Leitsatz (amtlich)

1. Zum Begriff "Erstattungsanspruch im Einzelfall" iS von § 110 S 2 SGB 10.

2. Für die Anwendung der Ausschlußnorm des § 110 S 2 SGB 10 sind schon feststehende Einzelbeträge und noch zu erwartende Erstattungsforderungen, die auf demselben Versicherungsfall beruhen, zusammenzurechnen.

 

Normenkette

SGB 10 § 110 S 2 Fassung: 1982-11-04

 

Verfahrensgang

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 15.08.1985; Aktenzeichen S 15 Kr 1265/85)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) verpflichtet ist, dem klagenden Gemeindeunfallversicherungsverband 11,82 DM zu erstatten.

Der Kläger ist Träger der gesetzlichen Schülerunfallversicherung für den 1969 geborenen Schüler Sascha Sch. (S.). Dieser zog sich am 7. Juni 1984 einen knöchernen Abriß am vorderen oberen Darmbeinstachel zu. Die Kosten der stationären Behandlung wurden vom Kläger zunächst übernommen. Nachdem der beratende Arzt des Klägers am 31. Juli 1984 vermerkt hatte, daß es sich nicht um einen Unfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung gehandelt habe, da kein eigentliches Unfallgeschehen erkennbar sei, wandte sich der klagende Gemeindeunfallversicherungsverband an die Beklagte, bei der S. über seinen Vater familienversichert war, und bat um Erstattung der zunächst übernommenen Behandlungskosten in Höhe von 4.835,44 DM. Die Beklagte erfüllte diese Forderung. Am 31. Oktober 1984 verlangte der Kläger von der Beklagten die Erstattung eines weiteren Betrages von 11,82 DM. Diese lehnte die Befriedigung der Forderung mit der Begründung ab, der Betrag erreiche nicht den in § 110 Satz 2 des 10. Buchs des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsvorschriften - (SGB X) festgelegten Mindestbetrag von 50,-- DM.

Das Sozialgericht (SG) hat die am 2. April 1985 erhobene Klage abgewiesen und die Berufung sowie die Sprungrevision zugelassen. Die Beklagte sei berechtigt, die Erfüllung der erhobenen Forderung zu verweigern. Mit dem Betrag von 11,82 DM mache der Kläger einen Erstattungsanspruch im Einzelfall iS von § 110 Satz 2 SGB X geltend. Zwar ergebe sich eine solche Auslegung nicht unmittelbar aus den Gesetzesmaterialien. Aus ihnen sei aber ersichtlich, daß die Regelung bezwecke, das Erstattungsverfahren in Bagatellfällen generell dadurch zu vereinfachen, daß Beträge, die unter 50,-- DM lägen, nicht erstattet würden. Dem Sinn und Zweck des Gesetzes entspreche es auch, isoliert geltend gemachte Aufwendungen von weniger als 50,-- DM in die Vereinfachungsregelung einzubeziehen. Denn jede Prüfung einer Einzelforderung verursache Verwaltungsaufwand und Kosten.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 105, 109 und 110 SGB X und macht ua geltend, schon die Gesetzesbegründung spreche gegen die Auffassung des SG. Wenn dort davon die Rede sei, daß Erstattungsverfahren in Bagatellfällen zu vereinfachen seien, dann beziehe sich das nicht auf den einzelnen Erstattungsvorgang, sondern betreffe das auf einem Versicherungsfall beruhende Erstattungsverfahren. Im übrigen führe die erstinstanzliche Auslegung des Begriffes "Einzelfall" zu willkürlichen und zufälligen Erstattungsleistungen, die vom Gesetzgeber nicht gewollt seien. Hätte die Beklagte beispielsweise den angeforderten Betrag von 4.835,44 DM noch nicht gezahlt, als die weitere Einzelforderung bei ihr eingegangen sei, so hätte sie in konsequenter Anwendung der von ihr vertretenen Auffassung die Erstattung des Betrages von 11,82 DM verweigern und sich nur auf die Zahlung von 4.835,44 DM beschränken können.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15. August 1985 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 11,82 DM zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat Erfolg. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger einen weiteren Betrag von 11,82 DM zu zahlen.

Die Beteiligten gehen übereinstimmend zu Recht davon aus, daß die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch nach § 105 Abs 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches - 10. Buch - Verwaltungsverfahren (SGB X) erfüllt sind. Da der knöcherne Abriß am vorderen oberen Darmbeinstachel, den sich S. am 7. Juni 1984 "zugezogen" hat, nicht auf ein Unfallgeschehen zurückgeführt werden kann, hat der Kläger mit der Übernahme der Behandlungskosten als unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht. Zuständiger Leistungsträger ist im vorliegenden Falle die beklagte Krankenkasse, bei der S. über seinen Vater im Zeitpunkt des Eintritts der Gesundheitsstörung familienversichert war. Hieraus folgt die Erstattungspflicht der Beklagten auch für den vom Kläger erst am 31. Oktober 1984 geltend gemachten weiteren Betrag von 11,82 DM.

