Tenor

Die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. Mai 1966 und des Sozialgerichts Nürnberg vom 23. November 1965 werden insoweit, als nach ihnen die Beklagte die dem Kläger gewährte Teilrente auf die Vollrente zu erhöhen hat, und im Kostenpunkt aufgehoben.

Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 9. November 1964 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger erlitt im Jahre 1938 einen Arbeitsunfall; er zog sich eine Schädelverletzung mit Hirnschädigung zu. Für die Folgen dieser Schädigung – Lähmungserscheinungen der rechten Hand, leichte Erschwerung der Sprache und gelegentliche Kopfschmerzen – bezieht er seit dem Jahre 1947 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 v.H.

Im März 1964 beantragte der Kläger, die Rente nach §§ 573 und 587 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz –UVNG–) vom 30. April 1963 mit Wirkung vom 1. Juli 1963 an neu festzustellen.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 9. November 1964 den Anspruch auf Erhöhung der Teilrente nach § 587 RVO mit der Begründung ab, diese Rentenerhöhung komme nur für Verletzte in Betracht, die infolge des Arbeitsunfalls arbeitslos geworden seien, also dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch zur Verfügung stünden; das sei aber nach einer Feststellung des Landesarbeitsamtes Nordbayern beim Kläger schon seit dem Jahre 1961 nicht mehr der Fall. In diesem Bescheid wurde auch eine Anpassung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) gem. § 573 Abs. 3 RVO abgelehnt.

Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat am 23. November 1965 die Beklagte verurteilt, dem Kläger nach § 587 Abs. 1 RVO die Vollrente zu gewähren und der Rentenberechnung die vom 1. Juli 1963 bzw. 1. Januar 1965 an gültigen Gehaltstarife für Angestellte im Einzelhandel zugrunde zu legen.

Die Berufung der Beklagten hatte insoweit Erfolg, als diese zur Anpassung des JAV gem. § 573 Abs. 3 RVO verurteilt worden ist; hinsichtlich des Anspruchs auf Erhöhung der Teilrente nach § 587 RVO wurde die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung der Zurückweisung des Rechtsmittels hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) in dem Urteil vom 11. Mai 1966 ua ausgeführt: Die Berufung sei zwar zulässig, weil sie auch die Höhe des JAV betreffe (BSG 5, 222, 225), jedoch hinsichtlich der vom Kläger begehrten Erhöhung der Rente nach § 587 RVO nicht begründet. Der Wortlaut dieser Vorschrift lasse eindeutig erkennen, daß der Gesetzgeber bei der Neuregelung zwar an den Begriff der Arbeitslosigkeit gedacht habe, daß aber dessen ungeachtet von dieser Vorschrift auch Fälle erfaßt würden, in denen die Vermittlungsfähigkeit des Verletzten i. S. des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) nicht gegeben sei; es genüge, daß das Fehlen von Arbeitseinkommen allein durch den Unfall verursacht werde. Die Regelung des § 587 Abs. 2 RVO stehe dem nicht entgegen; denn dieser Schutzvorschrift komme für die Auslegung des § 587 Abs. 1 RVO keine maßgebliche Bedeutung zu. Im vorliegenden Fall sei die erforderliche ursächliche Beziehung zwischen dem Arbeitsunfall und dem Fehlen von Arbeitseinkommen gegeben.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten hat dieses Rechtsmittel eingelegt und unrichtige Anwendung des § 587 RVO gerügt. Die Revision hat ua ausgeführt: Das LSG habe verkannt, daß § 587 RVO Ausnahmecharakter habe und deshalb nicht jedem Verletzten, der infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen sei, zugute kommen könne; anderenfalls wäre die Auslegung dieser Vorschrift nicht mit dem nach § 581 RVO auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) geltenden Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung in Einklang zu bringen. Für die Auslegung des § 587 RVO sei das Wort „solange” bestimmend; daraus folge zwingend, daß aufgrund dieser Vorschrift nur eine vorübergehende, zeitweise Aufbesserung der nach § 581 RVO festgestellten Teilrente möglich sei. Die Einkommenslosigkeit müsse behebbar sein. Bestehe diese dagegen – wie im vorliegenden Fall – für alle Zeiten, liege ein Anwendungsfall des § 587 RVO nicht vor.

