Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen hat.

Die 1951 geborene Klägerin leidet an einer frühkindlichen Hirnschädigung nach Meningitis. Einen Beruf hat sie nicht erlernt. Seit Juni 1970 war sie mit kurzer Unterbrechung versicherungspflichtig beschäftigt; seit Februar 1971 arbeitete sie als Reinigungskraft an fünf Tagen wöchentlich zwischen 25 und 40 Stunden bei der Grenzschutzverwaltung . Dabei war sie auf die Beaufsichtigung durch ihre Mutter angewiesen, die bei demselben Arbeitgeber ebenfalls als Reinigungskraft tätig war. Ihre Arbeitsleistung entsprach im wesentlichen der Arbeitsleistung ihrer Mutter; bezahlt wurde sie nach Lohngruppe VIII MTB II, was nach Auskunft des Arbeitgebers auch leistungsgerecht war. Im September 1985 schied die Mutter aus dem Erwerbsleben aus; seitdem arbeitet auch die Klägerin nicht mehr und ist arbeitslos gemeldet. Bis zu diesem Zeitpunkt waren für sie 180 Monate Pflichtbeiträge zur Arbeiterrentenversicherung entrichtet worden. Das Arbeitsamt B bewilligte ihr mit Bescheid vom 22. September 1987 Arbeitslosenhilfe ab 1. Oktober 1987.

Ihren am 15. September 1986 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17. Oktober 1986 ab, weil die Klägerin zwar seit 1970 erwerbsunfähig sei, aber nicht die erforderliche Wartezeit von 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles bzw. von 240 Kalendermonaten vor Antragstellung zurückgelegt habe. Dem dagegen von der Klägerin eingelegten Widerspruch gab die Beklagte nicht statt, sondern leitete ihn dem Sozialgericht (SG) als Klage zu.

Das SG verurteilte mit Entscheidung vom 30. Oktober 1987 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Okober 1986, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer ab 1. September 1986 zu zahlen. Auf die von der Beklagten hiergegen eingelegte Berufung änderte das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG ab und verurteilte die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Oktober 1986, der Klägerin auf ihren Antrag vom 17. September 1986 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit, ausgehend von einem am 1. Oktober 1985 eingetretenen Versicherungsfall bis 31. Dezember 1990 zu gewähren. Die weitergehende Berufung wies das Gericht zurück. In seiner Begründung ging das Gericht wie das SG davon aus, daß der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit am 1. Oktober 1985 eingetreten sei. Zwar habe die Klägerin nur unter der ständigen Aufsicht ihrer Mutter arbeiten können, so daß sie in der Tat schon vor Eintritt in das Erwerbsleben - zunächst erwerbsunfähig gewesen sei. Sie sei dies jedoch nur so lange gewesen, als sie keinen Arbeitsplatz innegehabt habe, auf dem sie unter den ihr möglichen, wenngleich betriebsunüblichen Bedingungen verwertbare Leistungen habe erbringen und mehr als nur geringfügiges Entgelt erzielen können. Die Klägerin habe einen ihrem Leistungsvermögen angepaßten Arbeitsplatz innegehabt. Zwar habe sie diesen Arbeitsplatz ausschließlich aus sozialen Erwägungen erhalten. Soziale Erwägungen bei der Einstellung eines leistungsgeminderten Versicherten seien jedoch von der vergönnungsweisen Beschäftigung zu unterscheiden. Das letzte sei bei der Klägerin nicht der Fall gewesen, da ihre Arbeitsleistung der Arbeitsleistung ihrer gleichfalls als Putzfrau beschäftigten Mutter entsprochen habe, so daß sie zu Recht ebenso entlohnt worden sei. Da die Klägerin in der Zeit von Juni 1970 bis September 1985 nicht erwerbsunfähig gewesen sei, seien die von ihr während dieser Zeit entrichteten Beiträge auf den im Oktober 1985 eingetretenen Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit anrechenbar. Allerdings stehe ihr nur ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit zu, da für sie begründete Aussicht bestehe, daß die Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit nach Absolvierung eines längerdauernden Arbeitstrainingsprogramms in einer Werkstatt für Behinderte behoben sein könne (Urteil vom 5. September 1988).

