Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 15. Juni 1967 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger leidet an einer Berufskrankheit im Sinne der Nr. 42 der 6. Berufskrankheitenverordnung (BKVO) – Innenmeniskusschaden links –. Mit Bescheid vom 4. Juli 1966 gewährte die Beklagte dem Kläger aus Anlaß dieser zum 28. Mai 1965 anerkannten Berufskrankheit eine Teilrente von 20 v.H. der Vollrente für die Zeit vom 25. November 1965 bis 30. Juni 1966. Über den 30. Juni 1966 hinaus lehnte sie die Weitergewährung einer Rente ab, weil zwar eine Minderung um 10 v.H. vorliege, eine Rente aber nicht gewährt werde, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge der Berufskrankheit um weniger als ein Fünftel gemindert sei.

Hiergegen hat der Kläger mit der Begründung Klage erhoben, er habe inzwischen am 21. Juli 1966 einen weiteren Arbeitsunfall mit Verletzung der 5. linken Zehe erlitten, der eine Arbeitsunfähigkeit vom 22. Juli bis zum 6. September 1966 bedingt habe. Für diesen Zeitraum sei ihm die Rente für die anerkannte Berufskrankheit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 10 v.H. zu gewähren.

Der Kläger hat beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 1966 abzuändern und ihm für die Zeit vom 22. Juli 1966 bis 6. September 1966 eine Teilrente in Höhe von 10 v.H. zu gewähren.

Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 1966 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Teilrente von 10 v.H. vom 22. Juli bis 30. September 1966 zu gewähren (Urteil vom 15. Juni 1967). Es hat dazu ausgeführt: Wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge mehrerer Arbeitsunfälle gemindert sei und die Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten MdE zumindest wenigstens die Zahl Zwanzig erreichten, so sei nach § 581 Abs. 3 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) für jeden, auch für einen früheren Arbeitsunfall, Verletztenrente zu gewähren. Für die hier im Streit stehende Berufskrankheit, die einem Arbeitsunfall gleichzusetzen sei und deren Folgen noch eine MdE von 10 v.H. bedingten, sei somit nach § 581 Abs. 3 Satz 2 RVO Rente zu gewähren, und zwar vom Zeitpunkt des zweiten Unfalls an bis zum Ende des Monats September 1966 (§ 631 RVO). Eine MdE aus dem Unfall vom 21. Juli 1966 habe mindestens bis zur Wiederaufnahme der Arbeit am 7. September 1966 bestanden, wahrscheinlich volle Erwerbsunfähigkeit, mindestens aber zuletzt noch eine MdE um 10 v.H., wie aus der Art der Verletzung und ihrer notwendigen Behandlung anzunehmen sei.

Das SG hat die Berufung zugelassen.

Die Beklagte hat unter gleichzeitiger Überreichung der schriftlichen Einwilligungserklärung des Klägers Sprungrevision eingelegt.

Sie beantragt,

  • das Urteil des SG vom 15. Juni 1967 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
  • hilfsweise,

    den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das SG Gelsenkirchen zurückzuverweisen.

Sie rügt: Das SG habe § 581 Abs. 3 RVO verkannt. Die Verletztenrente unter 20 v.H. für den Unfall vom 28. Mai 1965 sei nur dann zu gewähren, wenn auch für die Folgen des Unfalls vom 21. Juli 1966 eine Rente zu gewähren wäre, was hier nicht der Fall sei. Das folge aus § 581 Abs. 3 Satz 1 RVO, wonach für jeden, auch einen früheren Arbeitsunfall Verletztenrente zu gewähren sei. Das setze auch die Möglichkeit der Gewährung einer Rente für den weiteren Unfall voraus.

Außerdem habe das SG insofern einen Verfahrensverstoß begangen, als es sich über den Klageantrag hinweggesetzt habe, der auf die Zeit vom 22. Juli bis zum 6. September 1966 begrenzt gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die nach §§ 161 Abs. 1, 164 Abs. 1, 166 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Sprungrevision ist zulässig und begründet.

