Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsfreistellung für Arztbesuch

 

Leitsatz (redaktionell)

§ 4 Nr 3 1 BauRTV regelt den Fall einer kurzfristigen Arbeitsverhinderung durch Arztbesuch bei bestehender Arbeitsfähigkeit. Ihm liegen die gleichen Zumutbarkeitserwägungen wie in § 616 Abs 1 BGB zugrunde. Ist der Arbeit nehmer bereits bei Schichtbeginn arbeitsunfähig krank und muß er deswegen den Arzt aufsuchen, greift § 4 Nr 3 1 BauRTV nicht ein.

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Entscheidung vom 15.02.1989; Aktenzeichen 1 Sa 1912/88)

ArbG Bielefeld (Entscheidung vom 08.09.1988; Aktenzeichen 4 Ca 1094/88)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger der Lohn für einen Arztbesuch, jeweils am 17. März und am 21. Juni 1988, in der rechnerisch unstreitigen Höhe von insgesamt 251,43 DM brutto zusteht.

Der Kläger ist seit dem 25. Mai 1983 bei dem beklagten Bauunternehmen als Einschaler beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe in der Fassung vom 26. September 1984/29. April 1988 (BRTV-Bau) Anwendung.

Im Jahre 1987 erkrankte der Kläger und erhielt von der Beklagten für sechs Wochen Lohnfortzahlung. Vom 2. Januar bis zum 13. März 1988 bezog er Krankengeld. Vom 14. bis zum 16. März 1988 unternahm er einen vergeblichen Arbeitsversuch. Am Morgen des 17. März 1988 meldete er sich, ohne die Arbeit aufgenommen zu haben, auf der Baustelle zu einem Arztbesuch ab. Der Arzt stellte eine Fortsetzung der bisherigen Krankheit fest und schrieb den Kläger erneut arbeitsunfähig bis zum 10. April 1988. Der Arztbesuch dauerte von 8.00 Uhr bis 11.00 Uhr. Der Kläger war gegen 12.00 Uhr wieder in seiner Wohnung. Für diesen Tag erhielt er weder Krankengeld noch Lohn.

Am 20. Juni 1988 unternahm der Kläger einen weiteren erfolglosen Arbeitsversuch. Am 21. Juni 1988 suchte er bei Arbeitsbeginn nach Abmeldung auf der Baustelle wiederum den Arzt auf. Dieser befand ihn wegen Fortsetzung der bisherigen Krankheit erneut arbeitsunfähig. Diesmal dauerte der Arztbesuch von 8.00 Uhr bis 10.00 Uhr. Um ca. 10.30 Uhr war der Kläger zurück in seiner Wohnung. Er erhielt für diesen Tag wiederum keinen Lohn. Krankengeld wurde ihm erst ab 22. Juni 1988 gewährt.

Mit seiner Klage verlangt der Kläger von der Beklagten den Lohn für 8 Stunden (17. März 1988) und für weitere 8,5 Stunden (21. Juni 1988), zusammen 251,43 DM brutto. Er hat vorgetragen, die Beklagte sei nach § 4 Nr. 3.1 BRTV-Bau zur Lohnfortzahlung verpflichtet. Die Arztbesuche seien erforderlich gewesen. Eine Dauerbehandlung habe nicht vorgelegen, vielmehr habe es sich um ein akute Erkrankung gehandelt, die jeweils einen sofortigen Arztbesuch erfordert habe.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn

251,43 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf

den sich ergebenden Nettobetrag seit

Klagezustellung zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, sie habe ihre Lohnfortzahlungspflicht aus § 1 Abs. 1 LFZG erfüllt. § 4 Nr. 3.1 BRTV-Bau begründe keinen Anspruch des Klägers. Diese Bestimmung wolle sicherstellen, daß bei kurzzeitiger und nur vorübergehender Behandlungsbedürftigkeit kein Lohnausfall eintrete, und gehe daher davon aus, daß der Arbeitnehmer nach dem Arztbesuch die Arbeit wieder aufnehme. Liege danach Arbeitsunfähigkeit vor, greife das Lohnfortzahlungsgesetz ein.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg. Der Kläger kann nach lohnfortzahlungsrechtlichen Bestimmungen die Weitergewährung des Lohnes für den 17. März und den 21. Juni 1988 nicht verlangen.

I. § 1 Abs. 1 LFZG räumt dem Kläger den erhobenen Anspruch nicht ein.

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG behält der Arbeiter den Anspruch auf Arbeitsentgelt bis zur jeweiligen Dauer von sechs Wochen, wenn er seine Arbeitsleistung infolge unverschuldeter Krankheit nicht erbringen kann. Bei der Berechnung des Sechs-Wochen-Zeitraums, während dessen der Arbeitgeber den Lohn weiterzahlen muß, wird der angebrochene Tag nicht mitberechnet, wenn der Arbeiter während der Arbeitsschicht erkrankt. Für die verbleibende Zeit des Arbeitstages erhält der Arbeiter sein Arbeitsentgelt weiter (BAGE 23, 340 = AP Nr. 3 zu § 1 LohnFG). Verhindert eine Arbeitsunfähigkeit bereits den Antritt der Arbeitsschicht, so wird der erste Fehltag des Arbeiters bei der Berechnung des Lohnfortzahlungszeitraums mitgerechnet; er hat also Anspruch auf Lohnfortzahlung für die Zeit ab Antritt der Arbeitsschicht (BAGE 23, 444 = AP Nr. 6 zu § 1 LohnFG). Wird der Arbeiter jedoch innerhalb von zwölf Monaten infolge derselben Krankheit wiederholt arbeitsunfähig, verbleibt ihm der Anspruch auf Arbeitsentgelt nur für die Dauer von insgesamt sechs Wochen, es sei denn, er wäre vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate lang nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig gewesen (§ 1 Abs. 1 Satz 2 LFZG). Dieser Ausnahmefall hat beim Kläger aber nicht vorgelegen. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war der Kläger am 17. März und am 21. Juni 1988 jeweils arbeitsunfähig krank, und zwar handelte es sich hierbei um eine Fortsetzungskrankheit im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 2 LFZG. Eine Bezahlung der durch den Arztbesuch ausgefallenen Tage kann der Kläger nach den Bestimmungen des Lohnfortzahlungsgesetzes daher nicht verlangen. Hierüber besteht im Grunde zwischen den Parteien auch kein Streit.

II. Auch die Tarifbestimmung des § 4 Nr. 3.1 BRTV-Bau gewährt dem Kläger keinen Anspruch auf die verlangte Lohnzahlung.

1. Nach § 4 Nr. 1 BRTV-Bau wird der Lohn in Abweichung von § 616 BGB nur für die wirklich geleistete Arbeitszeit gezahlt. Von diesem Grundsatz läßt die Tarifvorschrift nur ganz bestimmte, erschöpfend aufgezählte Ausnahmen zu. Hierbei handelt es sich um die Freistellung aus familiären Gründen (u. a. Eheschließung, Todesfälle, Wohnungswechsel), um den Arbeitsausfall infolge ungünstiger Witterung oder aus betrieblichen Gründen und um die Freistellung aus "besonderen Gründen". Nach § 4 Nr. 3.1 BRTV-Bau, der einen Anwendungsfall der "besonderen Gründe" regelt, ist der Arbeitnehmer für die tatsächlich benötigte Zeit unter Lohnfortzahlung "von der Arbeit freizustellen", wenn er den Arzt aufsuchen muß und der Besuch während der Arbeitszeit erforderlich ist und keine Dauerbehandlung vorliegt. Nach Wortlaut, Systematik und Zweck kommt eine Anwendung dieser Tarifbestimmung nur in Betracht, wenn der Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung in der Lage und dazu verpflichtet ist und es sich um eine kurzfristige Arbeitsverhinderung handelt. Nach dem Einleitungssatz des § 4 Nr. 3 BRTV-Bau geht es darum, daß der Arbeitnehmer "von der Arbeit freizustellen" ist. Eine Freistellung setzt begrifflich voraus, daß der Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung verpflichtet ist. Ist der Arbeitnehmer arbeitsunfähig krank, ist er nicht zur Arbeitsleistung verpflichtet. Fehlt es an einer Verpflichtung zur Arbeitsleistung, so braucht der Arbeitnehmer von der Arbeit nicht mehr aufgrund einer besonderen Tarifregelung freigestellt zu werden.

