Leitsatz (amtlich)

Arbeitnehmer, die ein Studium aufnehmen, ihren Beruf aber weiterhin in vollem Umfang ausüben, sind nicht versicherungsfrei nach RVO § 172 Abs 1 Nr 5.

 

Leitsatz (redaktionell)

Unter der "wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf" iS des RVO § 172 Abs 1 Nr 5 kann im allgemeinen nur der wissenschaftliche Ausbildungsweg von Personen verstanden werden, die nicht schon einen Beruf voll ausüben, sondern durch das Studium erst die Voraussetzungen für eine künftige berufliche Tätigkeit schaffen wollen.

 

Normenkette

RVO § 172 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1945-03-17

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Juli 1959 und des Sozialgerichts Braunschweig vom 6. Dezember 1956 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger während seiner Beschäftigung bei der beigeladenen Firma S & ... in B in der Zeit vom 1. Juli 1955 bis zum 31. Dezember 1955 als ordentlicher Studierender der Technischen Hochschule B versicherungsfrei gewesen ist, obgleich er wie die anderen Arbeitnehmer der Firma während der ganzen Dauer der betriebsüblichen Arbeitszeit gearbeitet hat.

Der Kläger war nach Abschluß der kaufmännischen Lehre (30.9.1953) bei verschiedenen Braunschweiger Firmen als Angestellter beschäftigt. Am 1. Juli 1955 wurde er bei der beigeladenen Firma eingestellt und war - unter Fortsetzung seiner Angestelltentätigkeit - seit dem Wintersemester 1954/55 an der Technischen Hochschule B als Student der Volkswirtschaft eingeschrieben. Die Arbeitszeit bei der Firma endete im allgemeinen nachmittags um 16 00 Uhr. Das Beschäftigungsverhältnis wurde durch Kündigung des Klägers am 31. Dezember 1955 gelöst. Eine neue Beschäftigung nahm er erst am 1. März 1956 wieder auf. Im Sommersemester 1956 setzte er sein Studium nicht fort; er hat es inzwischen vollständig aufgegeben.

Durch Bescheid vom 11. November 1955 nahm die beklagte Betriebskrankenkasse (BKK) den Kläger als versicherungspflichtig in der Krankenversicherung, Angestelltenversicherung und Arbeitslosenversicherung in Anspruch. Der Widerspruch des Klägers, der sich als Werkstudent nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als versicherungsfrei ansah, wurde mit Bescheid vom 16. Dezember 1955 zurückgewiesen. Auf die vom Kläger erhobene Klage hob das Sozialgericht Braunschweig den Widerspruchsbescheid auf und stellte fest, daß die Tätigkeit des Klägers bei der Beigeladenen vom Zeitpunkt seiner Immatrikulation an versicherungsfrei ist (Urteil vom 6.12.1956).

Mit der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung machte die beklagte BKK geltend: Der Kläger habe als vollbeschäftigter Arbeitnehmer sein Studium nur nebenher betrieben, während Versicherungsfreiheit nach der Rechtsprechung nur dann in Betracht komme, wenn das Studium im Vordergrund stehe.

Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der beklagten BKK zurück und führte zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen aus Nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO idF der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 - RGBl I 141 - (1. VereinfVO) seien in der Krankenversicherung versicherungsfrei Personen, die zu oder während ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf gegen Entgelt tätig sind. Diese Vorschrift sei während der Beschäftigungszeit des Klägers auch für die Arbeitslosenversicherung (§ 69 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG - aF) und die Angestelltenversicherung (§ 1 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -) maßgebend gewesen. Aus der weiten Fassung des § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO ergebe sich, daß eine entgeltliche Beschäftigung während des Studiums ohne Einschränkung versicherungsfrei sei; insbesondere brauche keine Zweckbeziehung zwischen der Beschäftigung und der wissenschaftlichen Ausbildung zu bestehen. Es sei vielmehr ausreichend, daß die Beschäftigung die Mittel für die Fortsetzung des Studiums sichern solle. Deshalb sei auch eine Vollbeschäftigung, die nicht nur während der Ferien, sondern auch während des Semesters ausgeübt werde, grundsätzlich versicherungsfrei. Allerdings müsse der Studierende den ernsthaften Willen haben, das Studium zum Abschluß zu bringen, also das Berufsziel zu erreichen; das müsse nach außen erkennbar werden.

