Entscheidungsstichwort (Thema)

Einnahmen zum Lebensunterhalt iS von RVO § 180 Abs 4. Grundlohn eines in der knappschaftlichen Krankenversicherung versicherten freiwilligen Mitglieds

 

Leitsatz (amtlich)

Wohngeld und Kindergeld sind keine Einnahmen zum Lebensunterhalt iS des § 180 Abs 4 S 1 RVO (Anschluß an und Fortführung von BSG 1980-10-21 3 RK 53/79 = BSGE 50, 243).

 

Orientierungssatz

RVO § 180 Abs 4 S 1 erfaßt die dem Arbeitsentgelt gleichgestellten sonstigen Einnahmen, die dem allgemeinen Lebensunterhalt zur Verfügung stehen, nicht dagegen zweckbestimmte Sozialleistungen, die einen besonderen Mehrbedarf abdecken.

 

Normenkette

RVO § 180 Abs 4 S 1 Fassung: 1977-06-27, § 176b; RKG § 119

 

Verfahrensgang

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 17.09.1979; Aktenzeichen S 3 (11) Kn 88/79)

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob für die Berechnung des Beitrags zur freiwilligen Krankenversicherung der Klägerin das ihr gewährte Wohngeld sowie Kindergeld als "sonstige Einnahmen zum Lebensunterhalt" zu berücksichtigen sind.

Nachdem die Ehe der Klägerin geschieden worden war und ihr Krankenversicherungsschutz im Wege der Familienhilfe damit endete, ist sie seit dem 15. Oktober 1977 freiwilliges Mitglied der knappschaftlichen Krankenversicherung ohne Anspruch auf Krankengeld. Auf der Grundlage des von dem früheren Ehemann der Klägerin gezahlten Unterhalts, seit dem 1. Juni 1978 in Höhe von 685,-- DM, belief sich der Beitrag zur knappschaftlichen Krankenversicherung auf monatlich 65,76 DM bei einem Beitragssatz von 9,60 vH. Unter Berücksichtigung des für den Sohn der Klägerin gezahlten Kindergeldes von 50,-- DM stufte die Beklagte laut Mitteilung vom 25. April 1979 die Klägerin neu ein. Die Beklagte ging nun von einem monatlichen Gesamteinkommen von 735,-- DM aus und erhöhte den Beitrag ab 1979-01-01 auf 70,56 DM. Mit Bescheid vom 17. Mai 1979 forderte sie von der Klägerin einen Beitrag, bei dessen Festsetzung sie außer dem Kindergeld auch das der Klägerin gewährte Wohngeld berücksichtigen werde. Der dagegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 1979).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verpflichtet, bei der Errechnung des von der Klägerin zu zahlenden Beitrags zur freiwilligen Krankenversicherung das ihr gezahlte Kindergeld und das Wohngeld nicht als Einkommen zugrunde zu legen. Beide Leistungen fielen nicht unter die "sonstigen Einnahmen zum Lebensunterhalt" iS des § 180 Abs 4 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO). Das folge aus einem Vergleich mit der Berechnung des Grundlohnes für versicherungspflichtig Beschäftigte, die regelmäßiges Arbeitsentgelt bezögen. Bei ihnen werde weder Kindergeld noch Wohngeld als Arbeitsentgelt in diesem Sinne aufgefaßt (Urteil vom 17. September 1979).

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 180 Abs 4 RVO sowie des § 44 Abs 6 der Satzung der Bundesknappschaft (Satzung). Der vom Gesetzgeber in § 180 Abs 4 RVO gewählte Begriff der "sonstigen Einnahmen zum Lebensunterhalt" gehe über die Legaldefinition des Gesamteinkommens in § 16 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB 4) hinaus, da hierunter alle Einnahmen zu verstehen seien, über die der Versicherte tatsächlich verfüge. Zu den Einnahmen zum Lebensunterhalt gehörten daher auch Kinder- und Wohngeld.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Klage

abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Weder Kinder- noch Wohngeld sind bei der Festsetzung des Beitrags zur freiwilligen knappschaftlichen Krankenversicherung der Klägerin zu berücksichtigen. Dabei kann dahingestellt bleiben, unter welchen Voraussetzungen die Beklagte eine - bindende - Beitragsfestsetzung ändern kann.