2. § 4 Nr. 3.1 BRTV-Bau stellt nicht auf die Erkrankung, sondern auf das Aufsuchen des Arztes ab. Er will den Fall einer kurzfristigen Arbeitsverhinderung regeln. Mit der Kurzfristigkeit ist die Erwartung verbunden, daß der Arbeitnehmer alsbald, d. h. nach der Beendigung des in § 4 Nr. 3.1 BRTV-Bau bezeichneten Ereignisses (also im Anschluß an den Arztbesuch), die Arbeit wieder aufnimmt. Unter dieser Voraussetzung soll der Arbeitgeber verpflichtet sein, den durch die Verhinderung entstehenden Lohnausfall durch Weiterzahlung zu überbrücken (vgl. Blumensaat/Sperner/Unkelbach/Weimer, Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe, 4. Aufl., Anm. 24 zu § 4).

3. Die Tarifbestimmung geht, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, von einer teilweisen Inanspruchnahme der Arbeitszeit für einen Arztbesuch aus, wie dies aus medizinischen Gründen der Fall sein kann oder auch dann, wenn die Terminsbestimmung des Arztes außerhalb der Einflußnahme des Arbeitnehmers liegt. Der Regelung liegen die gleichen Zumutbarkeitserwägungen zugrunde, wie sie in § 616 Abs. 1 BGB ihren Ausdruck gefunden haben. Das zeigt auch die Beschränkung der Bezahlung auf höchstens acht Stunden. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausführt, ergreift die Tarifregelung insbesondere Fallgestaltungen, in denen ein Arbeitnehmer kurzfristig und vorübergehend einen Arzt aufsuchen muß, ohne arbeitsunfähig krank zu sein.

III. Schließlich kann der Kläger sich zur Begründung seines Zahlungsverlangens auch nicht auf die Bestimmung des § 616 BGB berufen. Ein Rückgriff auf diese gesetzliche Generalklausel ist durch die tarifliche Regelung des § 4 BRTV-Bau ausgeschlossen. Die gesetzliche Regelung kann durch Tarifvertrag abbedungen und modifiziert werden (BAGE 48, 1, 6 f. = AP Nr. 62 zu § 1 LohnFG, zu III der Gründe, mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Das ist vorliegend geschehen. Neben der abschließenden Anspruchsregelung der Tarifbestimmung des § 4 BRTV-Bau kommt § 616 Abs. 1 Satz 1 BGB als Generalklausel nicht mehr zur Anwendung.

IV. Ob dem Kläger ein Anspruch auf Krankengeld für den 17. März und den 21. Juni 1988 zusteht, hatte der Senat nicht zu prüfen.

Dr. Thomas Dr. Gehring Dr. Olderog

Dr. Florack E. Schleinkofer

 

Fundstellen

Haufe-Index 439844

BAGE 64, 245-249 (LT1)

BAGE, 245

DB 1990, 1469 (LT1)

EBE/BAG 1990, 90-91 (LT1)

EEK, I/100 (ST1-3)

RdA 1990, 192

ZAP, EN-Nr 547/90 (S)

AP § 616 BGB (LT1), Nr 83

AR-Blattei, Baugewerbe VIII Entsch 116 (LT1)

AR-Blattei, ES 370.8 Nr 116 (LT1)

EzA § 4 TVG Bauindustrie, Nr 52 (LT1)

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