Während der Beschäftigung bei der beigeladenen Firma sei der Wille des Klägers, das Studium der Volkswirtschaft zeitgerecht zu beenden, erkennbar hervorgetreten. Er sei an der Technischen Hochschule B als ordentlicher Studierender eingeschrieben gewesen und habe ausweislich des Testatheftes eine große Anzahl von Vorlesungen belegt und die Studiengebühren bezahlt. Es könne davon ausgegangen werden, daß der Kläger diese Vorlesungen, die zu einem großen Teil in den späten Nachmittagsstunden stattgefunden hätten, auch besucht habe, zumal er zu diesem Zweck wiederholt nachmittags 1/4 Stunde vor Dienstschluß entlassen worden sei. Im übrigen habe der Kläger auch Ergänzungsvorlesungen in der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie belegt, an der teilweise die gleichen Dozenten wie an der Technischen Hochschule tätig gewesen seien. Unzweideutig sei der Wille, das Studium zu beenden, darin zum Ausdruck gekommen, daß er am 31. Dezember 1955, also im Verlauf des dritten Semesters, die Stellung bei der Beigeladenen aufgegeben habe, ohne eine neue Stellung anzunehmen. Das könne nur so gedeutet werden, daß er sich fortan allein dem Studium habe widmen wollen. Eine neue Beschäftigung habe er erst gegen Beginn der Sommerferien aufgenommen. Die nachträgliche Aufgabe des Studiums sei für die Entscheidung über die Versicherungspflicht in der vorangegangenen Zeit ohne Bedeutung. -

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Juli 1959 und das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 6. Dezember 1956 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Revision rügt, das LSG habe § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO unrichtig angewandt. Versicherungsfreiheit komme nach dieser Vorschrift nur dann in Betracht, wenn das Studium im Vordergrund stehe, dagegen sei ein Arbeitnehmer, der während des Studiums seinen bisherigen Beruf in vollem Umfang ausübe, nicht versicherungsfrei.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Revision ist begründet.

Maßgebend für die rechtliche Beurteilung ist § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO idF der 1. VereinfVO. Nach dieser Vorschrift sind versicherungsfrei in der Krankenversicherung Personen, die zu oder während ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den künftigen Beruf gegen Entgelt tätig sind. Wäre der Kläger, wie das LSG angenommen hat, auf Grund dieser Vorschrift versicherungsfrei in der Krankenversicherung gewesen, so würde sich daraus auch die Versicherungsfreiheit in der Angestelltenversicherung (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AVG idF der 1. VereinfVO) und in der Arbeitslosenversicherung (§ 69 Nr. 2 AVAVG aF) ergeben. Das LSG hat den Kläger jedoch zu Unrecht als versicherungsfrei nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO angesehen.

Diese Vorschrift umfaßt zwei verschiedene Personengruppen, und zwar einmal diejenigen Personen, die zu ihrer wissenschaftlichen Ausbildung beschäftigt werden und ferner solche, die während ihrer wissenschaftlichen Ausbildung gegen Entgelt tätig sind. Zur ersten Gruppe gehören insbesondere die Praktikanten, die in der Regel vor Beginn des Studiums eine mit ihrer wissenschaftlichen Ausbildung zusammenhängende praktische Tätigkeit verrichten müssen, aber auch Personen, die sich nach abgeschlossenem Studium einer praktischen Arbeit zu ihrer weiteren wissenschaftlichen Ausbildung unterziehen. Zur Gruppe derjenigen, die während ihrer wissenschaftlichen Ausbildung gegen Entgelt tätig sind, zählen im wesentlichen die "Werkstudenten", das sind nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) Studierende, die neben ihrem Studium eine entgeltliche Beschäftigung ausüben, um sich durch ihre Arbeit die zur Durchführung des Studiums und zum Bestreiten ihres Lebensunterhalts erforderlichen Mittel zu verdienen (vgl. GE 4188, AN 1931, 391; GE 4807, AN 1934, 343; EuM Bd. 36, 217).