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt die Verletzung von § 1247 Abs. 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. September 1988 und das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 30. Oktober 1987 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend gemäß § 124 Abs. 2 SGG mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die kraft Zulassung durch das LSG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Mit dem Ausscheiden der Klägerin aus dem Beschäftigungsverhältnis bei der Grenzschutzverwaltung gemeinsam mit ihrer Mutter im September 1985 entstand für die Klägerin ein Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gegen die Beklagte. Das angefochtene Urteil ist daher zu Recht von einem am 1. Oktober 1985 bei der Klägerin eingetretenen Versicherungsfall ausgegangen.

Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhält gemäß § 1247 Abs. 1 RVO der Versicherte, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Erwerbsunfähig ist gemäß § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Gemäß § 1247 Abs. 3 RVO ist die Wartezeit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erfüllt, wenn

a) vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten oder

b) vor der Antragstellung insgesamt eine Versicherungszeit von 240 Kalendermonaten zurückgelegt ist.

Die Klägerin erfüllte die in diesen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Das LSG hat zutreffend ausgesprochen, daß die Klägerin in der Zeit von Juni 1970 bis Ende September 1985 nicht erwerbsunfähig gewesen ist. Die hierzu vom LSG getroffenen Feststellungen über Art, Umfang und Entlohnung der Tätigkeit der Klägerin sowie darüber, daß die Klägerin bei ihrer Arbeit auf die Beaufsichtigung durch ihre Mutter angewiesen gewesen sei, sind nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen angegriffen worden und daher gemäß § 163 SGG für das Revisionsgericht bindend. Der auf eine Verletzung des § 103 SGG gestützte Angriff der Revision gegen die Feststellung des LSG, der an die Klägerin gezahlte Lohn sei auch leistungsgerecht gewesen, ist nicht begründet. Das LSG brauchte sich von seinem Rechtsstandpunkt aus nicht gedrängt zu fühlen, insofern weitere Ermittlungen anzustellen, sondern konnte sich mit der Auskunft des Arbeitgebers vom 24. September 1987 begnügen, in der es hieß, daß der Lohn der Leistung entsprochen habe, die Verwendung jedoch ausschließlich aus sozialen Gründen erfolgt sei. Die Revision geht bei ihrer Rüge gedanklich davon als Grundsatz aus, daß es bei Behinderten, auch wenn sie durch tatsächliche Arbeitsleistung ein tarifvertraglich vorgesehenes Arbeitsentgelt erzielen, stets einer spezifischen Begründung bedarf, um die Erwerbsunfähigkeit auszuschließen. Es wird mit anderen Worten die Erwerbsunfähigkeit von Behinderten zum Regelfall genommen, von dem die Erwerbsfähigkeit von Behinderten lediglich den Ausnahmefall darstellt und daher nur bejaht werden kann, wenn für ihn sachlich entsprechend geeignete Argumente vorliegen. Ein derartiger rechtlicher Obersatz kann jedoch nicht anerkannt werden.