Die Klägerin war als geschiedener Ehegatte eines knappschaftlich Versicherten berechtigt, der knappschaftlichen Krankenversicherung freiwillig beizutreten (§ 15 Abs 1 Reichsknappschaftsgesetz - RKG - iVm § 176b Abs 1 Nr 1 RVO, § 40 Abs 2 Buchst a der Satzung). Anders als § 385 Abs 1 Satz 1 RVO, wonach die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung in Hundertsteln des Grundlohns zu erheben sind, können die Beiträge in der knappschaftlichen Krankenversicherung gemäß § 119 Satz 1 RKG in einem Bruchteil des Arbeitslohnes, Gehalts oder Grundlohnes oder in einem festen Satz bemessen werden. Die Beklagte erhebt die Beiträge der in § 40 der Satzung aufgeführten Versicherungsberechtigten in Vom-Hundert-Sätzen des Dreißigfachen Grundlohns (§ 148 Abs 4 der Satzung). Für freiwillig Versicherte gilt nach § 44 Abs 6 der Satzung in der vom 1. Juli 1978 an gültigen Fassung als Grundlohn der auf den Kalendertag entfallende Teil des Arbeitsentgelts und sonstiger Einnahmen zum Lebensunterhalt bis zu dem in § 180 Abs 1 Satz 3 der RVO festgesetzten Höchstbetrag. Diese Satzungsbestimmung entspricht § 180 Abs 4 Satz 1 RVO in der ab 1. Juli 1977 geltenden Fassung (Art 1 § 1 Nr 5 des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes -KVKG- vom 27. Juni 1977, BGBl I 1069). Sie ist ebenso wie die genannte Gesetzesbestimmung zu verstehen. Wenn die Beklagte - ungeachtet der ihr in § 119 Satz 1 RKG eingeräumten Gestaltungsfreiheit - die Beiträge der freiwillig Versicherten an den Grundlohn knüpft, dann ist sie über § 20 RKG mangels einer Sondervorschrift für die knappschaftliche Krankenversicherung an die Regelung des § 180 Abs 4 RVO gebunden. Dem wird in § 44 Abs 6 der Satzung Rechnung getragen.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in seiner Entscheidung vom 21. Oktober 1980 (BSGE 50, 243, 244 = SozR 2200 § 180 Nr 5) bereits dargelegt, daß das Gesetz nicht erläutert, was zu den "sonstigen Einnahmen zum Lebensunterhalt" iS des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO zählt. Auch das SGB 4 enthält insoweit keine Begriffsbestimmung. Wie der 3. Senat (aaO) aus den Gesetzesmaterialien, dem Wortlaut der Vorschrift, ihrer Zweckbestimmung und dem gesetzlichen Zusammenhang entnommen hat, erfaßt § 180 Abs 4 RVO dem Arbeitsentgelt gleichgestellten sonstigen Einnahmen, die dem allgemeinen Lebensunterhalt zur Verfügung stehen, nicht dagegen zweckbestimmte Sozialleistungen, die einen besonderen Mehrbedarf abdecken. Dieser Rechtsauffassung schließt sich der erkennende Senat an.

Schon der Wortlaut des Gesetzes verknüpft Arbeitsentgelt und "sonstige Einnahmen zum Lebensunterhalt". Die geltende Fassung des § 180 Abs 4 RVO geht auf einen Vorschlag des Bundestags-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zurück. Dieser verfolgte damit das Ziel, die Beiträge für Versicherungsberechtigte im Sinne der §§ 176 ff RVO und freiwillig Weiterversicherte (§ 313 RVO) zu harmonisieren (vgl BT-Drucks 8/338 Seite 60). Die bislang erfolgte Differenzierung zwischen dem Beitrag nach dem Gesamteinkommen der freiwillig Beigetretenen und den nach der bisherigen Lohnstufe freiwillig Weiterversicherten erschien dem Ausschuß nicht als sachgerecht. Er ging davon aus, daß die Beitragsbemessung notwendigerweise mit der Frage verknüpft ist, woraus der Versicherte seinen Lebensunterhalt bestreitet, weshalb als Maßstab das Arbeitsentgelt und die sonstigen Einnahmen zum Lebensunterhalt gewählt wurden.