Der Kläger gehörte während seiner Beschäftigung bei der bei geladenen Firma nicht zum Kreise der Personen, die zu ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf tätig sind, weil er als kaufmännischer Angestellter keine Tätigkeit verrichtet hat, die zu seiner wissenschaftlichen Ausbildung als Volkswirt erforderlich war. Er war aber auch kein "Werkstudent", weil er bei der Beigeladenen als vollbeschäftigter Arbeitnehmer im Rahmen seines erlernten Berufs tätig gewesen ist. Zwar hat der Kläger nach den Feststellungen des LSG neben seiner beruflichen Arbeit bei der Beigeladenen das Studium der Volkswirtschaft ernsthaft betrieben mit dem erkennbaren Willen, es auch zu beenden. Trotzdem gehörte er nicht zu dem von § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO erfaßten Personenkreis, weil nach Wortlaut ("für den zukünftigen Beruf"), Sinn und Zweck dieser Ausnahmevorschrift nur solche Personen der Versicherungspflicht nicht unterliegen sollen, die erst durch ihre wissenschaftliche Ausbildung die Grundlage für einen zukünftigen Beruf schaffen wollen, nicht aber Personen, die schon vor Beginn des Studiums einen Beruf ausgeübt haben und ihn während des Studiums in vollem Umfang weiterhin ausüben. Es widerspräche auch dem Schutzgedanken der Sozialversicherung und wäre mit dem Ausnahmecharakter des § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO nicht vereinbar, wenn man Arbeitnehmer, die unter Umständen jahrelang eine der Versicherungspflicht unterliegende Beschäftigung ausgeübt haben, nur deshalb den Versicherungsschutz nehmen wollte, weil sie neben ihrer sie im allgemeinen voll in Anspruch nehmenden beruflichen Tätigkeit ein Studium beginnen, das der Vorbereitung für einen anderen Beruf dient. Unter der "wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf" im Sinne des § 172 Abs. 1 Nr. 5 RVO kann daher im allgemeinen nur der wissenschaftliche Ausbildungsgang von Personen verstanden werden, die nicht schon einen Beruf voll ausüben, sondern durch das Studium erst die Voraussetzungen für eine künftige berufliche Tätigkeit schaffen wollen (im Ergebnis ebenso: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand August 1962 Bd. II S. 322 b, c; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 3. Nachtrag, § 172 S. 17/161; Hess. LSG in DAngVers 1958, 122 und 1959, 247; LSG Berlin in DAngVers 1960, 360; SG Düsseldorf in DAngVers 1956, 61; SG Frankfurt in BKK 1956 Sp. 399; a. M. OVA Karlsruhe in Breithaupt 1952, 22; LSG Hamburg in Breithaupt 1961, 1079).

Da somit die beklagte Kasse den Kläger während seiner Beschäftigung bei der beigeladenen Firma im Hinblick auf seine uneingeschränkte berufliche Tätigkeit trotz des von ihm daneben ausgeübten Studiums zu Recht als versicherungspflichtig angesehen hat (§ 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO; § 1 AVG - beide idF der 1. VereinfVO -; § 69 Nr. 2 AVAVG), ist die Klage unter Aufhebung der Urteile der beiden Vorinstanzen abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2379795

BSGE, 254

NJW 1963, 1372

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge