Entscheidungsstichwort (Thema)

Rentenbewerber, deren Rentenantrag abgelehnt wird und Krankenversicherung der Rentner

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Versicherungspflicht des Rentenantragstellers in der Krankenversicherung nach RVO § 315a wird auch durch offensichtliche Bedenken gegen die Rentenberechtigung jedenfalls dann nicht ausgeräumt, wenn der Rentenbewerber den Antrag nicht mißbräuchlich zur Erlangung der Mitgliedschaft in der Pflicht-Krankenversicherung gestellt hat.

2. Ein Träger der gesetzlichen Krankenversicherung verstößt nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn er die Beiträge zur inzwischen beendeten Pflicht-Krankenversicherung des Rentenantragstellers (RVO § 315a) in Kenntnis der endgültigen Ablehnung des Rentenantrags vom Antragsteller fordert.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Krankenversorgung nach LAG § 276 und die Krankenbehandlung nach BVG § 10 Abs 3 Buchst c ist keine Versicherung nach anderen gesetzlichen Vorschriften iS von RVO § 165 Abs 6.

2. Ein solcher Rentenbewerber, dessen Antrag endgültig abgelehnt wird, kann nicht Mitglied in der Krankenversicherung der Rentner werden.

3. Seine Krankenversicherung ergibt sich jedoch aus RVO § 315a mit der Folge, daß der Rentenbewerber ohne Rentenanspruch die von allen Rentenantragstellern zu entrichtenden Beiträge zur Krankenversicherung (RVO § 381 Abs 3 S 2) endgültig selbst tragen muß (RVO § 381 Abs 3 S 3). Diese klare gesetzliche Regelung gilt auch für den Fall, daß offensichtliche Bedenken gegen die Rentenberechtigung bestehen.

 

Normenkette

RVO § 165 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1956-06-12, § 315a Abs. 3 Fassung: 1956-06-12, § 165 Abs. 6 Fassung: 1956-06-12, § 315a Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1956-06-12, Abs. 2 S. 1 Fassung: 1956-06-12, S. 2 Fassung: 1956-06-12, § 381 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1956-06-12, S. 3 Fassung: 1956-06-12; LAG § 276; BVG § 10 Abs. 3 Buchst. c

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Oktober 1961 und des Sozialgerichts Schleswig vom 20. März 1961 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der im Jahre 1891 geborene Kläger stellte am 27. April 1957 bei der Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein (LVA) Antrag auf Altersruhegeld. Diese lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13. November 1958 mit der Begründung ab, der Kläger habe nur eine Versicherungszeit von 24 Kalendermonaten nachgewiesen und somit die Wartezeit von 180 Kalendermonaten nicht erfüllt; die Sondervorschrift des Art. 2 § 52 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) könne in seinem Fall nicht angewendet werden, da er das 65. Lebensjahr bereits vor Inkrafttreten des ArVNG - 1. Januar 1957 - vollendet habe. Die gegen den Ablehnungsbescheid gerichtete Klage hat der Kläger am 11. April 1959 zurückgenommen.

Die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) erfuhr von dem Rentenantrag des Klägers durch eine Mitteilung der LVA vom 13. November 1958 - bei der AOK am 18. November 1958 eingegangen -, daß der Rentenantrag abgelehnt sei. Mit Schreiben vom 20. Februar 1959 wies sie den Kläger darauf hin, daß er als Rentenbewerber, der in den letzten fünf Jahren vor Rentenantragstellung mindestens 52 Wochen bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (KrV) versichert gewesen sei, der Versicherungspflicht in der KrV unterliege. Mit Bescheid vom 25. April 1959 verlangte sie vom Kläger die Entrichtung der Beiträge für die Zeit vom 27. April 1957 bis zum 30. April 1959 im Betrage von 305,04 DM zuzüglich 7,65 DM Mahngebühren, Säumniszuschlägen und Vollstreckungsgebühren, insgesamt 312,69 DM.

Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, er habe nicht der Versicherungspflicht nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unterlegen, weil er als Bezieher einer Kriegsrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und einer Kriegsschadensrente nach dem Lastenausgleichsgesetz (LAG) schon den Schutz der gesetzlichen KrV genieße (Hinweis auf § 315 a Abs. 3 i. V. m. § 165 Abs. 6 RVO). Auch verstoße es gegen Treu und Glauben, wenn die beklagte AOK eine Beitragsforderung in Kenntnis der Sachlage geltend mache, daß der Kläger nicht die Voraussetzungen für die beantragte Rente erfülle.

Die Widerspruchsstelle der beklagten AOK wies den Widerspruch mit der Begründung zurück, § 165 Abs. 6 RVO sei im Falle des Klägers nicht anwendbar, da er in der fraglichen Zeit außer nach § 315 a RVO weder nach § 165 Abs. 1 RVO noch nach anderen gesetzlichen Vorschriften versichert gewesen sei (Bescheid vom 28. Mai 1959).

Mit der Klage beantragte der Kläger,

den Bescheid der beklagten AOK vom 25. April 1959 idF des Widerspruchsbescheids vom 28. Mai 1959 aufzuheben.

Das Sozialgericht (SG) gab dem Klageantrag statt.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der beklagten AOK zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 19. Oktober 1961). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Zu Unrecht habe das SG angenommen, daß die subsidiäre Krankenversorgung nach § 276 LAG oder auch die nach § 10 Abs. 3 Buchst. c BVG die Versicherungspflicht des Rentenbewerbers nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO ausschließe. Indessen hätte die beklagte AOK die Versicherungspflicht des Klägers verneinen müssen, wenn gegen die Rentenberechtigung offensichtlich Bedenken bestünden. Keinesfalls hätte sie im Februar 1959, als ihr die Ablehnung des Rentenantrags bereits bekannt gewesen sei, noch die Beiträge ab Mai 1957 ohne Prüfung der Rentenberechtigung des Klägers fordern dürfen. Als der Widerspruchsbescheid erlassen worden sei, habe die beklagte AOK sogar gewußt, daß der Ablehnungsbescheid der LVA bindend geworden sei. Selbst wenn die Beitragsforderung der beklagten AOK aber als rechtmäßig anzusehen sei, verstoße die Beitragserhebung gegen Treu und Glauben.

Gegen dieses Urteil hat die beklagte AOK Revision mit dem Antrag eingelegt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie macht geltend: Zu Unrecht habe das LSG angenommen, daß sie, die beklagte AOK, habe prüfen müssen, ob gegen die Rentenberechtigung des Klägers offensichtliche Bedenken bestünden. Damit würde der Krankenkasse eine völlig außerhalb ihres Aufgabengebiets liegende Prüfung zugemutet, zu deren Bewältigung diese außerstande sei. Das Gesetz (§ 315 a RVO) sehe für den Fall des unbegründeten Rentenantrags eine Formalmitgliedschaft vor, ohne dabei zwischen offensichtlich unbegründeten und in ihren Erfolgsaussichten weniger zweifelhaften Rentenanträgen zu unterscheiden.

Der Kläger hat beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig: Zu Recht habe das LSG als entscheidend angesehen, daß der beklagten AOK bei Erlaß des Widerspruchsbescheids bekannt gewesen sei, daß der Kläger nicht die Voraussetzungen für den Bezug des Altersruhegelds erfülle. Wenn die beklagte AOK dessen ungeachtet an der Beitragsforderung festgehalten habe, müsse sie sich den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegensetzen lassen.

Die Revision ist begründet. Der angefochtene Beitragsbescheid der beklagten AOK ist rechtmäßig.

Der Kläger ist mit dem Tage der Stellung des Rentenantrags Formalmitglied der beklagten AOK geworden, da er während der letzten fünf Jahre vor Stellung des Rentenantrags mindestens 52 Wochen bei einem Träger der gesetzlichen KrV versichert gewesen ist und die Voraussetzungen für den Bezug der Rente nicht erfüllt (§ 315 a Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 RVO). Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, daß der Kläger seine "Anmeldung zur Krankenversicherung der Rentner nach § 317 Abs. 5 RVO" erst am 30. Januar 1959 erstattet hat (BSG 23, 293, 296). Seine Mitgliedschaft endete mit Ablauf des Monats, in dem die Ablehnung des Rentenantrags endgültig geworden ist (§ 315 a Abs. 2 Satz 2 RVO). "Endgültigkeit" in diesem Sinne trat erst ein, als der Kläger seine gegen den Ablehnungsbescheid der LVA gerichtete Klage zurücknahm. Das war am 11. April 1959 der Fall. Demnach war der Kläger Pflichtmitglied der beklagten AOK vom 27. April 1957 bis zum 30. April 1959.

Die Mitgliedschaft war nicht durch eine anderweit nach gesetzlichen Vorschriften bestehende Versicherung ausgeschlossen (vgl. § 315 a Abs. 3 i. V. m. § 165 Abs. 6, 1. Halbs. RVO). Wie das LSG zutreffend festgestellt hat, stellte die Krankenversorgung, die der Kläger als Empfänger von Unterhaltshilfe nach § 276 LAG erhielt, keine anderweite KrV nach gesetzlicher Vorschrift i. S. des § 165 Abs. 6 RVO dar. Sie ist nach § 276 Abs. 1 Satz 3 LAG idF des Art. I § 1 Nr. 15 des 11. Änderungsgesetzes zum LAG vom 29. Juli 1959 (BGBl I 545) gegenüber der Krankenhilfe nach den Vorschriften der Sozialversicherung subsidiär (vgl. BSG 19, 260, 261). Das gleiche hätte von der Krankenbehandlung gegolten, die dem Kläger als "versorgungsberechtigten Hinterbliebenen" i. S. des § 10 Abs. 3 Buchst. c BVG idF des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) zusteht, wenn diese Vorschrift schon zu der hier fraglichen Zeit - April 1957 bis April 1959 - in Kraft gewesen wäre.

Die Mitgliedschaft des Klägers bei der beklagten AOK ist auch nicht dadurch in Frage gestellt worden, daß seine Rentenberechtigung zweifelhaft war oder daß sich später die Unbegründetheit des Rentenantrags herausstellte. Das Gesetz hat den Umstand, daß bei Stellung des Rentenantrags häufig ungewiß ist, ob ein Anspruch besteht, nur in der Form Rechnung getragen, daß es die Mitgliedschaft der Rentenbewerber ohne Rentenanspruch als formale Mitgliedschaft kennzeichnet (§ 315 a Abs. 1 RVO: "Als Mitglieder gelten ..."). Auf die Rechte und Pflichten aus dem Mitgliedschaftsverhältnis hat diese Unterscheidung nur insofern Einfluß, als der Rentenbewerber ohne Rentenanspruch die von allen Rentenantragstellern zu entrichtenden Beiträge zur KrV (§ 381 Abs. 3 Satz 2 RVO) endgültig selbst tragen muß (§ 381 Abs. 3 Satz 3 RVO).