Für die Beantwortung der Frage, ob ein Behinderter i.S. von §§ 1246 Abs. 1, 1247 Abs. 1 RVO eine "versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" ausüben kann oder erwerbsunfähig ist, darf nicht von einer pauschalen, undifferenzierten Gleichsetzung von Behinderung und Erwerbsunfähigkeit als Grundnorm ausgegangen werden. Nicht jede körperliche, geistige oder seelische Behinderung hat ungeachtet ihrer speziellen Ausprägung in den drei Beziehungen zur Folge, daß die Leistungsfähigkeit des Behinderten auch in jedweder Hinsicht ausgeschlossen ist. In gleicher Weise, wie es in diesem Sinn 'totale' Behinderungen mit einem 'totalen' Leistungsausschluß gibt, sind Behinderungen anzutreffen, die sich demgegenüber als bloß 'partiell' darstellen und dementsprechend auch bloß eine 'partielle' Leistungsunfähigkeit zur Folge haben. Bei der zuletzt genannten Fallgruppe spielt die konkret vorhandene Einschränkung der Leistungsfähigkeit für bestimmte Arten von Beschäftigung oder Tätigkeit gar keine Rolle, weil diese andere Fähigkeiten und Fertigkeiten voraussetzen als die, die dem Behinderten wegen seiner Behinderung gerade fehlen. In Formulierung auf das positiv feststellbare Leistungsvermögen eines Behinderten heißt das, daß er trotz seiner individuellen Behinderung durchaus zu einzelnen, mehreren oder sogar auch vielen Erwerbstätigkeiten in gleicher Weise in der Lage sein kann, wie sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von nichtbehinderten Erwerbstätigen wahrgenommen werden. Die Aussage, ein Versicherter sei wegen Behinderung erwerbsunfähig, erfordert demzufolge stets eine Präzisierung in doppelter Hinsicht: Zum einen ist zu substantiieren, welche Behinderung vorliegt und in welchen Beziehungen diese das für eine Erwerbstätigkeit verwertbare Können einschränkt oder ausschließt. Zum anderen ist zwischen der so spezifizierten Behinderung und der Gruppe von Erwerbstätigkeiten, für die sich der Behinderte angeblich nicht eignet und die konkret zu bezeichnen sind, ein ursächlicher Zusammenhang dahin aufzuzeigen, daß diese Erwerbstätigkeiten gerade durch die Behinderung und nicht aus einem anderen, von der Behinderung unabhängigen Grund ausgeschlossen sind.

Geht der Behinderte bereits einer konkreten Arbeit nach, ist ergänzend darzutun, um welche Art von Arbeit es sich handelt und in welcher Weise und in welchem Umfang der Behinderte den Anforderungen dieser Arbeit genügt. Für die Argumentationsabfolge und daran anknüpfende Begründungslast ist hierbei zwischen zwei Fallgruppen zu unterscheiden: Deckt sich die Arbeit in ihren charakteristischen Merkmalen mit einem Tätigkeitstyp, der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anzutreffen ist und zu erwerbswirtschaftlichen Zwecken benutzt wird, so sind zur Rechtfertigung der Aussage, daß der Behinderte trotz dieser Arbeit erwerbsunfähig sei, besondere Gründe aufzuführen, die eine abweichende Beurteilung des behinderten Versicherten von einem nichtbehinderten Versicherten tragen, der die typgleiche Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichtet und nicht als erwerbsunfähig angesehen wird. Liegt dagegen eine Arbeit vor, die nach ihrer berufskundlichen Eigenart oder den äußeren Umständen ihrer Durchführung auf eine Behinderung zugeschnitten ist und im Katalog der erwerbswirtschaftlichen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes keine Entsprechung findet, so sind im Unterschied zum ersten Fall hier besondere Gründe darzutun, wenn der Behinderte nunmehr umgekehrt ungeachtet dieser speziellen Arbeit als erwerbsfähig i.S. des allgemeinen Arbeitsmarktes betrachtet werden soll. Angelpunkt der Beurteilung, ob ein Behinderter erwerbsfähig oder erwerbsunfähig ist, ist also die Feststellung, ob es sich bei der konkret verrichteten Arbeit um eine entgeltliche Tätigkeit zu Erwerbszwecken handelt oder nicht. Hierauf hat der erkennende Senat bereits mit Urteil vom 9. September 1983 - 5b RJ 90/82; SozR 2200 § 1247 Nr. 41 - hingewiesen. Er hat sich dort zugleich der Rechtsprechung des Großen Senats - GS - des Bundessozialgerichts - BSG - (s BSGE 30, 192, 195ff. = SozR Nr. 20 zu § 1247 RVO; BSGE 43, 75, 79 = SozR 2200 § 1247 Nr. 14) angeschlossen, nach der der Begriff Erwerbsfähigkeit eines Versicherten wirtschaftlich zu interpretieren ist, das heißt die Arbeitsleistung muß wirtschaftlich i.S. des Erzielens von "mehr als nur geringfügigen Einkünften" verwertbar sein. Bei vollschichtig tätigen Versicherten ist die Erwerbsunfähigkeit nicht schon dann gegeben, wenn sie in ihrer Arbeitsleistung qualitativ und quantitativ hinter dem Normalmaß zurückbleiben (GS des BSG BSGE 30, 201, 202). Seit Inkrafttreten des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl. I S. 1061) muß dies um so mehr gelten, als nach den in §§ 1 bis 3 und 8 des Gesetzes getroffenen Regelungen davon auszugehen ist, daß grundsätzlich auch ein Behinderter die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit verwerten und damit ein Arbeitsentgelt erzielen kann.

