Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 12.12.1989)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 1989 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die klagende Berufsgenossenschaft (BG) verlangt von der beklagten Bundesknappschaft die Erstattung der pauschal vereinbarten Behandlungskosten des Durchgangsarztes in Höhe von 34,– DM, weil die behandlungsbedürftige Erkrankung des Versicherten nicht Folge eines Arbeitsunfalles sei.

Der in einem knappschaftlichen Betrieb beschäftigte H. … H. (H.) war bei der Beklagten gegen Krankheit und bei der Klägerin gegen Arbeitsunfall versichert. Am 18. April 1985 wurde er bei Arbeiten auf dem Schrottplatz des Unternehmens von einem Insekt gestochen. Die BG trug die Kosten der ärztlichen Behandlung des infizierten Insektenstiches.

Die Beklagte weigerte sich, die Behandlungskosten in Höhe des vereinbarten Pauschbetrages von 34,– DM zu übernehmen, weil die Klägerin zur Gewährung der ärztlichen Behandlung verpflichtet gewesen sei; es habe sich nämlich bei dem Insektenstich um einen Arbeitsunfall gehandelt.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Oktober 1988). Der Versicherte habe einen Arbeitsunfall erlitten. Ein Insektenstich am Arbeitsplatz stelle kein zufälliges Ereignis dar. Vielmehr sei der notwendige Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall gegeben.

Dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 12. Dezember 1989 abgeändert und die Beklagte zur Zahlung der begehrten Erstattungsleistung verurteilt. Das LSG hat die Revision zugelassen. Nach Auffassung des LSG hat der Versicherte den Insektenstich zwar bei einer versicherten Tätigkeit erlitten; dieser sei auch ein Unfall. Es fehle jedoch ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Arbeit und dem Insektenstich. H. sei bei seiner Tätigkeit nicht in erhöhtem Maße der Gefahr ausgesetzt gewesen, von einem Insekt gestochen zu werden. Insbesondere sei auch das Grundstück, auf dem der Unfall sich ereignete, nicht geeignet gewesen, in besonderem Umfang Insekten anzulocken. Als wesentliche Ursache im Sinne der im Unfallrecht geltenden Kausalitätslehre könnten nur solche Umstände angesehen werden, die nach der Auffassung des praktischen Lebens in einem wesentlichen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit gestanden hätten. Wollte man eine andere Auffassung vertreten, so würde auch eine betriebliche Gelegenheitsursache zur Bejahung eines Arbeitsunfalles führen.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Zwar erstrecke sich der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung auf alle im Betrieb vorhandenen Gefahren, denen der Versicherte durch seine Tätigkeit ausgesetzt ist. Dazu gehörten auch die sogenannten Gefahren des täglichen Lebens. Ein Arbeitsunfall verlange keine dem Unternehmen oder der versicherten Tätigkeit eigentümliche Unfallgefahr. Eine Gefahr des täglichen Lebens sei jedoch dann unfallversicherungsrechtlich unbeachtlich, wenn der durch sie herbeigeführte Unfall sich auch ohne die Betriebstätigkeit zu derselben Zeit und in derselben Art ereignet haben würde. Derartige Feststellungen habe das Berufungsgericht nicht getroffen. Demzufolge sei davon auszugehen, daß die versicherte Tätigkeit eine wesentliche Ursache für den Insektenstich des Versicherten gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 1989 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Dortmund vom 5. Oktober 1988 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Überzeugung hat der Versicherte keinen Arbeitsunfall erlitten. Zwar sei H. im Unfallzeitpunkt einer versicherten Tätigkeit nachgegangen. Es fehle jedoch an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen ihr und dem Unfallereignis. Als Unfallursache kommen nur diejenigen Bedingungen in Betracht, die im Verhältnis zu anderen Ursachen nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Auch sogenannte Unfälle des täglichen Lebens könnten Arbeitsunfälle sein. Allerdings sei bei solchen Unfällen zu prüfen, ob das Unfallereignis nach vernünftigem Ermessen durch die vom Betrieb geschaffenen oder von ihm beeinflußten Bedingungen herbeigeführt worden seien. Die mit der Beschäftigung zusammenhängenden Gegebenheiten müßten erheblich dazu beigetragen haben, den Versicherten in die Lage zu bringen, in der das schädigende Ereignis wirksam geworden sei. Die Auffassung, Unfälle des täglichen Lebens, die sich im betrieblichen Bereich ereigneten, stellten nur dann keine Arbeitsunfälle dar, wenn der Versicherte mit Wahrscheinlichkeit auch ohne die Tätigkeit denselben Schaden zu derselben Zeit erlitten hätte, sei mit der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätstheorie nicht zu vereinbaren. Im vorliegenden Falle fehle es an einer besonderen Beziehung der beruflichen Tätigkeit des Versicherten zu dem erlittenen Insektenstich.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Es hat, weil dies aus seiner Rechtsansicht nicht notwendig war, nicht alle für die endgültige Entscheidung des Rechtsstreits erforderlichen Tatsachenfeststellungen getroffen.