Mit weiteren Ausführungen wendet sich die Revision gegen die Annahme des LSG, der Kläger sei ohne Arbeitseinkommen i. S. des § 587 Abs. 1 RVO.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen insoweit aufzuheben, als die Beklagte zur Gewährung der Vollrente nach § 587 RVO an den Kläger verurteilt worden sei, und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 9. November 1964 abzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten. Er hat privatschriftlich ua mitgeteilt, seine Frau trage als Angestellte seines Bruders zum gemeinsamen Lebensunterhalt bei, da hierfür seine Rente nicht ausreiche. Er selbst sei wegen der Verletzungsfolgen nicht erwerbsfähig.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–).

II

Die Revision ist zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Im Revisionsverfahren ist nur noch streitig, ob der Anspruch des Klägers auf die Erhöhung der Teilrente nach § 587 Abs. 1 RVO begründet ist. Da die Revision zugelassen ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), bedarf es zunächst der Prüfung, ob die Voraussetzungen gegeben sind, von denen die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt. Hierzu gehört die Zulässigkeit der Berufung (BSG 2, 225, 227; 245, 246). Das LSG hat dieses Rechtsmittel im Ergebnis zu Recht für zulässig erachtet. Es ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Berufung, soweit sie die Erhöhung der Teilrente nach § 587 Abs. 1 RVO betrifft, nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen ist. Hierbei hat es allerdings verkannt, daß nicht eine Gradstreitigkeit im Sinne der ersten Alternative dieser Vorschrift, sondern ein Anwendungsfall der zweiten Alternative des § 145 Nr. 4 SGG vorliegt. Wenn hiernach die Teilrente, deren Erhöhung auf die Vollrente nach § 587 RVO der Kläger begehrt, eine Dauerrente ist, handelt es sich nach der Auffassung des erkennenden Senats bei dieser Rentenerhöhung um die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse. Dies folgt, wie der erkennende Senat in der am 27. August 1969 unter 2 RU 84/68 ergangenen und zur Veröffentlichung vorgesehenen Entscheidung ausgesprochen hat, aus dem Wesen der in § 587 RVO normierten Leistung. Danach handelt es sich bei der Vollrente, die nach dieser Vorschrift einem Verletzten zu gewähren ist, weil er infolge eines Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen ist, nicht um eine auf ein und demselben Rechtsgrunde beruhende einheitliche Leistung. Sie setzt sich vielmehr aus zwei Bestandteilen zusammen, denen unterschiedliche Schadenstatbestände zugrunde liegen. Es muß ein Anspruch auf Verletztenrente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit des Verletzten in einem zum Bezug einer Teilrente berechtigenden Grade bestehen (§ 581 RVO). Wird diese Rente bei Vorliegen der besonderen Erfordernisse des § 587 RVO auf die Vollrente erhöht, ist dieser Teil der Leistung – vergleichbar der Kinderzulage (§ 583 RVO) – zwar von dem Anspruch des Verletzten auf eine Teilrente abhängig; da er jedoch teilweise auf anderen Tatsachen und rechtlichen Voraussetzungen als die nach § 581 RVO gewährte Rente beruht, stellt er einen rechtlich gesondert zu beurteilenden Bestandteil der nach § 587 RVO als Vollrente zu gewährenden Leistung dar. Dies schließt indessen nicht aus, daß wie bei der Kinderzulage Änderungen in den diesem Rentenbestandteil zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnissen eine Neufeststellung der Rente i. S. des § 622 Abs. 1 RVO zur Folge haben. Im vorliegenden Streitfall betraf die Berufung die Frage, ob die dem Kläger bereits seit langem – nach einer MdE von 70 v.H. – gewährte Dauerrente auf die Vollrente wegen unfallbedingter Einkommenslosigkeit zu erhöhen ist. Der Streit hatte also die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse i. S. des § 145 Nr. 4 SGG zum Gegenstand. Demzufolge war, da kein in dieser Vorschrift vorgesehener Ausnahmegrund gegeben war, die Berufung an sich ausgeschlossen. Gleichwohl hat das LSG die Zulässigkeit des Rechtsmittels aber zu Recht bejaht, weil die Beteiligten im Berufungsverfahren auch noch über die Höhe des JAV stritten. Die Rechtslage ist nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht anders zu beurteilen, als wenn auf die Berufung über den Grad der MdE und gleichzeitig den JAV zu entscheiden ist. In einem solchen Falle ist, wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 28. Juni 1957 (BSG 5, 222) ausgesprochen hat, die Berufung nicht nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen. Allerdings ist diese Entscheidung zu der Fassung dieser Vorschrift ergangen, die inzwischen durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 25. Juni 1958 (BGBl I 409) geändert worden ist. Der Senat ist jedoch der Meinung, daß jene Entscheidung trotzdem ihre Geltung behalten hat. Ihre Begründung ist in den wesentlichen Ausführungen durch die Gesetzesänderung auch für Fälle der vorliegenden Art nicht in Frage gestellt worden. Ebenso wie der MdE kommt auch der Einkommenslosigkeit i. S. des § 587 Abs. 1 RVO die Bedeutung eines Berechnungsfaktors der Rente in dem die Entscheidung vom 28. Juni 1957 begründenden Sinne zu, so daß es nach wie vor unter dem Gesichtspunkt des Entlastungszweckes, dem die Ausschlußvorschriften der §§ 144 ff SGG wesentlich dienen, nichts ausmacht, in die Sachprüfung auch den Streitpunkt mit einzubeziehen, für den die Berufung an sich ausgeschlossen ist, wenn das zweitinstanzliche Verfahren wegen des JAV ohnehin durchgeführt werden muß.

