Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 25.04.1989)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. April 1989 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger als Omnibusfahrer den Berufsschutz eines Facharbeiters genießt und ihm danach für die Zeit vom 1. Februar 1982 bis 31. Mai 1987 Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) zusteht.

Der am 24. Mai 1924 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war seit 1950 zunächst Schaffner, später als Omnibusfahrer im Liniendienst bei einem Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs beschäftigt. Die Tätigkeit des Busfahrers übte der Kläger bis Juli 1981 aus. Er war fortan arbeitsunfähig. In der Zeit vom 30. Dezember 1981 bis zum 27. Januar 1982 unterzog sich der Kläger einem Heilverfahren. Aus dem Heilverfahren wurde der Kläger als arbeitsunfähig für die Berufstätigkeit als Busfahrer entlassen.

Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw BU mit Bescheid vom 7. Dezember 1982 ab.

Das Sozialgericht (SG) hat die daraufhin erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 4. Juni 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 25. April 1989). Es hat offengelassen, ob der Kläger seinen bisherigen Beruf als Omnibusfahrer im Liniendienst (Stadtverkehr), den er bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im Juli 1981 ausgeübt habe, weiterhin verrichten könne. Mit seinem verbliebenen Leistungsvermögen könne der Kläger jedenfalls noch Arbeiten verrichten, die ihm ausgehend von seinem bisherigen Beruf zumutbar seien. Der Beruf des Omnibusfahrers im Liniendienst sei der eines angelernten Arbeiters. Er unterscheide sich vom Beruf des Berufskraftfahrers insbesondere in Ausbildungszeit und Ausbildungsinhalt und sei diesem nicht gleichzustellen.

Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das LSG habe das von der Rechtsprechung des BSG entwickelte Mehrstufenschema unrichtig angewandt.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 4. Juni 1984 sowie den Bescheid der Beklagten vom 7. Dezember 1982 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1. Februar 1982 bis 31. Mai 1987 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu leisten und ihm hierüber einen neuen Bescheid zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.

Das LSG hat bei seiner Entscheidung § 1246 Abs 2 RVO nicht richtig angewandt.

Gemäß § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Hierbei umfaßt gemäß § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Zutreffend hat das LSG als bisherigen Beruf des Klägers den des Omnibusfahrers angesehen. Bei seiner Entscheidung hat es offengelassen, ob der Kläger diesen Beruf weiter ausüben kann; denn jedenfalls sei ein Omnibusfahrer nicht als Facharbeiter, sondern als angelernter Arbeiter anzusehen, der auf die dem Kläger noch möglichen leichten Arbeiten verwiesen werden könne. Die vom LSG getroffenen Feststellungen sind indes nicht ausreichend, um über den qualitativen Wert des bisherigen Berufs des Klägers (Facharbeiter oder ungelernter Arbeiter im Sinne des LSG) entscheiden zu können. Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß der Kläger als Omnibusfahrer nicht einem Berufskraftfahrer mit Prüfung nach der Ausbildungsordnung für die Berufskraftfahrer gleichzustellen sei. Es hat festgestellt, daß er nur drei Monate für seinen Beruf ausgebildet worden sei und diese Ausbildung sich auch nicht an den Bestimmungen der Ausbildungsordnung für den Beruf des Berufskraftfahrers orientiert habe. Es hat offengelassen, ob für den Beruf des Omnibusfahrers ein Mindestalter von 23 Jahren bestehe; denn solchenfalls könne der Kläger allenfalls zur Gruppe der Angelernten im oberen Bereich mit einer Ausbildungszeit von bis zu zwei Jahren zugeordnet werden. Diese Überlegungen tragen die vom LSG gezogene Schlußfolgerung jedoch nicht.

Die Rechtsprechung des BSG hat zur Entscheidung der Frage der BU iS von § 1246 Abs 2 RVO die bisherigen Berufe der Versicherten nach ihrer Wertigkeit in verschiedene Gruppen eingeteilt. Die Einteilung in diese Gruppen bestimmt dabei auch die Berufstätigkeit, auf die der Versicherte verwiesen werden kann. Die von der Rechtsprechung hierfür zugrunde gelegten Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die die Ausbildung für die Qualität eines Berufs hat, gebildet worden. Sie sind charakterisiert durch den Leitberuf des Vorarbeiters in Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstige Ausbildungsberufe mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters. Bei der Anwendung dieses Schemas auf konkrete Berufstätigkeiten stand bisher in der Regel die Frage im Vordergrund, welche Dauer eine rechtlich vorgeschriebene Fachausbildung haben muß, um auf ihrer Grundlage einem Versicherten den Status des Facharbeiters zuerkennen zu können. Dabei wurde als gedankliche Voraussetzung von der Annahme ausgegangen, daß die Dauer einer Ausbildung gleichbedeutend mit dem Maß an beruflicher Qualifikation ist, das die Ausbildung dem Versicherten vermittelt.

