Entscheidungsstichwort (Thema)

Wartezeit für eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) nach § 1252 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO)

 

Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I.

Unter den Beteiligten ist streitig, ob die Wartezeit für eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) nach § 1252 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als erfüllt gilt.

Der 1963 geborene Kläger stand seit August 1979 als Kraftfahrzeugmechaniker in Lehrausbildung; für ihn sind bis Juli 1932 für 36 Monate Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden. Im April 1982 - etwa ein Monat vor dem zu erörternden "Verkehrsunfall" am 23. Mai 1982 - verstarb seine Freundin Christine R. plötzlich während eines Besuchs bei ihm durch Gehirnschlag. Dadurch geriet der Kläger in tiefe Niedergeschlagenheit; der Hausarzt diagnostizierte am 21. April 1982 bei ihm ein psychisches Erschöpfungssyndrom. Unter dem 17. Mai 1982 verfaßte der Kläger einen Abschiedsbrief an die Eltern der verstorbenen Freundin. Darin versicherte er u.a., daß er es ohne Christine nicht aushalte, fest überzeugt sei, in ihren Armen zu liegen, wenn dieser Brief gelesen werde, und am Sonntag um 1:00 Uhr der Glücklichste zu sein. Ferner bat er neben Christine sein Grab zu erhalten und seine Eltern zu trösten. Acht Tage später, am Sonntag, dem 23. Mai 1982, fuhr der Kläger gegen 0:35 Uhr in der Absicht, sich zu töten, auf gerader Straße von der Fahrbahn ab, durchbrach eine Leitplanke und stürzte über eine steile Böschung ab. Er erlitt mehrfach schwerste Hirnverletzungen. Wegen der sehr schweren gesundheitlichen Folgen (apallisches Syndrom) ist er unstreitig erwerbsunfähig.

Die Beklagte lehnte die vom Kläger im Januar 1933 beantragte Rente wegen EU mit dem streitigen Bescheid vom 31. Januar 1983 ab, weil die Wartezeit (Versicherungszeit) von 60 Kalendermonaten weder erfüllt sei noch nach § 1252 RVO als erfüllt gelte.

Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben. Zur Begründung der die Klageabweisung bestätigenden angefochtenen Entscheidung vom 4. Dezember 1985 hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt, der Kläger sei nicht "infolge eines Unfalls" erwerbsunfähig geworden. Bei dem Selbstmordversuch handele es sich nicht um einen von außen auf den Kläger plötzlich einwirkenden, sondern - unabhängig von dem nicht einschlägigen § 1277 RVO - um einen von ihm selbst gewollten und gesteuerten Vorgang. Die Durchführung der Absicht zur Selbsttötung sei das Unfallgeschehen selbst und nicht nur die Folge eines vorhergegangenen Unfalls. Ebensowenig habe der Kläger die Selbsttötung wegen des plötzlichen Todes seiner Freundin unter Schockwirkung versucht. Selbst wenn dies aber so wäre, könnte dies nicht zu einer Fiktion der Wartezeit führen. Einmal sei der seelische Ausnahmezustand des Klägers nicht auf ein von außen her auf ihn einwirkendes, körperlich schädigendes, plötzliches Ereignis zurückzuführen. Der Tod der Freundin stelle ein krankhaftes Geschehen dar, das nicht den Kläger, sondern eine dritte Person getroffen habe. Ein psychischer Ausnahmezustand beim Versuch der Selbsttötung wäre schließlich eine "Erkrankung", die im Rahmen der Wartezeitfiktion des § 1252 Abs. 2 RVO einem Unfall nicht gleichzusetzen sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 1252 Abs. 2 RVO. Bei der Bestimmung des Begriffs des Unfalls i. S. dieser Vorschrift könne nicht auf die zum Begriff des Arbeitsunfalls i. S. des § 548 Abs. 1 RVO entwickelten Kriterien zurückgegriffen werden. Es müsse vielmehr genügen, wenn die körperliche Unversehrtheit des Versicherten durch ein äu3eres Ereignis plötzlich verletzt und geschädigt werde, wie das hier der Fall sei. Da ein Arbeitsunfall nicht vorausgesetzt werde, könne es auf die Ursache des Unfalls nicht ankommen. Dies ergebe sich auch aus dem Fehlen einer dem § 553 RVO entsprechenden Regelung sowie aus der Vorschrift des § 1277 Abs. 1 RVO, die sich nur auf eine absichtlich herbeigeführte EU oder Berufsunfähigkeit (BU) beziehe, nicht aber auf den Eintritt dieser Versicherungsfälle infolge eines mißglückten Selbstmordversuchs.

Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. November 1982 Rente wegen EU zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hat dazu nichts vorgetragen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

II

Die Revision des Klägers ist i. S. der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Das LSG hat zutreffend ausgeführt, daß ein Anspruch des Klägers auf Rente wegen EU nicht schon durch § 1277 Abs. 1 Satz 1 RVO ausgeschlossen ist. Nach dieser Vorschrift hat u.a. keinen Anspruch auf Rente wegen EU, wer sich "absichtlich" erwerbsunfähig macht. An einer solchen Absicht fehlt es bei der - auf "Selbstvernichtung" zielenden - versuchten Selbsttötung (vgl. BSGE 21, 163, 165 = SozR Nr. 1 zu 1277 RVO).

Nach § 1247 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst a) RVO erhält nur derjenige erwerbsunfähige Versicherte Rente, der vor Eintritt der EU eine Wartezeit (Versicherungszeit) von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat. Das ist beim Kläger, der vor Eintritt der EU nur 36 Kalendermonate beschäftigt und versichert war, nicht der Fall. Sein Anspruch kann daher nur begründet sein, wenn auf ihn eine der in § 1252 RVO über die fiktive Erfüllung der Wartezeit, getroffenen Regelungen zutrifft.

Die Anwendung von § 1252 Abs. 1 Nr. 1 RVO scheidet schon deswegen aus, weil es nach den unangegriffenen und damit nach § 163 SGG für den Senat bindenden Feststellungen des LSG an jeglichem Zusammenhang mit einer versicherten Tätigkeit und damit an einem Arbeitsunfall (§§ 548 ff. RVO) fehlt. Dagegen kann der Anspruch des Klägers durch § 1252 Abs. 2 RVO gestützt sein. Danach gilt die Wartezeitfiktion des Absatzes 1 entsprechend, wenn der Versicherte vor Ablauf von 6 Jahren nach Beendigung einer Ausbildung "infolge eines Unfalls" u.a. erwerbsunfähig geworden ist und in den dem Versicherungsfall vorausgegangenen 24 Kalendermonaten mindestens für 6 Kalendermonate Beiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet hat (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift vgl. BVerfG in SozR 2200 § 1252 Nr. 4).

Es besteht keine Veranlassung, unter "Unfall" in § 1252 Abs. 2 RVO anderes als in anderen Rechtsgebieten, insbesondere anderes als im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 548 Abs. 1 Satz 1 RVO) zu verstehen (ganz allgemeine Auffassung, vgl. etwa Zweng/Scheerer/Buschmann, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl., Bd. II, § 1252 Anm. II 1 A a; Verbandskomm, Stand: 1. Juli 1985, Bd. I, § 1252 Anm. 20a; Kaltenbach/Maier in Koch/Hartmann, AVG, 2./3. Aufl., Stand: November 1983, § 29 Anm. D II 1/1.1). In der gesetzlichen Unfallversicherung wird Unfall regelmäßig definiert als von außen her auf den Menschen einwirkendes, "körperlich schädigendes" - hierzu ist weiter unten näheres ausgeführt -, plötzliches, d.h. zeitlich begrenztes Ereignis (vgl. z.B. BSGE 23, 139, 141 = SozR Nr. 1 zu § 555 RVO; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand: 1. Juli 1986, § 548 Anm. 3; Gitter in RVO-Gesamtkomm, Stand: März 1982, § 548, Anm. 6). Nach überwiegender Meinung gehört zum Begriff des Unfalls ferner die "Unfreiwilligkeit" (vgl. mit zahlreichen Nachweisen Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, Seite 92), so daß sich in Fällen versuchter Selbsttötung - wie hier unter dem Erscheinungsbild des "Verkehrsunfalls" vom 23. Mai 1982 - zugunsten des Rentenbewerbers Unfreiwilligkeit nur dann annehmen läßt, wenn die freie Willensbestimmung z.B. durch eine Depression wesentlich beeinträchtigt war (BSGE 18, 163, 164f = SozR Nr. 60 zu § 542 RVO a.F.; Gitter, RVO-Gesamtkomm., a.a.O., Anm. 26 Seite 30/1). Der konkrete Fall gibt hiernach Anlaß zu folgender Erörterung:

Der plötzliche Tod der Freundin des Klägers Christine R. durch Gehirnschlag während eines Besuchs bei ihm hat nach den den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) zu einer tiefen Niedergeschlagenheit geführt; sein Hausarzt hat ihm kurze Zeit nach diesem Geschehen, am 21. April 1982, ein "psychisches Erschöpfungssyndrom" bescheinigt. Die Annahme des LSG, die versuchte Selbsttötung sei gleichwohl nicht unter einem etwa durch den plötzlichen Tod der Freundin verursachten Schock ausgeführt worden, weil dieser Versuch - u.a. auch wegen Hinterlassung eines Abschiedsbriefs - "Planung und bemerkenswerte Selbstbeherrschung erkennen" lasse, stellt einen nicht existierenden - revisiblen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 25. Juni 1986 - 4a RJ 23/85 - m.w.N.; Rauscher, SGb 1986 Seite 47 und Fußnote 42) - allgemeinen Erfahrungssatz auf: Die Planmäßigkeit der Durchführung eines Selbstmordversuchs läßt nicht auf geistige Gesundheit des Täters schließen; es ist kein Selbstmordversuch denkbar, der nicht mit gewisser Planmäßigkeit ausgeführt wird.

Sehr wohl denkbar ist dagegen, daß der plötzliche Tod der Freundin des Klägers für diesen ein Unfallereignis war, weil er hierdurch in seiner geistigen Gesundheit beeinträchtigt wurde und möglicherweise deshalb im Zustand wesentlich beeinträchtigter Willensbestimmung die Selbsttötung versuchte:

Daß sich, wie ausgeführt, nach verbreiteter Ansicht ein Unfall nur bei einem "körperlich schädigenden Ereignis" bejahen läßt, ist nicht allzu wörtlich zu verstehen. Mit dieser Formulierung soll allein deutlich gemacht werden, daß nach dem Recht der gesetzlichen Sozialversicherung grundsätzlich keine Leistungsansprüche für Sachschäden entstehen können (vgl. zu den Ausnahmen §§ 548 Abs. 2, 765a Abs. 1 RVO). Unter unfallbedingter "Körperschädigung" wird in Rechtsprechung und Schrifttum die gesundheitliche Schädigung eines Menschen nicht nur im Bereich des Körperlich-Organischen, sondern in gleicher Weise auf dem Gebiet auch des Psychisch-Geistigen verstanden (vgl. mit Nachweisen Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung., Bd. II, Seite 479e und Seite 489 1; Bley, RVO-Gesamtkomm, § 548 Anm. 8; Lauterbach/Watermann, a.a.O., § 553 Anm. 7 Nr. 2 mit einer Übersicht aus Rechtsprechung und Schrifttum). Nach dem geltenden Sozialrecht wäre es daher treffender, als Kriterium eines Unfalls nicht ein "körperlich schädigendes Ereignis", sondern "ein einen Personenschaden" - im Gegensatz zum Sachschaden - "herbeiführendes Ereignis" herauszustellen und zum Personenschaden alle Gesundheitsschäden, also körperliche wie psychische Beeinträchtigungen zu rechnen.