In der Sache selbst hat das LSG den vorliegenden Streitfall mit Recht nach § 587 RVO beurteilt. Zwar hat sich der Arbeitsunfall des Klägers bereits im Jahre 1938 ereignet; aber nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG gilt § 587 RVO auch für die vor dem 1. Juli 1963, dem Inkrafttreten dieses Gesetzes, eingetretenen Arbeitsunfälle, wenn sie mit ihren Folgen in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirken (vgl. BSG 23, 142; 24, 90; SozR Nr. 1 zu § 605 RVO; Lauterbach, Gesetzliche UV, 3. Aufl., Band I S. 518/1 Anm. 10 zu § 587 RVO). Die dem geltend gemachten Erhöhungsanspruch zugrunde liegende unfallbedingte Einkommenslosigkeit des Klägers bestand über den 1. Juli 1963 hinaus.

Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf die Erhöhung der Teilrente nach § 587 Abs. 1 RVO ohne weiteres für gegeben erachtet, weil der Kläger infolge seines Arbeitsunfalls arbeitslos und deswegen ohne Einkommen sei. Hierbei ist das LSG zwar zutreffend davon ausgegangen, daß auch für den nach dieser Vorschrift erforderlichen Ursachenzusammenhang die für das Gebiet der gesetzlichen UV allgemein geltende Kausalitätsnorm maßgebend ist. Es hat jedoch, wie die Revision, zu Recht geltend macht, verkannt, daß der Leistungsanspruch nach § 587 Abs. 1 RVO nicht bereits begründet ist, wenn der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem Verlust des Arbeitseinkommens des Verletzten gegeben ist; die Anwendung dieser Vorschrift ist vielmehr auf Fälle beschränkt, in denen der Verletzte nur für eine vorübergehende Zeit unfallbedingt einkommenslos ist. Dem der Begründung des angefochtenen Urteils zu entnehmenden gegenteiligen Standpunkt steht zwar der Wortlaut des § 587 RVO nicht entgegen; indessen bietet die Textfassung allein, die allenfalls auslegungsneutral ist, keinen erschöpfenden Aufschluß für die Reichweite der gesetzlichen Regelung. Ihr ist weder sprachlich noch begrifflich zu entnehmen, daß es dem Willen des Gesetzgebers entspricht, den Anspruch auf die Vollrente auch Verletzten zugute kommen zu lassen, die infolge Arbeitsunfalls für die Dauer aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Jedenfalls bietet der Wortlaut des § 587 RVO allein keine ausreichende Grundlage für eine sinnvolle Auslegung der Vorschrift; vielmehr muß ihr Anwendungsbereich unter Berücksichtigung der in Rechtsprechung und Rechtslehre für die Gesetzesauslegung entwickelten Grundsätze ermittelt werden (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-6. Aufl., Band I S. 190 p I/III mit Nachweisungen, vor allem BSG 23, 276 und BVerfG 11, 126, 130). Hiernach ist der in § 587 RVO zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgeblich, so wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang, in den er hineingestellt ist, ergibt. Unter Beachtung dieser Grundsätze führt nach Auffassung des erkennenden Senats die Auslegung des § 587 RVO zu der von der Revision erstrebten Beschränkung der Anwendung dieser Vorschrift. Dies folgt jedoch entgegen der Ansieht der Revision nicht daraus, daß der adverbiale Nebensatz, der die gesetzlichen Merkmale des Leistungsanspruchs enthält, mit der Konjunktion „solange” eingeleitet ist. Durch diese Vokabel soll nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden als das Erfordernis der Gleichzeitigkeit zwischen Anspruchsvoraussetzung und Leistungsdauer. Insoweit unterscheidet sich die umstrittene Regelung auch nicht von anderen, die entsprechende Wortfassung aufweisenden Leistungsvorschriften der gesetzlichen UV (§§ 558 Abs. 1; 560; 581 Abs. 1 und 583 Abs. 1 RVO).