Der für die Beitragsbemessung in der Krankenversicherung maßgebende Grundlohn ist für die Pflichtversicherten ihr Arbeitsentgelt (§ 180 Abs 1 RVO), wovon sie - jedenfalls regelmäßig und für den Arbeitnehmer charakteristischerweise - den Lebensunterhalt bestreiten. Hingegen geschieht dies bei freiwillig Versicherten vielfach nicht oder nicht nur aus Arbeitsentgelt. Deshalb mußte für sie der Grundlohn abweichend von den Pflichtversicherten bestimmt werden. Erkennbares Ziel des Gesetzgebers war es, für die Beitragsbemessung des freiwillig Versicherten dasjenige heranzuziehen, was der typischen Funktion des Arbeitsentgelts beim Pflichtversicherten entspricht. Somit boten sich die sonstigen Einnahmen an, die neben oder anstelle des Arbeitsentgelts den allgemeinen Lebensunterhalt normalerweise decken.

Zweckbestimmte Sozialleistungen haben indes in aller Regel die Aufgabe, einen bestimmten Teil des Lebensunterhalts sicherzustellen. Sie sind nicht geeignet, die allgemeine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Anspruchsberechtigten im Vergleich zu anderen Versicherten zu verbessern, weil sie lediglich einen besonderen Bedarf abdecken sollen. Zweckgebundene Leistungen in diesem Sinne können ihre Funktion nur dann erfüllen, wenn ihr Empfänger sie bestimmungsgemäß verwenden darf und sie nicht zur Deckung anderer Lebenshaltungskosten heranziehen muß (vgl die Rechtsprechung des 7. Senats des BSG zu § 138 Arbeitsförderungsgesetz -AFG-, SozR 4100 § 138 Nr 5; Urteil vom 21. Juli 1981 - 7 RAr 43/80 -).

Sowohl beim Wohngeld als auch beim Kindergeld handelt es sich um derartig zweckbestimmte Sozialleistungen. Sie sind deshalb dem Grundlohn eines freiwilligen Mitglieds ebensowenig zuzurechnen wie dem Grundlohn eines Pflichtmitglieds der gesetzlichen Krankenversicherung.

Das Wohngeld - obwohl keine Leistung der Sozialhilfe - wird wegen einer besonderen Bedürftigkeit gewährt. Es ist zweckgebunden und an einheitlichen Bedarfsmaßstäben ausgerichtet. Seine Einbeziehung in den für die Beitragshöhe maßgebenden Grundlohn hätte eine Ungleichbehandlung zur Folge, die weder mit der Funktion des Wohngeldes vereinbar wäre noch dem Prinzip der Solidargemeinschaft in der Krankenversicherung entsprechen würde: Der Wohngeldempfänger, der die Leistung nicht neben Arbeitsentgelt, sondern bei gleicher Bedarfslage neben sonstigen - unzureichenden - Einnahmen erhält, müßte eine wirtschaftliche Kürzung des Wohngeldes infolge des höheren Beitrags zur freiwilligen Krankenversicherung hinnehmen.

Die gleichen Erwägungen gelten auch für das Kindergeld. Der maßgebende Gesichtspunkt für die Kindergeldregelung ist nicht die Entlastung des Unterhaltspflichtigen, sondern die Begünstigung der Familie, in der das Kind dauernd lebt.

Diejenigen, die dem Kind eine Heimstatt bieten und sich um sein persönliches Wohl sowie um seine Erziehung kümmern, sollen für die damit verbundenen finanziellen, mindestens aber persönlichen Opfer einen Ausgleich von der Gesellschaft erhalten (so BSG in SozR 5870 § 2 Nrn 11 und 21). Einer familiär bedingten Mehrbedarfssituation soll also Rechnung getragen werden. Dabei liegen offensichtliche Ungleichbehandlungen zwischen freiwilligen und Pflichtversicherten weder im Plan des Gesetzgebers noch existiert im Rahmen des § 180 Abs 4 RVO ein verständiger Grund, sie trotz des in der gesetzlichen Krankenversicherung herrschenden Solidaritätsprinzips in Kauf zu nehmen. Würde im vorliegenden Fall das Kindergeld an den Vater des Kindes - einen Pflichtversicherten - ausgezahlt, dann könnte es für die Beitragsbemessung in der Krankenversicherung nicht herangezogen werden (§ 180 Abs 1 RVO). Grundsätzlich hat für Kinder die Familienkrankenhilfe ohne zusätzliche oder erhöhte Beitragsleistung einzustehen (vgl BSGE 37, 127, 129). Dieses Prinzip des gesetzlichen Krankenversicherungsschutzes läßt es nicht zu, das Kindergeld der Pflichtversicherten und der freiwillig Versicherten bei der Beitragsbemessung unterschiedlich zu behandeln.

Nach alledem mußte die unbegründete Sprungrevision der Beklagten zurückgewiesen werden (§ 170 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1656598

NJW 1982, 2144

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