Keine Abweichung in der bezeichneten Begründungsweise bedingen die Fälle, in denen ein Behinderter eine Arbeit, die vom Typ her dem allgemeinen Arbeitsmarkt bekannt ist, unter Zuhilfenahme spezifischer, auf seine individuelle Behinderung zugeschnittener Mittel verrichtet. Sind diese Mittel geeignet, das beim Behinderten durch seine Behinderung hervorgerufene, gegenüber einem gleichartig tätigen Nichtbehinderten bestehende Defizit an Leistungsfähigkeit auszugleichen, so ist der Behinderte in dieser mittelunterstützten Arbeit grundsätzlich nicht anders einzustufen als ein Nichtbehinderter bei derselben Arbeitsart. Es macht hierbei keinen Unterschied, ob die verwendeten Mittel sachlicher, insbesondere technischer Art sind (z.B. Apparaturen zur Verstärkung der Seh-, Hör- oder Bewegungsfähigkeit, spezielle Ausgestaltung von Arbeitsplatz und Arbeitsmaschinen) oder ob sie personalen Charakter in dem Sinn haben, daß dem Behinderten eine zweite Person helfend zur Seite tritt (etwa ein Vorleser für Blinde, ein Begleiter für Gehbehinderte). Der mit einer solchen mittelunterstützten Arbeit erzielte sachliche Arbeitserfolg ist als wirtschaftliche Einheit zu betrachten, die dem Behinderten zuzurechnen ist, und kann nicht nach Anteilen in dem Sinne aufgespalten werden, daß ein bestimmter Prozentsatz dem Behinderten 'als solchen', das heißt isoliert von dem Ausgleichsmittel, zugute gebracht wird, der restliche prozentuale Anteil dagegen als Arbeitserfolg des Ausgleichsmittels betrachtet wird. Eine solche Aufspaltung widerspräche der Funktion der Ausgleichsmittel, die ja gerade darauf angelegt sind, das beim Behinderten vorhandene Leistungsdefizit zu überbrücken und ihn damit in seiner Leistungsfähigkeit auf das Normalmaß zu bringen. Das einem Behinderten für eine derartige mittelunterstützte Tätigkeit gezahlte Arbeitsentgelt macht hiervon keine Ausnahme. Es ist ebenfalls grundsätzlich als einheitlicher Verdienst des Behinderten anzusehen, der nicht nach seinem 'persönlichen' und einem bloß 'vermittelten' Anteil aufgespalten werden kann.