Nicht ohne Bedeutung für den Inhalt des § 587 RVO ist die geschichtliche Entwicklung, die zu dessen jetziger Gestalt geführt hat. Deshalb ist bei der Auslegung auch der Werdegang der Vorschrift nicht unberücksichtigt zu lassen. Das Bedürfnis, Unfallverletzte, denen es wegen der Schädigungsfolgen Schwierigkeiten bereitet, wieder Arbeitsverdienst zu erlangen, zu schützen, hat den Gesetzgeber bereits um die Jahrhundertwende, als das Gewerbe-Unfallversicherungsgesetz und das Unfallversicherungsgesetz für die Land- und Forstwirtschaft geschaffen wurden (beide idF der Bekanntmachung vom 5. Juli 1900 – RGBl 585, 641 –), veranlaßt, eine die wirtschaftlichen Folgen der Arbeitslosigkeit des Unfallverletzten berücksichtigende Sonderregelung einzuführen (vgl. Regierungsentwurf eines Gesetzes betr. die Änderung der Unfallversicherungsgesetze – Sammlung sämtlicher Drucksachen des Reichstages, 10. Legislatur-Periode; I. Session 1898/1900, VIII. Band Drucks. Nr. 523 – Begründung S. 50). Diese Folgen traten in Erscheinung, wenn sich Verletzte nach Abschluß des Heilverfahrens um passende Arbeit bemühten und sich in eine regelmäßige neue Beschäftigung eingewöhnen mußten. Die aus sozialpolitischen Gründen für erforderlich erachtete gesetzliche Regelung sollte denjenigen Verletzten zugute kommen, welche durch ihre Unfallfolgen gehindert wurden, alsbald einen Arbeitsplatz zu finden, also für eine nicht auf Dauer bemessene Zeit arbeitslos, d. h. ohne Arbeitseinkommen, waren. Für Verletzte hingegen, deren Einkommenslosigkeit in ihrer Dauer nicht absehbar war, sollte diese besondere Regelung offensichtlich nicht gelten. An dieser Gesetzeskonzeption hat sich seitdem trotz der dem Zeitwandel angepaßten Gesetzesfassungen nichts Grundlegendes geändert. Dies gilt in Sonderheit für die von § 562 RVO in dem bis zum Inkrafttreten des UVNG geltenden Wortlaut (aF) abweichende Fassung des § 587 Abs. 1 RVO insofern, als nicht mehr das Wort „arbeitslos”, sondern die Worte „ohne Arbeitseinkommen” verwendet worden sind und die ausdrückliche Beschränkung der Leistung „auf Zeit” nicht übernommen wurde. Daß es sich hierbei auch nach dem Willen des Gesetzgebers nicht um eine Änderung des Sinngehaltes dieser Vorschrift handeln sollte, ergibt sich aus dem Bericht des 20. Ausschusses für Sozialpolitik des Bundestages. Darin kommt eindeutig zum Ausdruck, daß der Schutz der Vorschrift Verletzten zugute kommen soll, die infolge des Arbeitsunfalls „arbeitslos” geworden sind (vgl. BT-Drucks. IV/938-neu S. 13; abgedruckt auch in Lauterbach aaO Band I S. 516 Anm. 1 zu § 587 RVO), d. h. ihr Erwerbsleben noch nicht beendet haben.