Entgegen der Auffassung des SG ist die Geltendmachung dieses Betrages nicht durch § 110 Satz 2 SGB X ausgeschlossen. Nach der genannten Vorschrift erfolgt keine Erstattung, wenn im Einzelfall ein Erstattungsanspruch voraussichtlich weniger als 50 Deutsche Mark beträgt. Hier umfaßt der Erstattungsanspruch einen wesentlich höheren Betrag als 50,-- DM. Als "Erstattungsanspruch im Einzelfall" iS von § 110 Satz 2 SGB X darf nämlich nicht die gegenüber dem Erstattungspflichtigen geltend gemachte Einzelforderung angesehen werden. Es kann dahingestellt bleiben, ob ein Erstattungsanspruch immer die gesamten Kosten eines Versicherungsfalles erfaßt oder nur die einzelne Aufwendung aus Anlaß eines solchen Falles. Im Sinne des § 110 Satz 2 SGB X kann darunter jedenfalls nur der Anspruch verstanden werden, der den Gesamtaufwand des erstattungsberechtigten Leistungsträgers umfaßt. Für diese Auslegung spricht sowohl der Wortlaut der Vorschrift als auch der Sinn und Zweck der Regelung.

Hätte der Gesetzgeber - wie das SG meint - die Erstattung einzelner Aufwendungen immer dann ausschließen wollen, wenn sie unter 50,-- DM liegen, so wäre der Zusatz " v o r a u s s i c h t l i c h " unverständlich. Dieser Zusatz läßt sich nur dadurch erklären, daß auch die Erstattung von Beträgen unter 50,-- DM zulässig sein soll, wenn die zu erwartenden Gesamtkosten, die demjenigen, der die Erstattung verlangt, erwachsen sind oder werden, den genannten Grenzbetrag voraussichtlich überschreiten. Daraus folgt: Für die Anwendung der Ausschlußnorm des § 110 Satz 2 SGB X sind schon feststehende Einzelbeträge und noch zu erwartende Erstattungsforderungen, die auf demselben Versicherungsfall beruhen, zusammenzurechnen (vgl Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch, Kommentar, § 110 RdZiff 8; Marburger, RV 1984, 121, 125). Die Beschränkung auf den "Einzelfall" in § 110 Satz 2 SGB X stellt lediglich klar, daß - im Gegensatz zur Regelung des § 110 Satz 1 SGB X, die eine pauschale Abgeltung der Erstattungsansprüche für einen Einzelfall und eine Vielzahl von Fällen ermöglicht (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, S 968d) - nicht Aufwendungen aus verschiedenen Versicherungsfällen zusammenzufassen sind, selbst wenn es sich um Versicherungsfälle derselben Person handelt.

Diese Auslegung entspricht auch dem Zweck des § 110 Satz 2 SGB X. Die Vorschrift soll das Erstattungsverfahren in Bagatellsachen generell dadurch vereinfachen, daß Beträge, die unter 50,-- DM liegen, nicht erstattet werden (BT-Drucks 9/95, S 26 zu § 116; von Wulffen in Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, SGB X, Kommentar und Ergänzungsband, 1984, § 110 Anm 4; Pickel, SGb 1984, 545, 548). Der Gesetzgeber hat mit der Ausschlußnorm - wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt - nur Bagatellfälle erfassen wollen. Die Erstattung sollte aber in anderen Fällen nicht ausgeschlossen werden, in denen eine geltend gemachte Einzelaufwendung den Grenzbetrag von 50,-- DM nicht erreicht. Der Grund für die Regelung des § 110 Satz 2 SGB X ist nämlich nicht darin zu sehen, daß die mit der Erstattung kleinerer Beträge verbundenen Abrechnungsvorgänge (Verbuchung, Überweisung usw) vermieden werden sollten. Vielmehr geht es dem Gesetzgeber darum, durch Vereinfachung des gesamten Erstattungsverfahrens zu verhindern, daß in Bagatellfällen unverhältnismäßig hoher Verwaltungsaufwand entsteht, nur um die Erstattungspflicht festzustellen. Hat indessen ein Leistungsträger für einen Versicherungsfall bereits Leistungen von mehr als 50,-- DM erbracht oder ist zu erwarten, daß ihm noch Kosten entstehen werden, durch die der genannte Grenzbetrag überschritten wird, so handelt es sich nicht mehr um einen Bagatellfall, für den die Ausschlußnorm des § 110 Satz 2 SGB X gelten soll.

Der vom Kläger geltend gemachte Betrag von 11,82 DM ist demnach eine Einzelforderung im Rahmen eines umfassenderen Erstattungsanspruchs, zu dem auch die bereits von der Beklagten erstatteten Behandlungskosten in Höhe von 4.835,44 DM gehören. Die Beklagte darf daher die Erstattung des geltend gemachten weiteren Betrages nicht mit dem Hinweis auf § 110 Satz 2 SGB X verweigern.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1662171

BSGE, 195

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