Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten über den Beginn der Waisenrente des Klägers.

Der Versicherte, der Dreher W… S…, verunglückte am 12. August 1971 tödlich. Am 3. November 1971 gebar die Witwe des Versicherten den Sohn Sascha, den Kläger.

Die Beklagte gewährte dem Kläger Halbwaisenrente ab 1. Dezember 1971 (Bescheid vom 11. Februar 1972). Von demselben Tag an erhält die Witwe erhöhte Witwenrente. Auf die Klage des Klägers hat das Sozialgericht (SG) Lüneburg die Beklagte verurteilt, dem Kläger zusätzlich für die Zeit vom 3. bis einschließlich 30. November 1971 Halbwaisenrente nach dem verstorbenen Versicherten zu gewähren; es hat die Berufung zugelassen (Urteil vom 26. Juli 1973). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 20. März 1974).

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 1290 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die Beklagte beantragt,die Urteile des LSG vom 20. März 1974 und des SG vom 26. Juli 1973 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 12. April 1972 abzuweisen.

Der Kläger ist nicht vertreten.

Beide Beteiligte haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen. Beide Vorinstanzen haben zutreffend dem Kläger die Waisenrente auch für die Zeit vom 3. bis 30. November 1971 zuerkannt.

Der Beklagte stellt nicht in Abrede, daß dem Kläger nach dem Tod des Versicherten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres bei - wie hier - erfüllter Wartezeit (§ 1263 Abs. 1, 2 RVO) Waisenrente nach § 1267 Abs. 1 Satz 1 RVO zusteht. Indes sieht sie sich gehindert, diese Hinterbliebenenrente bereits vom Tage der Geburt des Klägers (3. November 1971) an zu gewähren. Sie hält den auch vom Verband der Rentenversicherungsträger sowie im Schrifttum (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III, S. 712l - 43. Nachtrag - Februar 1975; VerbKomm., Bd. II - Stand: 1. Juli 1973 - § 1290 Anm. 5; Theuerkauff, Rentenbeginn, Mitt. LVA Berlin 1972, 125, 130) vertretenen Standpunkt für gerechtfertigt, daß ein im Zeitpunkt des Todes des Versicherten noch nicht, vielmehr erst danach geborenes Kind (nachgeborenes Kind) seine Waisenrente erst vom Ablauf des Geburtsmonats an beanspruchen könne. Sie verweist auf den Grundsatz des § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO, wonach auch bei Waisenrente die Rente vom Ablauf des Monats an zu gewähren sei, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Ein nachgeborenes Kind sei im Zeitpunkt des Todes des Versicherten noch nicht rechtsfähig, (§ 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -), so daß im Zeitpunkt des Versicherungsfalles, also des Todes des Versicherten, außerdem alle sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung der Waisenrente erfüllt sein müßten. Das sei hier aber nicht so, weil die Waise zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren gewesen sei. Würden aber einzelne Voraussetzungen erst später erfüllt, verzögere sich der Rentenbeginn bis zum Ablauf des Monats, in dem erstmalig alle Voraussetzungen erfüllt seien.

