten bei dem Sohn Dirk (unterdurchschnittliche Begabung, Unkonzentriertheit, Nervosität, Labilität) und der insgesamt erkannte "gewisse Rückstand in der geistigen Entwicklung" können somit begrifflich noch keine Behinderung i.S.d. § 14b Abs. 1 Nr. 5 AVG darstellen, sie sind noch keine medizinisch bedeutsamen Abweichungen vom Regelzustand gewesen. Dementsprechend haben die vom SG befragten Ärzte auch Störungen von Krankheitswert auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet verneint; der Entwicklungsrückstand ist auch nicht als ein schwerwiegender gekennzeichnet worden. Den Sohn Dirk wegen des "gewissen Rückstandes" in der Entwicklung wie ein normal entwickeltes Kind unter acht Jahren zu behandeln, ist nach dem Gesetz nicht möglich.

Unter diesen Umständen kommt es nicht mehr darauf an, ob - wozu Feststellungen des LSG fehlen - zusätzlich der Tatbestand der Hilfsbedürftigkeit ("auf Hilfe angewiesen") beim Sohn Dirk während der Kur der Mutter gegeben gewesen wäre.

Hiernach war das angefochtene Urteil zu bestätigen und die Revision zurückzuweisen; für einen Verstoß gegen Verfassungsnormen ergibt sich kein Anhalt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518634

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