Diese klare gesetzliche Regelung gilt auch für den Fall, daß offensichtliche Bedenken gegen die Rentenberechtigung bestehen. Wie die Revision mit Recht geltend macht, wären die Träger der gesetzlichen KrV schon mit einer begrenzten Prüfung des Rentenantrags daraufhin, ob er nicht offensichtlich unbegründet ist, überfordert. Weder sind sie personell für diese Aufgabe gerüstet noch ermöglichen die neben dem Rentenantrag zu fertigenden "Meldungen", die allein an die Krankenkasse gehen (vgl. § 317 Abs. 5 RVO), eine Beurteilung der Rentenberechtigung. Es wäre auch angesichts des komplizierten Rentenversicherungsrechts zumal in Phasen des Übergangs von altem zu neuem Recht, wie auch der vorliegende Fall zeigt, zum mindesten äußerst schwierig, eine für die Praxis brauchbare Abgrenzung für "offensichtlich" unbegründete Rentenansprüche zu finden. Vor allem aber widerspräche es dem Wesen des Versicherungsverhältnisses in der KrV, wenn die Mitgliedschaft bis zur Klärung der einschlägigen, u. U. schwierigen Rechtsfragen - nach Ansicht des LSG sogar notfalls nach Fühlungsnahme mit dem Rentenversicherungsträger - in der Schwebe bliebe oder gar rückwirkend beseitig werden könnte.

Brackmann (Handb. der Sozialversicherung, 1.-6. Aufl., Stand: 15. Juni 1965 Bd. II S. 448 d), auf den sich das LSG zur Stütze seiner Ansicht beruft, läßt Ausnahmen für den Fall gelten, daß offensichtlich Bedenken gegen die Rentenberechtigung des Antragstellers bestehen, "etwa wegen fehlender Zugehörigkeit zum Kreis der in der Rentenversicherung versicherten Personen oder bei Verdacht einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme". In der Tat könnte erwogen werden, ob einem Rentenantrag, der wider besseres Wissen zur Erlangung der Mitgliedschaft in der KrV gestellt wird, die mißbräuchlich angestrebte Wirkung nach § 315 a RVO versagt wird, vorausgesetzt, daß der Mißbrauch für die Krankenkasse erkennbar offen zutage liegt (vgl. BSG 23, 293, 297). Der Senat braucht hierauf jedoch nicht näher einzugehen. Der vorliegende Sachverhalt bietet für die Annahme eines mißbräuchlichen Verhaltens des Klägers nicht den geringsten Anhalt.

Demnach war der Kläger Mitglied der beklagten AOK in der Zeit vom 27. April 1957 bis zum 30. April 1959 und zur Entrichtung der von der beklagten AOK geforderten Beiträge verpflichtet (§ 381 Abs. 3 Satz 2 RVO). Zu Unrecht hat das LSG in seiner Hilfserwägung angenommen, die Beitragserhebung verstoße gegen Treu und Glauben, weil der beklagten AOK im Zeitpunkt der Beitragsforderung bereits bekannt gewesen sei, daß der Rentenantrag des Klägers unbegründet gewesen sei. Dieses Wissen war unschädlich, weil es für die Mitgliedschaft und die daraus resultierende Beitragspflicht des Klägers unerheblich war, ob sein Rentenantrag begründet war. Ebensowenig ist es für die Beitragspflicht von Bedeutung, ob der Kläger während seiner Mitgliedschaft von der beklagten AOK Leistungen überhaupt bezogen oder - zu Unrecht und deshalb nachträglich auszugleichen - als Krankenversorgung nach § 276 LAG erhalten hat.

Zwar ist nicht zu übersehen, daß die Belastung abgewiesener Rentenbewerber - insbesondere solcher, die schon anderweit einen ausreichenden Schutz im Krankheitsfalle genießen - mit Pflichtbeiträgen zur KrV zu Härten im Einzelfall führen kann. Doch braucht der Gesetzgeber im Interesse der Praktikabilität einer Regelung nicht allen Besonderheiten des zu regelnden Lebenssachverhalts Rechnung zu tragen. Härten in Einzelfällen sind bei einer generalisierenden Regelung unvermeidlich und hinzunehmen und begründen jedenfalls keine verfassungsmäßigen Bedenken gegen die vom Gesetzgeber gewählte Form der Pflichtmitgliedschaft nach § 315 a RVO und der sich daraus ergebenden Beitragspflicht (BVerfG 13, 21, insbes. 29).

Demnach ist die Revision der beklagten AOK begründet. Die Urteile des LSG und des SG mußten aufgehoben werden; die Klage war abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380589

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