Rz. 35

Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung und mit dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens verwandt. Verwirkung kann eintreten, wenn ein Anspruch längere Zeit nicht geltend gemacht wird. Sie kann auch bereits vor der Verjährung des Anspruchs eintreten. Die Verwirkung soll dem Bedürfnis nach Rechtsklarheit dienen. Es ist aber nicht Zweck der Verwirkung, Schuldner, denen gegenüber die Gläubiger längere Zeit ihre Rechte nicht geltend gemacht haben, von ihrer Pflicht zur Leistung vorzeitig zu befreien. Der Zeitablauf allein kann daher die Verwirkung eines Rechts nicht rechtfertigen. Um den Tatbestand der Verwirkung auszufüllen, muss neben das Zeitmoment das Umstandsmoment treten: D. h., es müssen besondere Umstände sowohl im Verhalten des Berechtigten als auch des Verpflichteten hinzukommen, die es rechtfertigen, die späte Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben unvereinbar und für den Verpflichteten als unzumutbar anzusehen. Der Berechtigte muss unter Umständen untätig gewesen sein, die den Eindruck erwecken konnten, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen will, sodass der Verpflichtete sich darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden. Mit der Verwirkung wird die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ausgeschlossen. Sie dient dem Vertrauensschutz (BAG, Urteil v. 25.4.2001, 5 AZR 497/99[1]).

 

Rz. 36

Der tarifliche Urlaubsanspruch kann wegen § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG nicht verwirken. Dasselbe gilt für Ansprüche aus einer Betriebsvereinbarung (§ 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG). Angesichts der Befristung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs als Freistellungsanspruch auf das Kalenderjahr bzw. den Übertragungszeitraum wird hier eine Verwirkung bereits wegen Fehlens des Zeitmoments nicht eintreten können.[2]

 
Hinweis

Aufhebung des gesetzlichen Fristenregimes für den Urlaubsanspruch

  • Urlaubsansprüche von Arbeitnehmern, die lange krank sind[3], sind nicht auf das Kalenderjahr ihres Entstehens sowie den Übertragungszeitraum befristet.[4] Kehren solche Arbeitnehmer in das Arbeitsverhältnis zurück und machen Urlaubsansprüche geltend, kann ihnen Verwirkung nicht entgegengehalten werden.[5] Da sie nicht arbeitsfähig waren, hätten sie den Urlaubsanspruch nicht wirksam geltend machen können. Es fehlt deshalb jedenfalls am Umstandsmoment.
  • Ebenso wenig kommt das Fristenregime des BUrlG zum Tragen, wenn der Arbeitgeber seiner Initiativlast zur Verwirklichung des Urlaubs nicht nachgekommen ist (EuGH, Urteil v. 6.11.2018, C-684/16[6]).
  • Zudem kann sich Urlaub über Jahre ansammeln, wenn der Arbeitgeber den Urlaubsanspruch nicht vollständig erfüllt, wozu auch die Bezahlung des Urlaubsentgelts gehört (EuGH, Urteil v. 29.11.2017, C-214/16[7]).

Nachdem das BAG die Surrogatstheorie endgültig aufgegeben hat (BAG, Urteil v. 19.6.2012, 9 AZR 652/10[8]) unterliegen Urlaubsabgeltungsansprüche nicht mehr dem gesetzlichen Fristenregime des Urlaubsanspruchs (§ 7 Abs. 3 BUrlG), sondern sind wie Urlaubsentgelt- sowie Urlaubsgeldansprüche und Schadensersatzansprüche, auch wenn letztere auf Freistellung gerichtet sind – zu behandeln. Für diese Ansprüche gelten Befristungen nicht. Das BAG hat es beim Anspruch auf Urlaubsentgelt im Rahmen des gesetzlichen Urlaubsanspruchs bislang dahinstehen lassen, ob dieser überhaupt verwirken kann (BAG, Urteil v. 18.2.1992, 9 AZR 118/91[9]) oder ob eine denkbare Verwirkung des Anspruchs auf Urlaubsentgelt nicht bereits regelmäßig an der kurzen Verjährungsfrist (damals §§ 196, 197 BGB, heute ist § 195 BGB einschlägig[10]) scheitern muss. Es hat jedoch betont, dass das bloße Nichteinfordern der Urlaubsvergütung nicht signalisiert, auf Dauer kein Urlaubsentgelt mehr zu beanspruchen. Zudem müsse der Arbeitgeber darlegen, sich auf den Fortfall des Anspruchs auf Urlaubsvergütung eingerichtet und entsprechende Vermögensdispositionen getroffen zu haben.

Soweit im Arbeitsvertrag übertarifliche und übergesetzliche Ansprüche vereinbart sind, sind diese der Verwirkung grundsätzlich zugänglich. Angesichts der geschilderten Voraussetzungen wird die Verwirkung von Urlaubsansprüchen jedoch generell einen Ausnahmefall darstellen.

 
Hinweis

Tarifliche Regelungen enthalten unter dem Stichwort "Verwirkung" zum Teil Sanktionen für vertragswidriges Verhalten eines Arbeitnehmers (z. B. "Bei unbegründeter Lösung des Arbeitsverhältnisses durch den/die Arbeitnehmer:in ohne Einhaltung der Kündigungsfrist verwirkt der/die Arbeitnehmer:in den Urlaubsanspruch, soweit dieser den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch von 24 Werktagen (20 Arbeitstagen) pro Jahr übersteigt"). Wenn nur der übergesetzliche Urlaubsanspruch betroffen ist, sind solche Regelungen wirksam (BAG, Urteil v. 10.2.2004, 9 AZR 116/03[11]).

[1] NZA 2001, 966.
[2] Ähnlich Schütz, Gesetzliches und tarifliches Urlaubsrecht, 1999, Rz. 151.
[3] Dasselbe gilt für sonstige, vom Willen eines Arbeitnehmers unabhängigen Gründen, wie z. B. Mutterschutzzeiten, vgl. Zimmermann, § 1, Rz. 27, 29 ff. zu einzelnen Sachverhaltskonstellationen, aufg...

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