Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 12.04.1990)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 12. April 1990 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).

Der 1940 geborene Kläger erlernte in Jugoslawien den Beruf des Tischlers. In der Bundesrepublik Deutschland arbeitete er von 1966 bis 1977 als Tischler und Zimmerer. Seit November 1977 war er als Busfahrer im öffentlichen Nahverkehr bei der H. H. A. beschäftigt. Die innerbetriebliche Einarbeitung dauerte 4 1/2 Monate. Seit Juni 1985 ist der Kläger arbeitsunfähig. Seinen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) bzw BU lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 17. November 1986 und Widerspruchsbescheid vom 15. April 1987).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen BU ab 1. September 1986 verurteilt (Urteil vom 18. Oktober 1988). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Anschlußberufung des Klägers (auf Gewährung von EU-Rente) hat es zurückgewiesen: Bisheriger Beruf des Klägers sei der des Busfahrers. Als Busfahrer sei der Kläger in die Gruppe der angelernten Arbeiter einzuordnen. Entscheidendes Abgrenzungskriterium zur darüberliegenden Gruppe der Facharbeiter sei die Dauer der Ausbildung. Erst eine Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren führe zum Facharbeiterstatus. Der Kläger sei bei seinem Arbeitgeber intern nur wenige Monate für den Einsatz als Busfahrer ausgebildet worden. Auch die durch mehrjährige berufliche Praxis als Busfahrer und tarifliche Einstufung etwa herbeigeführte Gleichstellung mit einem nach der Verordnung über die Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer ausgebildeten Versicherten würde an der Eingruppierung nichts ändern. Auch Absolventen der regulären Ausbildung würden rentenversicherungsrechtlich nur als angelernte Arbeiter gelten. Von der Einstufung sei auch im Hinblick darauf keine Ausnahme zu machen, daß es Erwachsenenberufe gebe, bei denen bereits eine Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren zum Berufsschutz eines Facharbeiters führe. Der Kläger könne noch als Pförtner zumutbar arbeiten (Urteil vom 12. April 1990).

Gegen dieses Urteil richtet sich die – vom LSG zugelassene – Revision des Klägers.

Der Kläger rügt eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil mit der Maßgabe abzuändern, daß die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hamburg vom 18. Oktober 1988 zurückgewiesen wird.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die von dem LSG getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.

Das LSG hat bei seiner Entscheidung § 1246 Abs 2 RVO nicht richtig angewandt.

Zutreffend hat es als bisherigen Beruf des Klägers den des Busfahrers angesehen. Diesen Beruf kann er nach den Feststellungen des LSG mit dem ihm verbliebenen körperlichen und geistigen Leistungsvermögen nicht mehr ausüben. Um entscheiden zu können, ob der Kläger berufsunfähig ist, ist die Qualität seines bisherigen Berufs festzustellen und dann zu prüfen, ob er mit dem verbliebenen Leistungsvermögen noch zumutbare Tätigkeiten verrichten kann. Die vom LSG getroffenen Feststellungen sind nicht ausreichend, um über den qualitativen Wert des bisherigen Berufs des Klägers entscheiden zu können. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger nur wenige Monate für seinen Beruf ausgebildet worden ist und nicht die Wettbewerbsfähigkeit mit einem Berufskraftfahrer der Richtung Personenverkehr gehabt hat. Aufgrund dieser Feststellungen, die von der Revision nicht angegriffen und deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) hat es entschieden, daß der bisherige Beruf des Klägers zur Berufsgruppe der durch den Leitberuf des angelernten Arbeiters charakterisierten Berufe gehört und nicht zu der Berufsgruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters. Für diese Schlußfolgerung reichen die Feststellungen nicht aus.