Der Durchsetzung des geltend gemachten Anspruchs steht § 110 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB X) nicht von vornherein entgegen. Nach dieser Vorschrift ist die Kostenerstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsanspruch im Einzelfall weniger als 50,– DM beträgt. Zwar verlangt die Klägerin lediglich 34,– DM, also weniger als die gesetzlich bestimmte Mindestsumme. Dieser Betrag entspricht der Verwaltungsvereinbarung über die Pauschalierung des Erstattungsanspruchs nach § 105 SGB X für die Tätigkeit des Durchgangsarztes bei kassenärztlicher Behandlung. Indessen ist mit „Erstattungsanspruch im Einzelfall” iS von § 110 Satz 2 SGB X nicht die Einzelforderung gemeint. Vielmehr sind schon feststehende Einzelbeträge und noch zu erwartende Erstattungsforderungen, die auf demselben Versicherungsfall beruhen, zusammenzurechnen (Entscheidung des Senats: SozR 1300 § 110 Nr 1). Demgemäß wäre der geltend gemachte Anspruch nur dann ausgeschlossen, wenn die Klägerin für den fraglichen Versicherungsfall nur erstattungsfähige Gesamtkosten von unter 50,– DM aufgewendet hätte. Dies wird das LSG noch festzustellen haben.

Im übrigen ist die Ausschlußfrist des § 111 SGB X nicht verstrichen. Die Klägerin hatte den streitigen Anspruch bereits im Mai 1985 gegenüber der Beklagten schriftlich geltend gemacht.

Der klagende Träger der Unfallversicherung macht einen Erstattungsanspruch nach § 105 SGB X geltend. Dieses Begehren ist nur begründet, wenn er die aus Anlaß des Insektenstiches gewährte ärztliche Behandlung als unzuständiger Leistungsträger erbracht hat. Diese Voraussetzung wiederum ist erfüllt, wenn der Insektenstich kein Arbeitsunfall war; denn die Klägerin ist für die Gewährung von Heilbehandlung nur zuständig, wenn eine der bei ihr versicherten Personen einen Arbeitsunfall iS von § 548 Reichsversicherungsordnung (RVO) erleidet.