In die gleiche Richtung weist die in Abs. 2 des § 587 RVO neu getroffene Regelung, nach der einem i. S. des AVAVG (jetzt: Arbeitsförderungsgesetz –AFG–) arbeitslosen Verletzten die Vollrente auf das Arbeitslosengeld oder die Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe nicht angerechnet werden darf. Dem Verletzten soll demnach die Vollrente aufgrund des § 587 Abs. 1 RVO ungeschmälert zugute kommen (vgl. BT-Drucks. IV/938-neu S. 14; BSG 27, 297, 298). Da der Gesetzgeber das Verbot der Leistungskürzung auf das Verhältnis zur Arbeitslosenversicherung (ArblV) beschränkt hat, ist die Anwendung der Ruhensvorschriften im Verhältnis der Leistungsgewährung nach § 587 Abs. 1 RVO zu den Rentenbezügen aus den Rentenversicherungen (§ 1278 RVO; § 55 AVG; § 75 RKG) grundsätzlich unberührt geblieben. Die Unterscheidung zwischen den Leistungen aus der ArblV, die ungekürzt bleiben, und den sich bei Anwendung der Ruhensvorschriften verringernden Bezügen aus den Rentenversicherungen steht mit dem Willen des Gesetzgebers, dem Verletzten die Vollrente ungeschmälert zukommen zu lassen, deshalb im Einklang, weil kein praktisches Bedürfnis besteht, die Anwendung der angeführten Vorschriften aus der Rentenversicherung auszuschließen. Die Erklärung hierfür ist darin zu finden, daß der Anspruch auf die Vollrente nach § 587 RVO nur begründet sein sollte, wenn der Verletzte in absehbarer Zeit wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird, also noch nicht als Rentner aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist und deshalb ein gleichzeitiger Leistungsbezug aus § 587 RVO und den Rentenversicherungen für längere Zeit nicht in Betracht kommt. Daraus, daß dem Gesetzgeber bei der Regelung in Abs. 2 des § 587 RVO ein besonderer Schutz der unter § 76 AVAVG, neuerdings § 103 AFG, fallenden Arbeitnehmer („Arbeitslose”) vorgeschwebt hat, folgt entgegen der vereinzelt vertretenen Ansicht (Vollmar, BG 1966, 269) indessen nicht, daß der Begriff „ohne Arbeitseinkommen” an dem Recht des AVAVG bzw. des nunmehr geltenden AFG zu orientieren wäre. Dieser Annahme stünde schon entgegen, daß sich der Anwendungsbereich des § 587 Abs. 1 RVO nicht auf Arbeitnehmer i. S. des § 76 AVAVG bzw. § 103 AFG beschränkt. Für eine Begriffsidentität zwischen „arbeitslos” („ohne Arbeitseinkommen”) i. S. der gesetzlichen UV und „arbeitslos” i. S. des Rechts der ArblV ist daher kein Raum.