Demgegenüber entnimmt das LSG sein Ergebnis dem 1290 Abs. 1 Satz 3 RVO. Danach ist Hinterbliebenenrente vom Zeitpunkt des Todes des Versicherten an zu gewähren, wenn - wie hier- für den Versicherten im Sterbemonat keine Rente zu zahlen war. Auch im Falle eines nachgeborenen Kindes sei die Vorschrift des Satzes 3 und nicht die des Satzes 1 des § 1290 Abs. 1 RVO anzuwenden. Die Geburt eines Kindes sei nämlich kein ausdrücklich gesetzlich vorgeschriebenes Tatbestandsmerkmal. Das Gesetz setze die Geburt als natürlichen Vorgang stillschweigend voraus.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist zutreffend. Die Vorschrift des § 1290 Abs. 1 RVO regelt den Beginn der jeweiligen Rentengewährung in Satz 1 dem Grundsatz nach: Die Rentengewährung ist grundsätzlich daran geknüpft, daß sämtliche Rentenvoraussetzungen erfüllt sind. Vom Ablauf des Monats, in dem die Voraussetzungen erfüllt sind, ist die Rente zu gewähren. Satz 3 des § 1290 Abs. 1 RVO trifft davon abweichend für Hinterbliebenrenten eine besondere Regelung, wenn für den Versicherten im Sterbemonat keine Rente zu zahlen war. War im Sterbemonat dem versicherten Rente zu zahlen, gilt der Grundsatz des § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO. In einem solchen Fall ist die Waisenrente erst vom Ablauf des Monats an zu gewähren, in dem die Voraussetzungen erfüllt sind. Daraus läßt sich als Richtschnur für den Beginn einer Hinterbliebenenrente folgendes entnehmen: Das Gesetz will dem Hinterbliebenen auf jeden Fall aus der Rentenversicherung des Versicherten eine hinreichende wirtschaftliche Sicherung gewährleisten. Dies geschieht auf verschiedene Weise. Zum einen ist an den Fall gedacht, in dem der Versicherte für den Sterbemonat bereits Rente erhalten hat. Der Hinterbliebene wird dann auf den im Todeszeitpunkt noch nicht verbrachten Rententeil verwiesen. War aber - dies ist der andere Falltyp - dem Versicherten im Sterbemonat keine Rente zu zahlen, wird die wirtschaftliche Sicherung der Waisen dadurch erzielt, daß die Hinterbliebenenrente bereits in dem Zeitpunkt des Todes an zu gewähren ist. So ist sichergestellt, daß den Hinterbliebenen, deren Unterhalt in der Regel bis zum Todeszeitpunkt des Versicherten von diesem bestritten worden ist, vom Todeszeitpunkt an nahtlos Unterhaltsmittel gewährt werden (BSG SozR Nr. 17 zu § 1290 RVO, Bl. Aa 17). Beiden Regelungsfällen zum Rentenbeginn ist also der gemeinsame Leitgedanke eigen, den Hinterbliebenen jedenfalls vom Todeszeit an angemessen wirtschaftlich zu sichern. Insoweit verfolgt das Gesetz einen sozialen Zweck aus der Erwägung, daß der Versicherte, wenn er nicht gestorben wäre, regelmäßig dem rentenberechtigten Hinterbliebenen Unterhalt gewährt haben würde. Die Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung des Versicherten soll an die Stelle der durch den Tod des Versicherten erloschenen Unterhaltsverpflichtung (§1615 Abs. 1 BGB) treten (sog. Unterhaltsersatzfunktion). Freilich geht bei alledem § 1290 Abs. 1 Satz 3 RVO von der in der Natur der Sache liegenden und daher selbstverständlichen Annahme aus, daß der Berechtigte im Zeitpunkt des Todes des Versicherten lebt. In § 1290 RVO fehlt die Regelung über den Beginn der Waisenrente für Kinder, die erst nach dem Tod des Versicherten geboren werden, im Zeitpunkt des Todes bereits erzeugt und daher als Leibesfrucht (naciturus) vorhanden waren. Insofern besteht eine Regelungslücke. Es ist sie durch entsprechende Anwendung des § 1290 Abs. 1 Satz 3 RVO zu schließen. Dazu ist das Gericht deshalb befugt, weil kein sachlicher Grund dafür ersichtlich ist, den Fall der nachgeborenen Waise im Hinblick auf den Rentenbeginn anders als den Regelfall zu behandeln, in dem die Waise im Zeitpunkt des Todes des Versicherten lebt. Gerade auch auf die nachgeborene Waise trifft der oben herausgestellte Leitgedanke der nahtlosen wirtschaftlichen Sicherung durch die Rentenbeginnregelung bei Hinterbliebenen durch § 1290 Abs. 1 Satz 3 RVO zu. Der Gedanke der nahtlosen wirtschaftlichen Sicherstellung würde indes verlassen werden, wenn die Waisenrentenzahlung an eine nachgeborene Waise nicht entsprechend § 1290 Abs. 1 Satz 3 RVO, sondern nach der Grundregel des § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO erst mit dem Ablauf des Geburtsmonats beginnen würde. Der nachgeborene Waise ist deshalb die Waisenrente vom Tage ihrer Geburt an zu zahlen.