Die Frage, ob es sich bei dem Insektenstich am 18. April 1985 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat, läßt sich anhand der Feststellungen in dem angefochtenen Urteil nicht beantworten. Zutreffend gehen die Vorinstanzen davon aus, daß der Versicherte einen Unfall erlitt. Diese Gerichte und die Verfahrensbeteiligten nehmen auch zu Recht an, daß der Beschäftigte in dem Unfallzeitpunkt grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand; denn er erledigte Tätigkeiten im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO). Erleidet – wie hier eine versicherte Person bei ihrer Tätigkeit einen Unfall, so besagt dies allein allerdings noch nicht, daß ein Arbeitsunfall vorliegt; es genügt nämlich nicht, daß der Versicherte sich im Unfallzeitpunkt aus betrieblichen Gründen an der Unfallstelle befand. Vielmehr ist über diesen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang hinaus erforderlich, daß zwischen der erledigten Tätigkeit und dem Unfall ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang im Sinne der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung besteht. Dieser Zusammenhang ist gegeben, wenn die erledigte Tätigkeit angesichts der sonstigen vorhandenen Ursachen für den konkreten Unfall in auffälligerweise wirksam geworden ist. Die versicherte Tätigkeit muß – ggf neben weiteren Ursachen – in ihrer Wirksamkeit dem Unfall besonders nahestehen, ihn „wesentlich” herbeigeführt haben. Sind die sonstigen Ursachen – hier: für den Insektenstich – dagegen von derart überragender Bedeutung, daß ihnen gegenüber die versicherte Tätigkeit in ihrer Wirksamkeit in den Hintergrund tritt, so fehlt es an dem erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem hier interessierenden Unfall.

Gegenstand der Kausalitätslehre in der gesetzlichen Unfallversicherung ist demgemäß ein naturwissenschaftlich erklärbares Geschehen. Für Wirkungen in der Außenwelt gibt es unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten niemals eine einzige Ursache. Vielmehr bringt erst ein Bündel von Ursachen das jeweilige Erscheinungsbild der Umwelt hervor. Ist die Frage zu beantworten, ob eine versicherte Tätigkeit für einen bestimmten Unfall im Sinne der beschriebenen Kausalitätsnorm ursächlich geworden ist, so muß aufgrund der für den konkreten Unfall sicher festgestellten (BSGE 61, 127, 130; BSG SozR 2200 § 548 Nr 84) Ursachen eine Abwägung vorgenommen werden (vgl zum Ganzen BSGE 12, 247, 253; 48, 224, 226; 61, 127, 128/129; 62, 220, 222/223 = SGb 1988, 340 mit zustimmender Anmerkung von Wolber; Ricke, BG 1982, 356 ff; Sprang, BG 1989, 144, 146; Watermann, BG 1990, 99/100). Diese Kausalitätsnorm hat das LSG in dem angefochtenen Urteil verletzt. Es hat nicht festgestellt, welche Ursachen zusammen den Wespenstich verursacht haben, und infolgedessen hat es keine Abwägung zwischen verschiedenen Ursachen unter dem Gesichtspunkt ihrer quantitativen Wirksamkeit getroffen. Vielmehr hat das LSG überhaupt nur die versicherte Tätigkeit als Ursache für den Insektenstich am 18. April 1985 in Betracht gezogen. Dies war unrichtig. Außerdem erscheint ein solches Vorgehen nicht folgerichtig; denn wenn überhaupt nur eine einzige Ursache an der Gestaltung der Wirklichkeit beteiligt gewesen wäre, so könnte vernünftigerweise nicht davon gesprochen werden, daß sie unbeachtlich gewesen sei. Andernfalls bliebe offen, wie ein Unfall überhaupt zustandegekommen sein sollte bzw welche Bedingung den Unfall in Wirklichkeit hervorgerufen hat.

Das LSG wird daher festzustellen haben, welche Ursachen für den fraglichen Unfall am 18. April 1985 erkennbar wirksam geworden sind. Solche Ursachen, welche sicher feststehen, sind alsdann unter dem Gesichtspunkt ihrer naturwissenschaftlichen Wirksamkeit zu überprüfen, und es ist in diesem Zusammenhang abzuwägen, ob eine oder mehrere von ihnen dem eingetretenen Unfall besonders nahestehen. Gehört die versicherte Tätigkeit, welche im Unfallzeitpunkt verrichtet wurde, zu diesen wesentlichen Bedingungen, so hat der Versicherte am 18. April 1985 einen Arbeitsunfall erlitten (vgl zB BSG SozR 2200 § 548 Nr 75).

