Leitsatz (amtlich)

1. Eine allgemeine Grippeschutzimpfung, die im Betrieb durchgeführt wird, steht nicht schon deshalb mit der versicherten Tätigkeit im ursächlichen Zusammenhang, weil sie vom Unternehmen empfohlen und finanziert worden ist.

2. Ein Unfall auf dem Weg zum Impfen oder im Impfraum ist jedoch dann unfallversichert, wenn die Maßnahme wesentlich dem Unternehmen dient und damit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Durchführung der Grippe-Schutzimpfung im Betrieb und der versicherten Tätigkeit besteht; ein solches wesentliches betriebliches Interesse kann beispielsweise darin bestehen, daß durch die Impfung im Betrieb der erheblich größere Ausfall an Arbeitszeit durch das Aufsuchen des Hausarztes vermieden wird.

Wird die Gesundheitsstörung durch die Auswirkung des Impfstoffes verursacht (Impfschaden), so liegt ein Arbeitsunfall nur dann vor, wenn die Impfung selbst mit dem Beschäftigungsverhältnis im ursächlichen Zusammenhang steht; ein solcher Zusammenhang setzt eine mit der Tätigkeit verbundene Gefährdung, die eine Grippe-Schutzimpfung über die allgemeine Gesundheitsvorsorge hinaus erforderlich macht, voraus.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. August 1973 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Klägerin ließ sich während ihrer Beschäftigung in der Fernschreibzentrale beim Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) am 30. Oktober 1968 in Gegenwart des Betriebsarztes im Betrieb gegen Grippe impfen. Die Kosten der Impfung trug das ZDF. Der Betriebsarzt hatte auf diese Impfung durch zwei Aushänge hingewiesen und u. a. ausgeführt, er rechne aufgrund der guten Erfahrungen mit einer regen Teilnahme.

Die Klägerin litt zu diesem Zeitpunkt an einer Trombophlebitis und nahm das Medikament S ein. Nach ihren weiteren Angaben kam es eine Woche nach der Schutzimpfung zu Kreislaufstörungen mit Herzbeschwerden.

Das ZDF teilte der Beklagten mit, daß die Grippeschutzimpfung nicht angeordnet und auch nicht empfohlen worden sei; es habe lediglich die Möglichkeit bestanden, sich freiwillig impfen zu lassen. Die Klägerin sei am Arbeitsplatz keiner besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt gewesen.

Mit Bescheid vom 6. April 1970 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Entschädigung mit der Begründung ab, die Schutzimpfung sei nicht vom Arbeitgeber angeordnet worden und keine Bedingung für die Arbeitsaufnahme oder die Fortführung der Arbeit gewesen. Es habe außerdem keine betriebsbedingte erhöhte Krankheitsgefahr am Arbeitsplatz bestanden.

Die Klägerin hat Klage erhoben und beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihr die Vollrente zu zahlen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte mit Urteil vom 17. November 1972 verurteilt, der Klägerin Verletztenrente von 30 v. H. der Vollrente zu gewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Es hat u. a. ausgeführt: Durch die Impfung habe sich ein Herzschaden der Klägerin verschlimmert. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), daß Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit zum unversicherten Lebensbereich gehörten, sei überholt, weil sie mit den Bemühungen um umfassende werksärztliche Betreuung der Arbeitnehmer nicht zu vereinbaren sei.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 1. August 1973 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen sowie die Berufung der Klägerin auf Zahlung der Vollrente zurückgewiesen. Es hat u. a. ausgeführt: Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG gehörten Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit zum unversicherten Lebensbereich, da sie von der freien eigenen Entschließung des Versicherten abhingen. Das BSG habe ausnahmsweise den Unfallversicherungsschutz bei Vorbeugungs- und Heilmaßnahmen bejaht, wenn sie in einem bestimmten Unternehmen im Hinblick auf eine mit einer besonderen Gefährdung verbundenen Tätigkeit erfolgen und aus der besonderen Gestaltung der Maßnahme eindeutig erkennbar sei, daß ihre Durchführung wesentlich betrieblichen Belangen diene. Ein solcher, eng auszulegender Ausnahmetatbestand liege hier nicht vor. Das BSG habe zwar in seiner Entscheidung vom 28. Oktober 1966 (SozR Nr. 75 zu § 542 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF) die Frage offen gelassen, ob der Versicherungsschutz dann zu gewähren sei, wenn das Unternehmen Medikamente austeile oder Schutzimpfungen gelenkt durchführe, weil es die Auswirkungen einer gehäuft auftretenden Erkrankung auf die Arbeitsleistung im Unternehmen bekämpfen wolle. Indessen vermöge auch eine solche gelenkte Maßnahme den Unfallversicherungsschutz nicht zu begründen, wenn der einzelne Betriebsangehörige keinem - auch nur moralischen - Druck ausgesetzt werde, sich an der Impfaktion zu beteiligen. Ein Versicherungsschutz ergebe sich auch nicht aus § 539 Abs. 1 Nr. 11 RVO.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Sie führt aus: Die Auffassung, Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit seien grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzuordnen, sei mit dem Fortschritt der letzten Jahre in der Entwicklung der zur Erhaltung der Gesundheit angeordneten oder empfohlenen Schutzimpfung nicht mehr zu vereinbaren, und zwar insbesondere dann nicht, wenn der Arbeitgeber die Schutzimpfung auf seine Kosten zur Bekämpfung der Auswirkungen einer gehäuft auftretenden Erkrankung auf die Arbeitsleistung im Unternehmen durchführen lasse. Wie es außerdem in Wirklichkeit um die freie Entschließung der Klägerin bestellt gewesen sei, zeige die Art und Weise der kurz aufeinanderfolgenden "Empfehlungen", welche in der "sanften" Drohung gipfelten, nach vielen früher gemachten guten Erfahrungen rechne der Betriebsarzt mit reger Teilnahme. Bei einer behördlich empfohlenen Impfung sei das Land schadensersatzpflichtig, wenn ein Impfschaden auftrete. Was für das Land bei den empfohlenen Impfungen gelte, müsse um so mehr in einem Unternehmen Platz greifen, welches von seinen Mitarbeitern eine "rege Teilnahme" an der eigens für deren Gesunderhaltung mit großem Aufwand durchgeführten Grippeschutzimpfung erwarte. Bei dem auch von der Beklagten anerkannten besonderen Interesse des ZDF an der Erhaltung der Leistungsfähigkeit seiner Mitarbeiter durch die Grippeschutzimpfung trete die eigene Entschließung des Versicherten in den Hintergrund.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts vom 1. August 1973 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts vom 17. November 1972 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen Herzbeschwerden nach Endocarditis die Vollrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II.