Die Auffassung, der Anspruch auf die Erhöhung der Teilrente nach § 587 RVO stehe nur einem Verletzten zu, der in absehbarer Zeit wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen werde, findet des weiteren eine wesentliche Stütze in dem rechtssystematischen Zusammenhang, in den diese auszulegende Vorschrift gestellt ist. Die Leistung nach § 587 Abs. 1 RVO stellt, wie eingangs bereits zum Ausdruck gebracht und in dem Urteil des 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Januar 1969 (BSG 29, 126 ff = SozR Nr. 1 zu § 583 RVO) insoweit zutreffend dargelegt ist, nicht nur wegen ihrer Einreihung in den Abschnitt „Renten an Verletzte” (§§ 580 bis 588 RVO), sondern auch ihrem Wesen nach eine Verletztenrente dar. Ebenso wie die in § 581 RVO normierte Rente bezweckt auch sie einen Schadensausgleich, dessen Berechnung im Ergebnis dem das Wesen der gesetzlichen UV beherrschenden Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung unterliegt. Die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente wegen unfallbedingter Einkommenslosigkeit ist von der Höhe des fehlenden Arbeitsverdienstes unabhängig, und der Erhöhungsbetrag selbst richtet sich nach dem JAV, wobei die den Einkommensverlust ausgleichende Geldleistung (der Unterschiedsbetrag zwischen Teilrente und Vollrente) um so niedriger ist, je höher die ohnehin nach abstrakten Maßstäben berechnete Teilrente ist. Trotz ihrer Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die in § 581 und § 587 RVO normierten Verletztenrenten jedoch in folgender Hinsicht: Nach § 581 RVO setzt der Anspruch auf Rente, auch auf die Vollrente, nicht voraus, daß die unfallbedingte Körperschädigung für den Verletzten wirtschaftliche Nachteile in seiner derzeitigen Erwerbssituation zur Folge hat, die während der Dauer der Leistungsgewährung fortbestehen. Nach dem Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung ist der Rentenanspruch aufgrund des § 581 RVO vielmehr begründet, wenn und soweit die Erwerbsfähigkeit des Verletzten durch die Unfallfolgen auf dem Gebiete des allgemeinen Erwerbslebens beeinträchtigt ist. Es ist bei dieser Art der Schadensermittlung die Entschädigung in der Form der Rente also auch zu gewähren, wenn kein konkreter Vermögensschaden vorliegt. Die Befolgung des Grundsatzes der abstrakten Schadensbemessung ermöglicht es sogar, daß ein Unfallverletzter nicht nur seine vor dem Unfall ausgeübte Beschäftigung bei gleichem Lohn wieder verrichtet, sondern unter Beibehaltung der nach dem Grad der unfallbedingten MdE festgesetzten Rente eine lohngünstigere Berufstätigkeit aufnehmen kann (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 27. September 1968 in BSG 28, 227, 230). Anders liegen die Verhältnisse hingegen bei der Regelung des § 587 RVO. Hier hängt der Anspruch auf die Vollrente davon ab, daß ein konkreter Vermögensschaden, und zwar in der vom Gesetz bezeichneten Gestalt, nämlich der des vollständigen Fehlens von Arbeitseinkommen, vorliegt. Diese Regelung läßt es nicht zu, ungeachtet des Eintritts eines tatsächlichen wirtschaftlichen Schadens die Erhöhung der Teilrente zu gewähren. Die wegen unfallbedingter Einkommenslosigkeit zu gewährende Vollrente stellt hiernach eine Leistung dar, welche wegen ihrer besonderen Struktur § 587 RVO gegenüber § 581 RVO als die Ausnahmeregelung kennzeichnet. Hieraus ist allerdings entgegen einer verbreiteten Ansicht, daß Ausnahmevorschriften eng auszulegen seien (vgl. Brackmann aaO S. 190 p III mit Nachweisungen), nicht bereits zu folgern, daß § 587 RVO in dem oben dargelegten Sinne einschränkend anzuwenden sei. Jedoch läßt es der Zweck des § 587 RVO in der Sicht des rechtssystematischen Zusammenhangs übereinstimmend mit der Revision als begründet erscheinen, den Anspruch auf die Vollrente wegen unfallbedingter Einkommenslosigkeit nur Verletzten zuzubilligen, die vorübergehend ohne Arbeitsverdienst sind. Bestünde dieser Anspruch unabhängig von der Dauer der Einkommenslosigkeit des Verletzten, wäre die Berechtigung der vom Gesetzgeber unverkennbar gewollten unterschiedlichen Behandlung der Anwendungsfälle der §§ 581 und 587 RVO in Frage gestellt. Bei Einräumung der Anwendungsmöglichkeit des § 587 RVO auf Fälle mit unbegrenzter Dauer der Einkommenslosigkeit, möglicherweise bis in die Zeit nach der schon allein aufgrund des Lebensalters anzunehmenden Beendigung des Arbeitslebens des Verletzten hinein, ließe sich die Gefahr eines Einbruchs in das Entschädigungsgefüge der gesetzlichen UV nicht von der Hand weisen; mindestens wäre zu befürchten, daß der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung, der nach der Auffassung des erkennenden Senats wegen der für den Verletzten in der Regel günstigen Auswirkungen (BSG 28, 230) erhalten bleiben soll, an Bedeutung verlieren würde. Bei unbegrenzter Dauer der Leistung nach § 587 Abs. 1 RVO könnte ein Verletzter unter Umständen auch dann in den dauernden Genuß einer Vollrente gelangen, wenn der unfallbedingte Körperschaden und demgemäß auch die MdE verhältnismäßig gering sind, während ein nur nach § 581 RVO entschädigter Verletzter auch bei schwerem Körperschaden die Vollrente nur selten zu erreichen vermag. Eine zu derartigen Ergebnissen führende (ausdehnende) Auslegung des § 587 Abs. 1 RVO ließe sich nach Ansicht des erkennenden Senats nicht rechtfertigen, abgesehen davon, daß sie in der Praxis auf eine mit dem Wesen der gesetzlichen UV unvereinbare Aushöhlung des Grundsatzes der abstrakten Schadensbemessung hinausliefe.