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat zur Entscheidung der Frage der Berufsunfähigkeit iS von § 1246 Abs 2 RVO die bisherigen Berufe der Versicherten nach ihrem qualitativen Wert in verschiedene Gruppen eingeteilt. Der qualitative Wert eines Berufs bestimmt dabei in bezug auf den bisherigen Beruf die Gruppe der Berufstätigkeiten, auf die der Versicherte verwiesen werden kann. Der qualitative Wert der in Betracht kommenden Verweisungsberufe wiederum bestimmt, ob sie den Versicherten unter Berücksichtigung ihres bisherigen Berufs zumutbar sind. Die von der Rechtsprechung dabei zugrunde gelegten Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die die Ausbildung für die Qualität eines Berufs hat, gebildet worden. Dies sind die Berufsgruppen, die charakterisiert sind, durch den Leitberuf des Vorarbeiters in Vorgesetztenfunktionen, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstige Ausbildungsberufe mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des „ungelernten Arbeiters”. Von allen Senaten, die in Angelegenheiten der Arbeiterrentenversicherung zuständig waren, ist aber stets betont worden, daß diese auf die Ausbildungsdauer und – bei der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters mit Vorgesetztenfunktionen – auch auf die Qualität der Arbeit abstellende Berufsgruppeneinteilung nur Leitberufe kennzeichnet. Als wesentliches Merkmal für die Qualität eines Berufs im Rahmen dieses Berufsgruppenschemas hat die Rechtsprechung stets auch die tarifliche Einstufung einer Tätigkeit durch die Tarifvertragsparteien angesehen (vgl zB die Urteile des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1246 Nrn 16, 111, 116, 122, 123, 129, 164, des 4. Senats des BSG = SozR aaO Nrn 46, 99 und des 1. Senats des BSG = SozR aaO Nr 102). Die Einstufung einer Berufstätigkeit, die keine oder eine Ausbildung von weniger als zwei Jahren erfordert, in eine Tarifgruppe, die gekennzeichnet ist durch die Berufsgruppe mit dem Leitberuf eines Facharbeiters, bedingt dabei in der Regel, daß auch diese Berufstätigkeit qualitativ wie ein Facharbeiterberuf zu bewerten ist. An dieser vom erkennenden Senat in ständiger Rechtsprechung vertretenen Ansicht (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 111, 116, 122, 123 und 164) wird festgehalten.

Der 4. Senat des BSG hat allerdings in seinen Entscheidungen vom 21. Juli und 7. Oktober 1987 (SozR 2200 § 1246 Nrn 143 und 149) diese Rechtsprechung der Sache nach aufgegeben, indem er eine tariflich als Facharbeitertätigkeit eingestufte Berufstätigkeit mit kürzerer Ausbildungszeit nicht als Facharbeitertätigkeit angesehen hat, sondern der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters zugeordnet hat. Der Senat ist dieser Rechtsprechung aber nicht gefolgt (vgl das Urteil des Senats vom 27. April 1989, SozR 2200 § 1246 Nr 164) und sieht hierzu auch weiterhin keine Veranlassung. Der 4. Senat mißt dem Merkmal der Dauer der Ausbildung eine überragende Bedeutung zu, da es im Gesetz besonders erwähnt ist (SozR aaO Nr 149). Schon das Gesetz sagt aber nicht, welche Ausbildungdauer welche Bedeutung hat. Hier hat die Rechtsprechung durch die Bildung der Leitberufe den Gesetzesbegriff erst anwendbar gemacht. Neben diesem Merkmal stellt das Gesetz aber auch noch auf den Umfang der Ausbildung und die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit ab. Selbst wenn man den Begriff des Umfangs der Ausbildung allein in dem Sinne versteht, daß damit die besondere Bedeutung einer mehr Wissen vermittelnden im Gegensatz zur mehr Fertigkeiten (ein)übenden Ausbildung gemeint ist (vgl etwa Döring, Bundessozialgerichts-Rechtsprechung und Ausbildungsberufe in: Die Sozialversicherung 1984, S 117) ist dieser Begriff praktisch nicht quantifizierbar und damit für Verwaltung und Rechtsprechung nicht berufsübergreifend einheitlich handhabbar. Auch die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit sind nicht quantifizierbar, selbst wenn sie nur auf die jeweiligen Berufe in dem Sinne bezogen werden, daß zB Merkmale wie Zuverlässigkeit oder Reaktionsschnelligkeit, die für den Beruf notwendig sind, als qualifizierend angesehen werden. Gerade weil die Rechtsprechung davon ausging, daß die neben der Dauer der Ausbildung in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO genannten Merkmale von den Tarifparteien in der Tarifgestaltung jedenfalls zuverlässiger bewertet werden, als die Verwaltung und Rechtsprechung dies tun könnten, hat der Senat der tariflichen Gleichstellung von Tätigkeiten ohne vorgeschriebene oder mit nur relativ kurzer Ausbildung mit Ausbildungstätigkeiten im herkömmlichen Sinn eine maßgebende Bedeutung beigemessen (vgl hierzu auch eingehend das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage in der Sache 5 RJ 82/89). Der Senat hat dementsprechend den Kraftfahrer, der nach seinen Tätigkeitsmerkmalen in die im Anhang zum Bundesrahmentarifvertrag des Baugewerbes aufgeführte Lohngruppe M IV/2 eingestuft ist, nicht zur Berufsgruppe der Facharbeiter gerechnet, weil dies keine Facharbeiterlohngruppe ist (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 151).