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit gehören, wie das LSG zutreffend entschieden hat, nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und der auch im Schrifttum wohl einhellig vertretenen Auffassung grundsätzlich zum unversicherten persönlichen Lebensbereich. Sie sind nicht schon deshalb der versicherten Tätigkeit zuzurechnen, weil sie zugleich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft und damit auch den Interessen des Unternehmens dienen. Dies gilt selbst dann, wenn dabei betriebliche Sozialeinrichtungen in Anspruch genommen werden (vgl. BSG 4, 219, 223; 9, 222, 225; BSG SozR Nr. 1 zu § 548 RVO und Nr. 75 zu § 542 RVO aF; BSG BG 1967, 115; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 484 m; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 548 Anm. 33, 58 - jeweils mit weiteren zahlreichen Nachweisen).

Auch zwischen der versicherten Tätigkeit und einer Schutzimpfung gegen Grippe besteht demnach nicht deshalb ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang, weil sie zugleich der Erhaltung der Arbeitskraft und damit auch den Interessen des Unternehmens dient (vgl. Schönberger, SozVers 1962, 341, 343). Die Revision weist zwar zutreffend darauf hin, daß die Bedeutung der Schutzimpfungen gegen Grippe in den letzten Jahren von den maßgebenden Stellen der Gesundheitsvorsorge und der Bevölkerung immer stärker erkannt worden ist. Unzutreffend ist jedoch ihre Schlußfolgerung, demnach sei nunmehr ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer derartigen Schutzimpfung und der versicherten Tätigkeit gegeben; denn auch durch die stärkere Beachtung von möglichen Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge ändert sich nichts daran, daß diese wesentlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich und nicht deshalb der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sind, weil die erhöhte Gesundheitsvorsorge zugleich der Erhaltung der Arbeitskraft der Versicherten und damit auch den Interessen des Unternehmens dient.

Der Senat verkennt nicht, daß im Einzelfall gesundheitliche Maßnahmen für die Beschäftigten aus den Besonderheiten einer versicherten Tätigkeit durch betriebliche Interessen wesentlich mitbestimmt sein können (s. Schönberger aaO S. 342). Das ist jedoch nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hier nicht der Fall.

Die Grippeschutzimpfung der Klägerin steht nicht deshalb in einem inneren Zusammenhang mit deren versicherter Tätigkeit, weil das ZDF die Schutzimpfung organisiert und finanziert hat. Der Senat hat in seinem Urteil vom 28. Oktober 1966 (SozR Nr. 75 zu § 542 RVO aF), worauf das LSG hingewiesen hat, ausdrücklich die Frage offen gelassen, ob ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang zwischen der Gesundheitsmaßnahme und der versicherten Tätigkeit besteht, wenn die Medikamente im Rahmen einer gelenkten Maßnahme vom Unternehmen verteilt werden, z. B. weil eine besondere mit der Tätigkeit im Unternehmen verbundene Gefährdung vorbeugende oder bekämpfende Maßnahmen erfordert oder auch nur, weil das Unternehmen die Auswirkungen einer gehäuft auftretenden Erkrankung auf die Arbeitsleistung im Unternehmen bekämpfen will (s. dazu kritisch Lauterbach aaO § 548 Anm. 48).