Diese Auffassung findet eine wesentliche Stütze in einem Vergleich des § 587 Abs. 1 RVO mit der Regelung in § 582 RVO. Nach dieser Vorschrift erhöht sich die Verletztenrente eines Schwerverletzten (§ 583 Abs. 1 RVO), der infolge des Arbeitsunfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen kann und keine Rente aus den Rentenversicherungen der Arbeiter oder der Angestellten oder der knappschaftlichen Rentenversicherung erhält, um 10 v.H. Diese Vorschrift wäre praktisch überflüssig, wenn der nach § 587 RVO begründete Leistungsanspruch ohne zeitliche Einschränkung gegeben wäre. Denn in diesem Falle hätte der Schwerverletzte, der einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen kann, ohne weiteres Anspruch auf die Vollrente nach § 587 Abs. 1 RVO. Die Erhöhung um 10 v.H. gem. § 582 RVO käme für ihn nur in Betracht, wenn er schon wegen unfallbedingter MdE die Vollrente nach § 581 Abs. 1 RVO erhielte und nicht zu den Beziehern einer Rente aus den angeführten Rentenversicherungen gehörte.

Die sich aus einem Vergleich des § 587 RVO mit § 582 RVO ergebende Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung des § 587 Abs. 1 RVO wird auch bei deren Orientierung an dem Postulat der sozialen Gerechtigkeit deutlich. Stünde der Erhöhungsanspruch nach dieser Vorschrift auch einem Verletzten zu, dessen Erwerbsleben beendet ist, käme dies einer Besserstellung der nach § 587 RVO geschützten Verletzten gegenüber den unter § 582 RVO fallenden Schwerverletzten gleich, die vom Gesetzgeber nach den bestehenden ausdrücklichen Regelungen nicht gewollt sein kann. Die Schwerverletzten müssen sich mit einer Leistungsverbesserung von 10 v.H. der Verletztenrente zufrieden geben und selbst auf diese Erhöhung verzichten, wenn sie eine Rente aus den Rentenversicherungen beziehen, während die Leistung nach § 587 Abs. 1 RVO durch einen anderweitigen Rentenbezug nicht gemindert wird. Die beiden Vorschriften bestehen indessen sinnvoll nebeneinander, wenn der Anspruch auf die Leistung nach § 587 Abs. 1 RVO nur für eine vorübergehende Zeit gegeben ist, nämlich wenn nach den Umständen des Einzelfalles für den Verletzten die Aussicht besteht, daß er in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird. Nur wenn dies der Fall ist, steht dem Verletzten der Anspruch auf die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs. 1 RVO zu.

