Kein Anspruch auf Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen
Gewerkschaften haben keinen Anspruch darauf, dass ein von ihnen ausgehandelter Tarifvertrag in der ganzen Branche für allgemeinverbindlich erklärt wird. Aus der im Grundgesetz geschützten Tarifautonomie ergibt sich kein solches Recht, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Beschluss vom 10. Januar feststellte. Nach dem Tarifvertragsgesetz können Tarifverträge durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) für allgemeinverbindlich erklärt werden. Sie gelten dann nicht nur für die Tarifvertragsparteien und ihre Mitglieder, sondern für alle Unternehmen der betreffenden Branche.
BAG hatte Allgemeinverbindlicheitserklärung für unwirksam erklärt
Im vom BVerfG entschiedenen Fall ging es um das Baugewerbe. Dort sind Tarifverträge über Sozialkassen des Baugewerbes geschlossen worden. Diese Kassen sind gemeinsame Einrichtungen der Tarifparteien. Sie erbringen im Bereich des Urlaubs, der Altersversorgung und der Berufsbildung Leistungen, die wegen Besonderheiten der Baubranche sonst nicht oder nur eingeschränkt zu bekommen wären. Finanziert wird dies über Beiträge der Arbeitgeber, die im Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) festgelegt sind.
Grundsätzlich ist die Beitragspflicht auf solche Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber beschränkt, die wegen ihrer Mitgliedschaft in einem tarifschließenden Verband an den VTV gebunden sind. Allerdings wurde der VTV in der Vergangenheit regelmäßig vom BMAS im Einvernehmen mit dem zuständigen Ausschuss für allgemeinverbindlich erklärt, damit auch die nicht tarifgebundene Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu Beiträgen herangezogen werden konnten.
Mit Beschluss vom 21. September 2016 erklärte das Bundesarbeitsgericht die Allgemeinverbindlicherklärungen der Jahre 2008 und 2010 für unwirksam, weil die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlichkeit nach dem damals geltenden TVG nicht vorlagen. Gegen diese Entscheidung legte die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) Verfassungsbeschwerde ein um den Beschluss der obersten Arbeitsrichter aus Erfurt für nicht rechtens erklären zu lassen.
Grundgesetz gibt keinen Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen
Die Verfassungsbeschwerde blieb jedoch erfolglos. Die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG), so das BVerfG in seiner Entscheidung, schütze zwar das Recht, mit einem Tarifvertrag auch Nichtmitglieder zu verpflichten. Einen Anspruch darauf gebe es aber nicht.
Der Erste Senat des BVerfG argumentierte, der Staat dürfe seine Normsetzungsbefugnis nicht beliebig außerstaatlichen Stellen, in diesem Fall den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, überlassen. Sonst seien die Bürger Akteuren ausgeliefert, die ihnen gegenüber nicht demokratisch oder mitgliedschaftlich legitimiert seien. Art. 9 Abs. 3 GG enthalte insofern kein Gebot, jedem Vorhaben der Tarifparteien zum praktischen Erfolg zu verhelfen, entschied der Erste Senat. Das Grundrecht garantiere vielmehr eine Chance für sie, mit ihrer Tätigkeit die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu fördern. Entsprechend sind die grundgesetzlichen Rechte einer Tarifpartei nach Auffassung der Verfassungsrichter auch nur dann verletzt, wenn ihr diese Chance verwehrt wird. Anzeichen dafür konnte das BVerfG in diesem Fall allerdings nicht erkennen. Die Anforderungen, die das BAG an die allgemeinverbindlichen Tarifverträge gestellt hat, ließen die Ziele der Koalitionen nicht leerlaufen.
Der Gesetzgeber hatte bereits direkt nach der Entscheidung des BAG reagiert und noch 2017 eine eigene Rechtsgrundlage für die Allgemeingültigkeit des Sozialkassenverfahrens geschaffen, nicht nur für das Baugewerbe, sondern auch für andere Branchen. Anderenfalls hätten die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber ihre Beiträge zurückverlangen können, was für die Sozialkassen existenzbedrohend gewesen wäre.
Hinweis: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. Januar 2020, Az. 1 BvR 4/17
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