Nach den dargelegten Maßstäben ist die Erwerbsfähigkeit der Klägerin während der Zeit, in der für sie Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden, zu bejahen. Das LSG hat festgestellt, daß es sich bei der verrichteten Arbeit um eine Tätigkeit handelt, die dem allgemeinen Arbeitsmarkt bekannt ist, und bei der sowohl Arbeitszeit wie auch Arbeitsentgelt über der Geringfügigkeitsgrenze lagen. Das LSG ist zu Recht auch davon ausgegangen, daß die von ihm festgestellte Beaufsichtigung der Klägerin bei der Arbeit durch ihre Mutter keinen Ausschluß der Erwerbsfähigkeit bedeutete. Die Mutter war personales Ausgleichsmittel im oben genannten Sinn. Ihre Mitwirkung war darauf angelegt und auch dazu geeignet, das bei der Klägerin infolge ihrer Hirnschädigung vorhandene Leistungsdefizit in solcher Art und in solchem Umfang zu überbrücken, daß die Leistungsfähigkeit der Klägerin in dem Rahmen, wie sie für die von ihr verrichtete Tätigkeit erforderlich war, im Ergebnis als nicht eingeschränkt zu erachten ist. Wenn die Beklagte demgegenüber die Mitwirkung der Mutter sachlich als die Übernahme eines Teils der Arbeit der Klägerin betrachtet, so verkennt sie damit nicht nur die skizzierte Funktion der Mittel, deren sich Behinderte zum Ausgleich ihres Leistungsdefizits bedienen können. Sie legt damit vielmehr auch der vom LSG allein festgestellten "Beaufsichtigung" der Klägerin durch ihre Mutter einen anderen Sinn bei, als der Begriff Beaufsichtigung umfaßt. Denn Beaufsichtigung bedeutet eine Überwachung, Anleitung, gegebenenfalls auch Korrektur eines Arbeitsprozesses, nicht jedoch die Durchführung der betreffenden Arbeit an sich. Die von der Beklagten für richtig gehaltene Aufteilung des Arbeitsergebnisses in einen der Klägerin und einen der Mutter zurechenbaren Teil kann daher schon aus diesem Gesichtspunkt nicht für zutreffend gehalten werden.

Die Folge aus der Erwerbsfähigkeit der Klägerin in der Zeit von Juni 1970 bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben im September 1985 ist, daß die für sie während dieser Zeit entrichteten Sozialversicherungsbeiträge als wirksam entrichtete Beiträge i.S. von §§ 1246 Abs. 2a, 1247 Abs. 2a RVO anzusehen und demgemäß für die Erfüllung der Wartezeit nach § 1247 Abs. 3 RVO voll zu berücksichtigen sind. Das LSG hat infolgedessen zutreffend bejaht, daß die Klägerin die Wartezeit von 60 Kalendermonaten gemäß § 1247 Abs. 3 Buchst a RVO erfüllt hat.

Rechtsfehlerfrei hat das LSG schließlich auch noch als Voraussetzung für die Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente bejaht, daß die Klägerin mit ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben im September 1985 erwerbsunfähig wurde. Seine hierfür tragende Aussage, daß die Klägerin nicht in der Lage sei, lohnbringende Tätigkeiten ohne Aufsicht und Anleitung zu verrichten, ist nicht zu beanstanden. Mit dem Wegbleiben der Mutter als Aufsichtsperson entfiel für die Klägerin die Möglichkeit, ihr gesundheitlich bedingtes Leistungsdefizit in ausreichender Weise zu überbrücken. Die zunächst gegebene Erwerbsfähigkeit wurde also gewissermaßen durch einen 'Rückfall' auf das Leistungsniveau, das die Klägerin ohne Hilfsmittel hatte, in der Art und in dem Umfang reduziert, daß die Klägerin eine Erwerbstätigkeit, wie sie dem allgemeinen Arbeitsmarkt als Typ bekannt ist, nicht mehr ausüben konnte. Sie war damit erwerbsunfähig i.S. von § 1247 Abs. 2 RVO geworden. Daß das Defizit der Leistungsfähigkeit der Klägerin vielleicht wieder hätte ausgeglichen werden können, wenn ihr eine andere Aufsichtsperson zur Seite gestellt worden wäre, hat auf diese Beurteilung keinen Einfluß. Solange eine solche Begleitperson fehlte, war die Klägerin erwerbsunfähig.

Einer Stellungnahme zur zeitlichen Beschränkung der gewährten Versichertenrente bedarf es nicht. Das Urteil des LSG ist von der Klägerin nicht angegriffen worden.

Nach alledem mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518199

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