Die Grippeschutzimpfung, an der auch die Klägerin teilgenommen hat, ist als eine gelenkte Maßnahme des ZDF für seine Beschäftigten anzusehen. Entgegen der Revision sind den beiden Aufrufen des Betriebsarztes und den sonstigen tatsächlichen Feststellungen des LSG sowie dem Vorbringen der Klägerin jedoch keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß die Teilnahme an dieser Schutzimpfung nicht dem freien Entschluß der einzelnen Betriebsangehörigen überlassen geblieben, sondern im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses gefordert worden ist (s. insoweit VGH Baden-Württemberg ESVGH 20, 95). Eine "sanfte Drohung" kann entgegen der Auffassung der Revision auch nicht in dem Hinweis gesehen werden, es werde aufgrund der früheren Erfahrungen mit einer regen Teilnahme gerechnet.

Eine vom Unternehmen durchgeführte Gesundheitsmaßnahme setzt aber für einen Versicherungsschutz aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses ebenfalls voraus, daß die Maßnahme nicht nur zugleich dem Interesse des Unternehmens entspricht, sondern daß sie wesentlich auch dem Unternehmen dient. Dabei ist das wesentliche Interesse des Unternehmens nur an der Durchführung einer der Gesundheit des Beschäftigten dienenden Maßnahme zu unterscheiden von dem darüber hinausgehenden wesentlichen Interesse des Unternehmens an der Gesundheitsmaßnahme selbst. Schon um den erheblich größeren Ausfall an Arbeitszeit durch das Aufsuchen des Hausarztes zu vermeiden, kann es wesentlich betrieblichen Interessen entsprechen, wenn der Betrieb eine dem persönlichen Lebensbereich des Versicherten zuzurechnende Gesundheitsmaßnahme im Betrieb durchführt. In diesem Fall kann ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Durchführung der Maßnahme im Betrieb und der versicherten Tätigkeit bestehen (vgl. BSG SozR Nr. 75 zu § 542 RVO aF). Die Klägerin hat jedoch keinen Unfall auf dem Weg zum Impfen oder im Impfraum erlitten. Die von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsstörungen sollen vielmehr durch die Auswirkungen des Impfstoffes auf eine Erkrankung der Klägerin verursacht worden sein. In diesem Fall setzt eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung voraus, daß die Impfung selbst mit dem Beschäftigungsverhältnis im ursächlichen Zusammenhang steht.

Eine besondere, mit der Tätigkeit der Klägerin beim ZDF verbundene Gefährdung, die eine Grippeschutzimpfung über die allgemeine Gesundheitsvorsorge hinaus erforderlich gemacht hat, ist aber nicht festgestellt. Ihre Arbeit in der Fernschreibzentrale führte sie insbesondere nicht in stärkerem Maße als auf vielen anderen Arbeitsplätzen in anderen Betrieben mit Mitarbeitern oder sonstigen Dritten in Kontakt. Die Ansteckungsgefahr bei einer Grippewelle war bei ihrer Tätigkeit nicht wesentlich stärker als an den meisten anderen Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes und ebenso bei vielen erforderlichen privaten Verrichtungen, z. B. beim Einkaufen. Den tatsächlichen Feststellungen des LSG, dem Vorbringen der Klägerin und den allgemein bekannten Tatsachen über die Arbeiten in einer Fernsehanstalt sind auch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß die übrigen Betriebsangehörigen und deshalb allgemein auch alle Beschäftigten einer besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt wären, so daß aus diesen Gründen eine Impfung der Klägerin gegen Grippe wesentlich mit im Interesse des ZDF liegen könnte.

Die Klägerin hat sich demnach nicht einer vom Unternehmen für seine Angehörigen aus besonderen betrieblichen Gründen durchgeführten und damit auch nicht wesentlich im Interesse des Unternehmens durchgeführten Grippeschutzimpfung unterzogen.

Die Revision meint zu Unrecht, für die gesetzliche Unfallversicherung müsse die in § 51 Abs. 1 Satz 1 des Bundesseuchengesetzes vom 18. Juli 1961 (BGBl I S. 1012, 1300) und § 51 Abs. 1 Nr. 3 dieses Gesetzes idF des Gesetzes vom 25. August 1971 (BGBl I S. 1401) getroffene, auf der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Aufopferungsanspruch bei Impfschäden (s. BGHZ 31, 187) beruhende Regelung entsprechend gelten. Die Entschädigung und nunmehr Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz berücksichtigt das allgemeine Interesse der Bevölkerung an entsprechenden Schutzimpfungen. Dies reicht aber nicht aus, um den für einen Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen inneren Ursachenzusammenhang zwischen der Impfung und der versicherten Tätigkeit zu begründen.

Die Klägerin hat, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, bei der Grippeschutzimpfung auch nicht nach § 539 Abs. 1 Nr. 11 RVO unter Versicherungsschutz gestanden (vgl. zu dieser Vorschrift Brackmann aaO S. 474 g).

Die zulässige Revision der Klägerin ist demnach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646661

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