Aber auch hinsichtlich der schadensstiftenden Unfallursache ist in der Rechtsprechung weitgehend klargestellt, daß insoweit nicht nur körperliche und organische Geschehensabläufe, sondern auch Vorgänge im Bereich des Psychischen und Geistigen von rechtlicher Bedeutung sind (vgl. BSGE 18, 173, 175 = SozR Nr. 61 zu § 542 RVO a.F.; Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 29. April 1964 - 2 RU 215/60 in DMW 1964 Seite 2299; Urteil vom 24. Februar 1967 - 2 RU 114/65 in SGb 1967, 542; Beschluß des BSG vom 5. Februar 1980 - 2 BU 31/79).

In Fällen versuchter Selbsttötung im Zustand unfallbedingter geistiger Beeinträchtigung wird eine psychische Ursache - schon wegen des Kriteriums der Plötzlichkeit des Unfallereignisses - regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn es sich bei ihr um einen psychischen Schock handelt, d.h. eine schlagartig auftretende schwere psychische Erschütterung, die eine mentale Störung von Krankheitswert, z.B. eine Depression, hinterläßt (vgl. dazu Gitter, RVO-Gesamtkomm a.a.O., Anm. 26 Seite 30/1; Brackmann, a.a.O., Seite 489 1 ff., insbesondere 489n; vgl. für das Recht der sozialen Entschädigung BSGE 49, 98, 100 ff. = SozR 3800 § 1 Nr. 1). Ob etwa bestimmte, z.B. banale psychische Ereignisse als Unfallursachen auszuscheiden haben, mag dahinstehen. Das im vorliegenden Fall möglicherweise eines Schock auslösende Ereignis - plötzlicher Tod der jungen Freundin durch Gehirnschlag während eines Besuchs beim Kläger - war jedenfalls nicht banaler Art. Als Folge einer durch psychische Ursache (Schock) eingetretenen psychischen Störung (z.B. Depression) - also "infolge eines Unfalls" i. S. von § 1252 Abs. 2 RVO gemäß der auch im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. BSGE 38, 14, 16 =SozR 2600 § 45 Nr. 6; SozR 2200 § 1251 Nr. 69) - kann so der Entschluß zur Selbsttötung im Zustand ausgeschlossener oder wesentlich geminderter freier Willensbestimmung eingetreten sein. Die gesundheitlichen Schäden, die der Selbstmordversuch hinterlassen hat, könnten sodann Folgen des Unfalls aus psychischer Ursache sein.

Im konkreten Fall reichen die Feststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Die näheren Umstände des plötzlichen Tods der Freundin des Klägers im April 1982, die bei diesem einen psychischen Schock ausgelöst haben könnten, sind nicht aufgehellt. Hierauf aber kommt es entscheidend an. Erst wenn diese Feststellungen getroffen sind, wird ein psychiatrischer Sachverständiger zu hören sein, der sich zur Frage eines psychischen Schocks, ggf. seiner Schwere und der dadurch bewirkten psychischen Beeinträchtigungen und ihrer Dauer zu äußern haben wird. Dabei werden auch im übrigen die zeitlichen Einzelheiten des Geschehensablaufs festzulegen und z.B. zu prüfen sein, ob der Selbsttötungsversuch unter Würdigung des zeitlichen Abstands zum fraglichen Schock noch immer die freie Willenbestimmung des Klägers beeinträchtigt hat. Bei allem wird zu beachten sein, daß Rechtsprechung und Schrifttum die Auswirkungen einer Unfallursache psychischer Art auf den Betroffenen gemäß der "Eigenart seiner Persönlichkeit" beurteilen (vgl. BSGE 18, 163 und Brackmann a.a.O. Seite 489n).

Auf die Revision des Klägers war nach alledem das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Der Ausspruch im Kostenpunkt bleibt der Endentscheidung in der Sache vorbehalten. 4a RJ 9/86

1986-12-18BSG

Bundessozialgericht

 

Fundstellen

Haufe-Index 518873

BSGE, 113

NJW 1987, 3151

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