Bei dieser Begründung bedarf es nicht der von Söchting ("Zum Rentenbeginn der nachgeborenen Waise", SozVers 1971, 7) angestellten Erwägungen, insbesondere nicht der Annahme eines latent mit dem Tod des Versicherten entstandenen Grundanspruchs, der mit dem darauf folgenden Tag der Geburt der Waise zum Auszahlungsanspruch erstarken soll (a.a.O., S. 8, 9). Ebensowenig ist es erforderlich, auf Rechtsvorschriften des bürgerlichen Rechts, die die Leibesfrucht betreffen (§§ 844 Abs. 2, 1615o Abs. 1 Satz 2, 1923 Asb. 2, 1963, 2141 BGB), und die dadurch praktisch geschaffene Rechtsfigur der beschränkten Rechtsfähigkeit der Leibesfrucht (vgl. Palandt/Danckelmann, BGB, 34. Aufl. 1975, § 1 Anm. 3; Erman/ Westermann, BGB, 5 Aufl. 1972, § 1 Anm. 2; Soergel/Siebert/Schultze-von Lasaulx, BGB, Bd. 1, 10. Aufl. 1967, § 1 Anm. 4 ff) zurückzugreifen und sie zur Begründung heranzuziehen.

Dem Ergebnis stehen auch die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 28. September 1967 - 12 RJ 568/63 - (BSG SozR Nr. 12 zu § 1290 RVO) und des 1. Senats vom 3. April 1973 - 1RA 235/72 - (BSG SozR Nr. 17 a.a.O.) nicht entgegen. Der erkennende Senat hat in dem genannten Urteil entschieden, der Beginn der Waisenrente richte sich wie bei anderen Hinterbliebenrenten grundsätzlich unabhängig vom Rentenantrag nach § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO (a.F.) und sei deshalb zum folgenden Monatsersten anzusetzen. Mit Recht hat schon das Berufungsgericht darauf hingewiesen, daß dieser Entscheidung die alte Fassung des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 23. Februar 1957 (BGBl. I 45) zugrunde lag. Auf den Fall des Klägers ist diese Gesetzesfassung nicht anzuwenden. Es gilt vielmehr die mit Wirkung vom 1. Januar 1968 in Kraft getretene Neufassung durch Art 1 § 1 Nr. 25 Buchst. a Finanzänderungsgesetzes vom 21. Dezember 1967 - FinÄndG 1967 - (BGBl. I 1259). Diese Fassung galt bis zum 31. Dezember 1972. Daher ist die zum früheren Recht ergangene Entscheidung des erkennenden Senats außer Betracht zu lassen. Der 1. Senat hat in seinem Urteil vom 3. April 1973 - 1 RA 235/72 - (SozR Nr. 17 zu § 1290 RVO) ausgesprochen, daß eine Waisenrente nach § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO in der auch hier maßgeblichen Fassung des FinÄndG 1967 mit Ablauf des Monats beginnt, in dem die Berufsausbildung begonnen hat, wenn eine Waise nach Vollendung des 18. Lebensjahres und nach Ablauf des Sterbemonats des Versicherten ihre Berufsausbildung aufgenommen hat und ihr erstmalig nach § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO Waisenrente zu gewähren ist. Der 1. Senat hat dort maßgeblich auf die Aufnahme der Berufsausbildung der Waise abgehoben. Er hat festgestellt, daß diese Leistungsvoraussetzung für die Waisenrente im Zeitpunkt des Todes des Versicherten nicht erfüllt war, vielmehr erst danach erfüllt wurde. Damit unterscheidet sich jener Fall wesentlich von dem des Klägers. In dem vom 1. Senat entschiedenen Fall war die der Natur der Sache nach zu verlangende Existenz der Waise im Todeszeitpunkt des Versicherten gegeben. Der Fall des Klägers liegt aber insoweit anders, weil dieser im Zeitpunkt des Todes des Versicherten noch nicht lebte. Zu den "Voraussetzungen" i.S. des § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO gehört zwar die Aufnahme der Schul- oder Berufsausbildung, nicht aber die unabdingbare Naturgegebenheit, daß die Waise überhaupt lebt. Wegen des grundsätzlichen Unterschieds des hier zu entscheidenden Falls gegenüber dem vom 1. Senat entschiedenen Fall ist der Rückgriff auf § 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO ausgeschlossen.

Nach allem stand dem Kläger bereits von seiner Geburt (3. November 1971) an die Waisenrente zu. Das Berufungsgericht hat daher die Beklagte zu Recht verurteilt, dem Kläger auch für die Zeit vom 3. bis 30. November 1971 die Waisenrente zu gewähren.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518790

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