Natürlicherweise werden die eine Leistung nach § 587 RVO beanspruchenden Verletzten hauptsächlich „Arbeitslose” sein. Dies bedeutet jedoch nicht, daß diese Verletzten arbeitslos oder verfügbar i. S. der Vorschriften des AVAVG (§§ 75, 76) bzw. des AFG (§§ 101, 103) sein müßten (vgl. Lauterbach aaO Band I S. 518 Anm. 4 zu § 587 RVO). Für § 75 AVAVG bzw. § 101 AFG ergibt sich dies schon daraus, daß sich, wie bereits oben angeführt, diese Vorschriften auf Arbeitnehmer beziehen und § 76 AVAVG bzw. § 103 AFG nicht für Personen gelten, die wegen Rehabilitationsmaßnahmen der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehen.

Wenn auch hiernach § 587 RVO in der Weise anzuwenden ist, daß die Erhöhung der Teilrente nur Verletzten vorbehalten bleibt, für welche die Aussicht besteht, daß sie in absehbarer Zeit wieder erwerbstätig werden, würde es sich mit dieser Auslegung nicht vereinbaren lassen, diese erforderliche Aussicht stets zu verneinen, wenn ein Verletzter das 65. Lebensjahr überschritten hat (vgl. Lauterbach aaO Anm. 2 zu § 587 RVO).

Ebensowenig könnte durch die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente oder des Altersruhegeldes aus den Rentenversicherungen die Anwendbarkeit des § 587 Abs. 1 RVO schlechthin ausgeschlossen werden; allerdings ist insoweit nicht zu verkennen, daß in derartigen Fällen die Annahme naheliegt, der Verletzte werde nicht in absehbarer Zeit eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Die dem angefochtenen Urteil zu entnehmende gegenteilige Auslegung des § 587 RVO, nämlich daß diese Vorschrift ohne Rücksicht auf die Dauer der auf dem Arbeitsunfall beruhenden Einkommenslosigkeit anzuwenden sei, würde dazu führen, daß bei einer großen Zahl von Fällen, in denen der Verletzte dauernd Rente aus den Rentenversicherungen bezieht, die Anwendung des § 587 Abs. 1 RVO entgegen der erklärten Vorstellung des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. IV/938-neu S. 14) nicht dem Verletzten zugute käme, sondern einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Entlastung der Rentenversicherung diente (siehe § 1278 RVO).

Unter Berücksichtigung der hiernach für die Auslegung des § 587 RVO maßgeblichen Gesichtspunkte rechtfertigen die im vorliegenden Streitfall vom LSG getroffenen, von den Beteiligten nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) nicht die Schlußfolgerung, die Einkommenslosigkeit des Klägers sei durch Umstände bedingt, welche in absehbarer Zeit zu beheben gewesen wären. Das Berufungsurteil läßt zwar eine eindeutige Bezeichnung des Zeitpunktes vermissen, von dem an der Kläger infolge des im Jahre 1938 eingetretenen Arbeitsunfalls nicht mehr erwerbstätig war. Da sich das LSG insoweit aber ausdrücklich auf ein vom zuständigen Landesarbeitsamt eingeholtes, zum Gegenstand des Berufungsverfahrens gemachtes neurologisches Gutachten stützt, nach welchem der die Grundlage des Klagebegehrens aus § 587 RVO bildende Gesundheitszustand mindestens seit dem Jahre 1961 besteht, ist dem angefochtenen Urteil die Feststellung zu entnehmen, daß der Kläger jedenfalls seit dieser Zeit wegen seiner Unfallfolgen kein Arbeitseinkommen mehr erzielen konnte. Bei diesem Zeitraum ist nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht die Annahme begründet, daß der Kläger in absehbarer Zeit wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen werde. Ein Anwendungsfall des § 587 Abs. 1 RVO liegt demzufolge nicht vor. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 9. November 1964 mußte daher – unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen, soweit durch diese dem Klagebegehren aus § 587 RVO entsprochen worden war – abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Brackmann, Dr. Kaiser, Hunger

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 01.11.1969 durch Hanisch Justizsekretär als Urk.Beamter Gesch.Stelle

 

Fundstellen

BSGE, 64

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