Das angefochtene Urteil gibt zu folgenden weiteren Ausführungen Anlaß: Soweit das LSG darin zum Ausdruck bringt, die Betriebstätigkeit sei nur dann eine wesentliche Bedingung im Sinne der dargelegten Kausalitätsnorm, wenn von ihr eine erhöhte Gefahr für die Entstehung des Unfalles ausgegangen sei, vermag der erkennende Senat dem nicht zu folgen. Abgesehen davon, daß diese Auffassung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht entspricht (vgl zB SozR 2200 § 548 Nr 75), kann die betriebliche Tätigkeit beispielsweise auch dann Ursache für einen konkreten Unfall werden, wenn die Unfallgefahr nicht von der Tätigkeit selbst, sondern von der Unvorsichtigkeit oder Unerfahrenheit des Versicherten ausgeht. Dies wird in Fällen der sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr besonders deutlich (s zB BSG SozR 2200 § 548 Nr 60 mwN). Zutreffend hat das SG demgegenüber herausgestellt, daß nach der herrschenden Rechtsprechung und im Schrifttum auch gegenüber den sogenannten Gefahren des täglichen Lebens Versicherungsschutz besteht (vgl zB BSG SozR 2200 § 548 Nr 75 und Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl 1989, S 480 Buchst o mit umfangreichen Nachweisen und S 479 Buchst f; dies verkennt LSG NRW BG 1970, 116, indem es anstelle der naturwissenschaftlich begründbaren Kausalität einen sogenannten inneren ursächlichen Zusammenhang fordert).

Nach Auffassung des erkennenden Senats stimmt ferner die in dem angefochtenen Urteil enthaltene Definition der sogenannten Gelegenheitsursache mit der oben dargelegten Kausalitätsnorm nicht überein. Bei den rechtserheblichen Ursachen im Sinne der Kausalitätsnorm geht es stets um tatsächliche Vorgänge (zB BSG USK 74194), also um Verläufe, welche vorhanden sind. Hypothetische (angenommene) Ursachen scheiden daher von vornherein aus der Betrachtung aus (vgl zB BSGE 61, 127, 130; 63, 277, 280; BSG SozR 2200 § 548 Nr 84). Sie sind an der Entstehung eines Unfalls nicht beteiligt. Sind aber solche hypothetischen Ursachen bei der Anwendung der Kausalitätsnorm in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht rechtserheblich, so können sie die tatsächlich vorhandenen Ursachen für einen Unfall nicht aus dem Wege räumen. Das aber geschieht in dem angefochtenen Urteil, weil darin als Gelegenheitsursache solche Bedingungen angesehen werden, welche mit Wahrscheinlichkeit im Unfallzeitpunkt auf dieselbe Weise auch bei Erledigung einer nichtversicherten Tätigkeit zu dem Unfall geführt haben würden. Damit dominiert ein gedachter Ursachenverlauf, also eine hypothetische Ursachenkette, über die als tatsächlich vorhanden festgestellten Bedingungen. Dies steht mit der geltenden Kausalitätsnorm nicht im Einklang. Gedachte (hypothetische) Ursachen sind rechtsunerheblich und dürfen daher bei der Anwendung der Kausalitätsnorm nicht in die Betrachtung einbezogen werden, auch nicht auf dem Umweg über die Definition des Begriffes der Gelegenheitsursache.

Das LSG wird die fehlenden Feststellungen zu treffen und alsdann abzuwägen haben, ob die versicherte Tätigkeit für den Unfall am 18. April 1985 kausal war, oder ob andere Bedingungen die Wirksamkeit der versicherten Tätigkeit derart in den Hintergrund stellen, daß sie wegen ihrer geringen Wirkung für den eingetretenen Unfall praktisch außer Betracht bleiben muß (vgl zur Bedeutung eines Insektenstiches im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung ua LSG Baden-Württemberg HV-Info 16/1987; SG Reutlingen 1989, 935; Brackmann aaO; Wallerath NJW 1971, 228, 231).

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

BB 1991, 280

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