Rechtsgrundlage für den mit der Klage für die Zeit vom 22. Juli bis 6. September 1966 geltend gemachten Anspruch auf eine Teilrente in Höhe von 10 v.H. ist § 581 Abs. 3 RVO mit Art. 4 § 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG).

Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird eine Verletztenrente grundsätzlich nur dann gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel, also um 20 v.H., gemindert ist. Abweichend von diesem Grundsatz ist nach § 581 Abs. 3 RVO in den Fällen, in denen die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge mehrerer Arbeitsunfälle gemindert und die Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten MdE zusammen wenigstens die Zahl zwanzig erreichen, „für jeden, auch einen früheren Arbeitsunfall, Verletztenrente zu gewähren”. Diese Ausnahmeregelung von dem in § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO festgelegten Grundsatz hat den Sinn und Zweck, Unbilligkeiten zu vermeiden, die sich aus einer Anhäufung von Unfallfolgen aus mehreren Unfällen geringfügiger Art, also mit einer MdE um weniger als 20 v.H., ergeben können. Da regelmäßig nur Unfallfolgen entschädigt werden, die die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens 20 v.H. mindern und die Verletztenrente wegen einer derartigen Schädigung nur dann gewährt wird, wenn die Voraussetzungen des § 580 RVO erfüllt sind, können bei Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 581 Abs. 3 RVO, welche die durch mehrere kleinere Unfälle geschädigten Versicherten begünstigen will, deren Erwerbsfähigkeit insgesamt um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, auch nur solche Unfälle berücksichtigt werden, die für sich allein betrachtet – also abgesehen vom Grade der MdE – geeignet sind, den Anspruch auf eine Verletztenrente zu begründen. Die Berücksichtigung der Folgen eines Unfalls mit einer MdE um wenigstens 10 v.H. setzt deshalb – in gleicher Weise wie bei einem für sich allein entschädigungspflichtigen Unfall mit einer MdE um wenigstens 20 v.H. – voraus, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Verletzten über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus andauert. Hier fehlt es für die Entstehung des Anspruchs auf Verletztenrente nach § 581 Abs. 3 RVO an einem wesentlichen Tatbestandsmerkmal, weil die Arbeitsunfähigkeit infolge des zweiten Unfalls bereits vor Ablauf der 13. Woche behoben war und der Unfall über diesen Zeitraum hinaus keine die Erwerbsfähigkeit mindernden Folgen hinterlassen hat. Die bei dem Kläger infolge des Unfalls vom 21. Juli 1966 eingetretene Arbeitsunfähigkeit hat nämlich nur vom 22. Juli bis zum 6. September 1966, also rund sieben Wochen, bestanden. Seine Erwerbsfähigkeit war schon vor Ablauf der dreizehnten Woche nach dem Unfall wieder hergestellt, so daß ihm kein Anspruch auf Verletztenrente nach § 581 Abs. 3 Satz 2 RVO zusteht.

Der hier vertretenen Ansicht steht auch nicht § 581 Abs. 3 Satz 3 RVO entgegen, wie das SG irrtümlich annimmt. Es kann für die hier zu treffende Entscheidung dahinstehen, wie die Fälle zu beurteilen sind, in denen ein Arbeitsunfall mit einem Unfall zusammentrifft, der nach den in § 581 Abs. 3 Satz 3 RVO aufgeführten Gesetzen zu entschädigen ist. Jedenfalls kann, wie dies hier der Fall ist, beim Zusammentreffen von mehreren Arbeitsunfällen jeder von ihnen nur dann nach § 581 Abs. 3 Satz 2 RVO berücksichtigt werden, wenn die durch ihn bedingte MdE um 10 v.H. über die dreizehnte Woche nach dem Unfall hinaus andauert.

Nach alledem ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 4 RVO. Richter

 

Unterschriften

Richter, Dr. Witte, Mellwitz

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 06.06.1968 durch Mackenroth RegObSekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

BSGE, 71

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge