Digitales Arbeitsrecht: Ein Grund zur Freude?

Den Lieben eine Freude bereiten und sich selbst darüber freuen - das macht Weihnachten aus. Doch wird es dieses Jahr für Arbeitsrechtler wirklich ein Fest der Freude? Das fragt sich unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller und wirft einen Blick auf den Stand der Digitalisierung im Arbeitsrecht.

Es gibt einen Grund, sich riesig zu freuen: "Hier entsteht die digitale Verkündungsplattform des Bundes, auf der künftig die amtliche Fassung des Bundesgesetzblatts elektronisch ausgegeben wird", heißt es unter  www.recht.bund.de. Deutschland wird digital! Längst überfällig, sieht man sich den Digitalisierungsfortschritt in anderen EU-Ländern wie Schweden, Finnland oder die estnischen Staaten an und selbst das ehemalige ökonomische Schlusslicht Portugal.

Aber wir schließen auf. Heute noch funktioniert etwa eine Zweitwohnungsanmeldung nur, wenn man ein Papier (!) der Erstwohnungsbehörde vorweist. Den Ausweis muss man händisch im Amt beantragen – und abholen. Grandiose Fehlstarts des "besonderen elektronischen Anwaltspostfachs" (beA) und der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) geben ein peinliches Bild ab und man hätte keine Mühe, zahllose weitere Beispiele aufzuzählen. Und nun fängt das Bundesjustizministerium an, endlich Digitalisierung voran(?)zutreiben. Deutschland wird digital und wir freuen uns riesig darauf.

Ein Grund zur Freude: Deutschland wird digital

Wird Deutschland wirklich digital? Sind wir doch schon längst. Zum Beispiel die Bundesagentur mit dem Portal für das Kindergeld. Schade nur, dass es nicht funktioniert: Acht Wochen nach Erhalt des Papierbescheids, dass das Kindergeld wegen (angeblichen) Ausbildungsendes entfalle, findet man online immer noch den Status "Kindergeldanspruch aktiv bis ..." vor. Nach dem Hochladen der entsprechenden Nachweise zahlt die Bundesagentur selbst 12 Wochen später immer noch nicht aus. Es braucht ein Fax (!) mit allen Anlagen und in 14 Tagen ist das Geld auf dem Konto (freilich nicht rückwirkend).

Wird Deutschland wirklich digital? Sind wir doch längst. Man lese § 26 MuSchG: "In Betrieben ... hat der Arbeitgeber eine Kopie dieses Gesetzes ... auszulegen oder auszuhängen. Dies gilt nicht, wenn er das Gesetz für die Personen, die bei ihm beschäftigt sind, in einem elektronischen Verzeichnis jederzeit zugänglich gemacht hat." Na also, geht doch. Eine ähnliche Regelung findet sich auch in § 12 Abs. 5 AGG. Aushangpflichtige Gesetze elektronisch im Betrieb verfügbar machen - das lesen wir jetzt überall. Moment, überall? Nicht ganz: § 16 ArbZG lässt das nicht zu. § 47 JArbSchG auch nicht. Da muss noch ausgelegt und ausgehängt werden.

Deutschland wird ein wenig digital

Den "digitalen Aushang" gibt es auch nicht im Tarifvertragsgesetz, zumindest nicht ausdrücklich: "Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die im Betrieb anwendbaren Tarifverträge ... im Betrieb bekanntzumachen." Dazu passend lesen wir in § 7: "Die Tarifvertragsparteien sind verpflichtet, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales innerhalb eines Monats nach Abschluss kostenfrei die Urschrift oder eine beglaubigte Abschrift sowie zwei weitere Abschriften eines jeden Tarifvertrags und seiner Änderungen zu übersenden ... Sie sind ferner verpflichtet, den obersten Arbeitsbehörden der Länder, auf deren Bereich sich der Tarifvertrag erstreckt, innerhalb eines Monats nach Abschluss kostenfrei je drei Abschriften des Tarifvertrags und seiner Änderungen zu übersenden." Hm, so sieht also Digitalisierung aus. Übrigens: Einige Tarifregister der Länder bitten ausdrücklich darum, nur elektronische Fassungen zu senden, keine Papierexemplare. Ist das gegen den Gesetzeswortlaut oder Auslegungssache?

Wird Deutschland wirklich ein wenig digital?

Nein. Deutschland wird nicht digital. Nicht im Arbeitsrecht. Ein Beispiel ist § 77 BetrVG: "Werden Betriebsvereinbarungen in elektronischer Form geschlossen, haben Arbeitgeber und Betriebsrat abweichend von § 126a Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs dasselbe Dokument elektronisch zu signieren." Ein Rohrkrepierer. Ich kenne praktisch kein Unternehmen, das die qualifizierte elektronische Unterschrift nutzen kann – schon aus EDV-technischen Gründen nicht, aber auch aus Kostenerwägungen. Betriebsratssitzungen sind digital nur möglich, wenn nicht eine Sperrminorität von 25 Prozent der Mitglieder eine Präsenzsitzung verlangt. Ähnlich sieht es bei den Betriebsversammlungen aus: Eine Regelung, dass diese zukunftsgerichtet digital abgehalten werden können, fehlt nach wie vor. Die pandemiebedingte Ausnahmeregelung für virtuelle Betriebsversammlungen endet am 7. April 2023.

Wird Deutschland wirklich digital? Nein, ganz im Gegenteil. Am 20. Juli 2022 ist dieser Hoffnung der Garaus gemacht worden: Das neue Nachweisgesetz fordert in § 2 "die Niederschrift zu unterzeichnen" und legt audrücklich fest "Der Nachweis der wesentlichen Vertragsbedingungen in elektronischer Form ist ausgeschlossen." Was bisher nur für Aufhebungsvereinbarungen und Kündigungen sowie befristete Arbeitsverträge galt, gilt seit diesem dunklen Tag der Arbeitsrechtsgeschichte auch für den Nachweis. Für die teils unterirdischen Begründungen im Anhörungsverfahren, dass es den Beschäftigten nun dadurch ermöglicht wird, alle Papiere zusammenzuhalten, ist "peinlich" noch das freundlichste Wort. Als ob ein mit Faksimile ausgedrucktes Vertragsexemplar nicht ebenso leicht (oder schwer) aufzubewahren wäre. Aber es sind ja nur die Unternehmen, die dafür Jahr für Jahr die eine oder andere Milliarde ausgeben müssen.

Mittlerweile wird mir jedoch die Logik klar: Der Arbeitgeber ist es, der "das bei der Kündigung des Arbeitsverhältnisses von Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzuhaltende Verfahren" (§ 2 Abs. 1 Nr. 14 NachwG) dem Arbeitnehmer schriftlich nachweisen muss. Klar, der Gesetzgeber kann sich dann ersparen, die Gesetze, die der Arbeitgeber ausdrucken und unterschreiben muss, selbst unters Volk zu bringen.

Gibt es überhaupt einen Grund zur Freude?

Sicher - aber nicht im Arbeitsrecht. Was in ganz Europa funktioniert, nämlich der elektronische Nachweis: bei uns nicht möglich. Was für die Seeschifffahrt gilt, nämlich die Möglichkeit elektronischer Betriebsratssitzungen: für uns "Landratten" in Deutschland Fehlanzeige.

Wenn wir uns also freuen wollen, dann besser über etwas anderes. Oder für etwas anderes oder für jemand anderes: Ja, ich freue mich für all die Nachbarn in den Ländern um uns herum, bei denen all diese Fragen längst gelöst sind. Und ich freue mich, dass eine nächste Bundesregierung es ganz einfach haben wird, uns Arbeitsrechtspraktikern das Leben zu erleichtern – ohne jedwede Einschränkung von Schutzrechten für Arbeitnehmende.

Oder sollte womöglich die jetzige Bundesregierung das Thema noch aufgreifen? Ein neues Jahr für gute Vorsätze steht an - das wäre eine Gelegenheit. Also, BMAS, mach uns die Freude!


Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller, Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU), sowie Vorstand und Arbeitsdirektor bei ABB, blickt in seiner Kolumne aus der Unternehmenspraxis auf arbeitsrechtliche Themen und Trends.

Schlagworte zum Thema:  Arbeitsrecht, Digitalisierung