Von allen Senaten des BSG, die für die Arbeiterrentenversicherung zuständig und an der Entwicklung des Vier-Stufen-Schemas beteiligt waren, ist aber immer wieder deutlich gemacht worden, daß ausschlaggebend für die Zuordnung einer bestimmten Tätigkeit zu einer der Gruppen des Schemas allein die Qualität der verrichteten Arbeit ist, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Grundlage für die Bestimmung der Qualität einer Arbeit in diesem Sinne sind die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO am Ende genannten Merkmale der Dauer und des Umfangs der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit. Es kommt also auf ein Gesamtbild an.

In diesem Rahmen hat das BSG der tariflichen Einstufung eine doppelte Bedeutung beigemessen: zum einen für die abstrakte – „tarifvertragliche” – Klassifizierung einer Tätigkeitsart (iS eines verselbständigten Berufsbildes) innerhalb eines nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrags (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 46, 111, 115, 116, 122, 123, 164), zum anderen für die – „tarifliche” – Zuordnung der konkreten,

zuletzt ausgeübten Tätigkeit eines Versicherten zu einer Berufssparte und hierüber zu einer bestimmten Tarifgruppe des jeweils geltenden Tarifvertrages (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 168, 169). Nach Sachgehalt und Geltungsumfang ist diese Beachtlichkeit der tariflichen Einstufung für die Wertigkeit einer Arbeit jedoch in beiden Bereichen verschieden.

Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Berufsart im Tarifvertrag aufführen und einer Tarifgruppe zuordnen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß die tarifvertragliche Einstufung der einzelnen in einer Tarifgruppe genannten Tätigkeiten auf deren Qualität beruht (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 46, 111, 115, 116, 122, 123, 164). Denn die Tarifpartner als die unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligten nehmen relativ zuverlässig eine Bewertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen auch des Mehrstufenschemas und der Qualität des Berufs in bezug auf die nach § 1246 Abs 2 RVO maßgeblichen Merkmale entspricht. Demgemäß läßt die abstrakte (tarifvertragliche) Einordnung einer bestimmten Berufstätigkeit in eine Tarifgruppe, die hinsichtlich der Qualität der in ihr aufgeführten Arbeiten durch den Leitberuf des Facharbeiters geprägt ist, in der Regel den Schluß zu, daß diese Berufstätigkeit als Facharbeitertätigkeit zu qualifizieren ist. Der hierauf zielenden ständigen Rechtsprechung des 5. Senats des BSG (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 111, 116, 122, 123, 164) schließt sich der erkennende Senat an. Von dem Grundsatz, daß von der tariflichen Einstufung einer Berufsart auszugehen ist, werden in der Rechtsprechung des BSG Ausnahmen nur anerkannt, wenn die Einstufung durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt ist (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 101, 123 und Urteil vom 14. Mai 1991 – 5 RJ 82/89 – zur Veröffentlichung vorgesehen).

Der tariflichen Zuordnung des einzelnen Versicherten durch den Arbeitgeber kommt demgegenüber eine andere Bedeutung zu. Sie ist zwar ein Indiz dafür, daß die von dem Versicherten ausgeübte Tätigkeit in ihren Merkmalen und ihrer Wertigkeit der Berufs- und Tarifgruppe entspricht, nach der er bezahlt wird. Die Richtigkeit dieser tariflichen Einstufung kann insoweit aber durchaus widerlegt werden (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 77, 151).

Der 4. Senat des BSG ist allerdings in seinen Entscheidungen vom 21. Juli und 7. Oktober 1987 (SozR 2200 § 1246 Nrn 143, 149) einen anderen Weg gegangen, indem er eine tariflich als Facharbeitertätigkeit eingestufte Berufstätigkeit mit Ausbildungszeit unter zwei Jahren nicht als Facharbeitertätigkeit angesehen, sondern der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters zugeordnet hat. Der 5. Senat des BSG ist dieser Rechtsprechung nicht gefolgt (Urteil vom 27. April 1989, SozR 2200 § 1246 Nr 164). Auch nach der Überzeugung des erkennenden Senats hat der 4. Senat dem Merkmal der Dauer der Ausbildung eine im Gesetz nicht angelegte überragende Bedeutung beigemessen (SozR aaO Nr 149). Das Gesetz gibt keine Auskunft dazu, welche Ausbildungsdauer welche Bedeutung hat. Hier hat die Rechtsprechung durch die Bildung der Leitberufe den Gesetzesbegriff näher spezifiziert.