Angesichts der Bedeutung, die der tariflichen Einstufung einer Berufstätigkeit danach zukommt, ist es notwendig, festzustellen, wie die betreffende Berufstätigkeit tariflich eingestuft ist, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, daß die Berufstätigkeit tarifvertraglich als solche besonders eingestuft ist, wie dies zB auch bei bestimmten Tätigkeiten bei Bundesbahn und Bundespost der Fall ist. Dies gilt selbst dann, wenn für das Berufsbild eine Ausbildungsverordnung nach dem Berufsbildungsgesetz vom 14. August 1969 (BGBl I 1112) besteht, wie dies für Kraftfahrer der Fall ist (Verordnung über die Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer vom 26. Oktober 1973 – BGBl I 1518 –). Auch bei Kraftfahrern besteht eine solche besondere tarifvertragliche Einstufung häufig, wie sich schon aus der veröffentlichten Rechtsprechung ergibt (vgl zB SozR 2200 § 1246 Nrn 135 und 151). Das LSG ist ebenfalls davon ausgegangen, daß die Berufstätigkeit des Klägers als solche, dh unabhängig von der für die Lohnzahlung erheblichen konkreten tariflichen Einstufung des Klägers durch den Arbeitgeber, besonders tariflich erfaßt ist. Ohne die Feststellung der tarifvertraglichen Einstufung der Berufstätigkeit ist es sonach nicht möglich, die Qualität des bisherigen Berufs des Klägers im Rahmen des Berufsgruppenschemas zu beurteilen.

Soweit der 4. Senat in seinem Urteil vom 21. Juli 1987 (SozR 2200 § 1246 Nr 143) den Berufskraftfahrer als angelernten Arbeiter im Sinne des Berufsgruppenschemas angesehen hat und zwar ohne weitere Feststellungen zur tariflichen Einstufung eines solchen für notwendig zu halten, folgt der Senat dem nicht. Einer Anfrage bzw Vorlage an den Großen Senat des BSG wegen einer möglichen Abweichung von der Rechtsprechung ist nicht notwendig, da der 4. Senat nicht mehr für Streitsachen aus dem Gebiet der Rentenversicherung der Arbeiter zuständig ist.

Soweit aus dem Urteil des Senats vom 21. September 1988 (SozR 2200 § 1246 Nr 159) vom LSG entnommen worden ist, daß Berufskraftfahrer jedenfalls dann keine Facharbeiter sind, wenn es sich bei dieser Tätigkeit nicht um einen Erwachsenenberuf handelt und das LSG davon ausgegangen ist, daß deshalb die tarifliche Einstufung eines Kraftfahrers unerheblich sei, ist letzteres in dem Urteil nicht ausdrücklich ausgesprochen worden. Das Urteil konnte allerdings wegen der Ausführungen im letzten Absatz (SozR aaO S 518) so zu verstehen gewesen sein, als ob der Senat damit seine bisherige Rechtsprechung zur Bedeutung der tariflichen Einstufung bei Anwendung des § 1246 Abs 2 RVO aufgeben wollte. Dies sollte durch das Urteil indes nicht geschehen. In dem entschiedenen Fall konnte, wie sich aus dem Sachverhalt ergibt, die tarifliche Einstufung des betreffenden Kraftfahrers nicht geprüft werden, da dieser als Kraftfahrer allein in Dänemark beschäftigt gewesen war.

Im vorliegenden Fall erübrigen sich Feststellungen zur tariflichen Einstufung der Berufstätigkeit des Klägers auch nicht aus anderen Gründen. Der Kläger hat im Revisionsverfahren vorgetragen, seine Berufstätigkeit sei tariflich wie eine Facharbeitertätigkeit eingestuft. Es kann auch nicht dahingestellt bleiben, ob der bisherige Beruf des Klägers als Facharbeiter- oder Anlerntätigkeit zu beurteilen ist. Das LSG hat, von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht, lediglich geprüft, ob der Kläger noch eine Tätigkeit als Pförtner verrichten kann. Diese Verweisungstätigkeit wäre ihm, ausgehend vom Berufsschutz als Facharbeiter, nicht zumutbar.

Das LSG wird deshalb für seine erneute Entscheidung zunächst die tarifliche Einstufung des Klägers feststellen müssen. Sollte sich dabei herausstellen, daß die Tätigkeit eines Omnibusfahrers in dem für den Kläger maßgebenden Tarifvertrag in einer Tarifgruppe erfaßt ist, die durch Facharbeiter im Sinne der Rechtsprechung geprägt ist, so gehört auch die Berufstätigkeit des Klägers als Omnibusfahrer in die Berufsgruppe, die durch den Leitberuf des Facharbeiters gekennzeichnet ist, es sei denn, diese Einstufung beruht auf qualitätsfremden Merkmalen. Das LSG wird gegebenenfalls weiter zu prüfen haben, ob nicht andere Tätigkeiten als Verweisungsberufe in Betracht kommen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174164

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