Angesichts der Bedeutung, die der tariflichen Einstufung einer Berufstätigkeit danach zukommt, ist es notwendig festzustellen, wie die Berufstätigkeit des Klägers tarifvertraglich eingestuft ist. Dies muß jedenfalls dann gelten, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, daß die Berufstätigkeit im Tarifvertrag als solche besonders genannt ist, wie dies zB auch bei bestimmten Tätigkeiten bei Bundesbahn und Bundespost der Fall ist. Das gilt selbst dann, wenn für das Berufsbild eine Ausbildungsverordnung nach dem Berufsbildungsgesetz vom 14. August 1969 (BGBl I 1112) besteht, wie dies für Kraftfahrer der Fall ist (Verordnung über die Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer vom 26. Oktober 1973 – BGBl I 1518 –). Auch bei Kraftfahrern bestehen unabhängig vom Ablegen der Berufskraftfahrerprüfung wegen der unterschiedlichen Anforderungen häufig besondere tarifvertragliche Einstufungen, wie sich schon aus der veröffentlichten Rechtsprechung ergibt (vgl zB SozR 2200 § 1246 Nrn 135 und 151). Ohne die Feststellung der tarifvertraglichen Einstufung der Berufstätigkeit ist es sonach nicht möglich, die Qualität des bisherigen Berufs des Klägers im Rahmen des Berufsgruppenschemas zu beurteilen.

Soweit der 4. Senat in seinem Urteil vom 21. Juli 1987 (SozR 2200 § 1246 Nr 143) den Berufskraftfahrer als angelernten Arbeiter im Sinne des Berufsgruppenschemas angesehen hat, und zwar ohne weitere Feststellungen zur tariflichen Einstufung eines solchen für notwendig zu halten, folgt der Senat dem nicht. Eine Anfrage bzw Vorlage an den Großen Senat des BSG wegen einer möglichen Abweichung von der Rechtsprechung ist nicht notwendig, da der 4. Senat nicht mehr für Streitsachen aus dem Gebiet der Rentenversicherung der Arbeiter zuständig ist.

Soweit aus dem Urteil des 5. Senats vom 21. September 1988 (SozR 2200 § 1246 Nr 159) vom LSG entnommen worden ist, daß Berufskraftfahrer jedenfalls dann keine Facharbeiter sind, wenn es sich bei dieser Tätigkeit nicht um einen Erwachsenenberuf handele, und deshalb die tarifliche Einstufung eines Kraftfahrers unerheblich sei, kann dem nicht gefolgt werden. Eine solche Aussage enthält das zitierte Urteil nicht. Dies hat auch der 5. Senat in seinem Urteil vom 14. Mai 1991 (5 RJ 59/90) klargestellt. In dem entschiedenen Fall konnte, wie sich aus dem Sachverhalt ergibt, die tarifliche Einstufung des betreffenden Kraftfahrers nicht geprüft werden, da dieser als Kraftfahrer allein in Dänemark beschäftigt gewesen war.

Im vorliegenden Fall erübrigen sich Feststellungen zur tariflichen Einstufung der Berufstätigkeit des Klägers auch nicht aus anderen Gründen. Der Kläger hat im Revisionsverfahren vorgetragen, seine Berufstätigkeit sei tariflich wie eine Facharbeitertätigkeit eingestuft.

Das LSG wird deshalb für seine erneute Entscheidung zunächst die tarifvertragliche Einstufung des Berufs „Omnibusfahrer” feststellen müssen. Sollte sich dabei herausstellen, daß die Tätigkeit eines Omnibusfahrers in dem für den Kläger maßgebenden Tarifvertrag in einer Tarifgruppe erfaßt ist, die durch Facharbeiter im Sinne der Rechtsprechung geprägt ist, so gehört auch die Berufstätigkeit „Omnibusfahrer” in die Berufsgruppe, die durch den Leitberuf des Facharbeiters gekennzeichnet ist, es sei denn, diese Einstufung beruht auf qualitätsfremden Merkmalen. Wegen der von Sonderlohngruppen im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs, dh einem Bereich der dem Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter der Gemeinden unterfällt, wird auch auf das Urteil des BSG vom 14. Mai 1991 (5 RJ 41/90) hingewiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173084

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