Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 19.03.1991; Aktenzeichen L 12/J 1294/87)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. März 1991 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Unter den Beteiligten ist die Rückforderung einer sog „Urteilsrente” streitig.

Durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Gießen vom 9. April 1979 war die Beklagte verpflichtet worden, dem 1943 geborenen Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem 1. April 1977 auf der Grundlage eines Versicherungsfalles vom 16. März 1977 zu zahlen. In Ausführung dieses Urteils gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Januar 1980 dem Kläger ab dem 9. April 1979 die Rente. Dabei führte sie in dem Bescheid aus, daß am 6. August 1979 Berufung gegen das Urteil des SG eingelegt worden sei und die Leistung unter dem Vorbehalt der Rückforderung für den Fall der Aufhebung des Urteils stünde.

Das Hessische Landessozialgericht (LSG) sprach mit Urteil vom 18. April 1985 dem Kläger eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalles vom 16. März 1977 und eines Rentenbeginns ab dem 24. November 1982 unter Aufhebung des Urteils des SG im übrigen zu. Zuvor hatte das LSG mit Beschluß vom 5. April 1985 die Vollstreckung aus dem Urteil des SG über die Höhe des Rentenzahlbetrages einer Rente wegen BU hinaus für unzulässig erklärt.

Nunmehr forderte die Beklagte mit Bescheid vom 12. September 1985 die für die Zeit vom 24. November 1982 bis zum 31. Oktober 1985 überzahlte „Urteilsrente” vom Kläger in Höhe von 13.895,00 DM zurück.

Hiergegen hatte der Kläger am 23. September 1985 Klage erhoben. Während des Klageverfahrens berichtigte die Beklagte zunächst mit Bescheid vom 6. Januar 1986 den Bescheid vom 12. September 1985 hinsichtlich seiner Begründung und stellte – nach Ermittlung der Einkommenssituation des Klägers zwischen 1982 und 1985 unter Berücksichtigung eines etwaigen Sozialhilfeanspruchs – den erstattungspflichtigen Betrag mit Bescheid vom 18. Juli 1988 auf 11.470,69 DM fest. Desweiteren holte die Beklagte während des Klageverfahrens das Widerspruchsverfahren und die Anhörung nach, wobei der Widerspruch erfolglos blieb und als Klage an das SG weitergeleitet wurde.

Das SG hat durch Urteil vom 7. November 1990 der Klage stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG sowie die Bescheide der Beklagten vom 12. September 1985 in der Fassung der Bescheide vom 6. Januar 1986 und 18. Juli 1988 abgeändert. Es hat den Kläger verurteilt, der Beklagten einen Betrag in Höhe von 5.819,90 DM an überzahlter Rentenleistung zu erstatten.

Gegen dieses Urteil richtet sich die – vom LSG zugelassene – Revision des Klägers.

Er rügt eine Verletzung des § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und die Nichtanwendung des § 45 Abs 2 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch (SGB X).

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. März 1991 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Ersturteil zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet.

Sie ist zurückzuweisen, weil die Verfahrensrüge nicht durchgreift und die Rückforderung in Höhe von 5.819,90 DM der dem Kläger gezahlten „Urteilsrente” rechtmäßig ist.

Zu Recht hat das LSG die Berufung als zulässig erachtet.

Der Zulässigkeit der Berufung steht § 146 SGG nicht entgegen. Nach § 146 SGG ist in Angelegenheiten der Rentenversicherung die Berufung nicht zulässig, soweit sie nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Nach dieser Vorschrift wäre die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG aber nur dann ausgeschlossen gewesen, wenn das SG außer über den Angriff des Klägers gegen die im Bescheid der Beklagten verfügte Rückerstattung der überzahlten Rentenleistung über einen weiteren prozessualen Anspruch entschieden hätte, der nur auf Rente und zudem auf Rente für Zeiten gerichtet gewesen wäre, die vor der Berufungseinlegung abgelaufen sind (BSG SozR 1500 § 146 SGG Nr 18; Urteil des erkennenden Senats vom 11. Juli 1985 – 5b RJ 80/84 -SozR aaO Nr 19; für die vergleichbare Rechtslage bei Vorschüssen: BSG SozR 1200 § 42 SGB I Nr 4). Entgegen der Ansicht der Revision war hier indes nur die Rückforderung und nicht auch die Aufhebung des Leistungsbescheides Streitgegenstand. Denn auch soweit die „Urteilsrente” durch Bescheid vom 24. Januar 1980 konkretisiert wurde, wurde dieser Bescheid mit Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils hinfällig, ohne daß es einer Aufhebung bedurfte (Urteil des erkennenden Senats vom 15. Mai 1985 – 5b/1 RJ 34/84 – SozR 1500 § 154 SGG Nr 8; Urteil des 7. Senats des BSG vom 31. Oktober 1991 – 7 RAr 60/89 –). Soweit aber nur der Rückerstattungsanspruch der Beklagten als Streitgegenstand übrig geblieben ist, steht dem § 146 SGG nicht entgegen. § 146 SGG gilt nicht für Rückerstattungsansprüche wegen zu Unrecht gezahlter Renten (BSGE 34, 29, 31; BSG SozR 1200 § 42 SGB I Nr 4; Meyer-Ladewig, SGG, 4. Aufl, München 1991, RdNr 2 zu § 146 SGG).

Die nach § 24 SGB X notwendige Anhörung des Klägers ist während des Widerspruchsverfahrens zulässigerweise nachgeholt worden. Der Nachholung der Anhörung stand auch nicht entgegen, daß der Kläger den Bescheid schon mit der Klage angefochten hatte und das Widerspruchsverfahren während des Klageverfahrens nachgeholt worden ist (vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 12).

In der Sache selbst ist die Rückforderung der dem Kläger gezahlten Urteilsrente in Höhe von 5.819,90 DM rechtmäßig.

Wie der erkennende Senat – ausgehend von der Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (BSGE 57, 138 = SozR 1300 § 50 SGB X Nr 6) – bereits mehrfach entschieden hat (Urteile vom 15. Mai 1985 – 5b/1 RJ 34/84 – SozR 1500 § 154 SGG Nr 8 und vom 3. Februar 1988 – 5/5b RJ 60/86 –; ihm folgend der 7. Senat des BSG mit Urteil vom 31. Oktober 1991 – 7 RAr 60/89 –), richtet sich die Erstattung von Urteilsleistungen nach § 50 Abs 2 SGB X.

Die Leistungen, die auf ein zusprechendes aber angefochtenes Urteil der ersten Instanz hin gemäß § 154 Abs 2 SGG erfolgen und im sog Ausführungsbescheid des Versicherungsträgers der Höhe nach festgestellt werden, sind „ohne Verwaltungsakt” iS von § 50 Abs 2 SGB X zu Unrecht erbracht. Selbst wenn man aber den Ausführungsbescheid – zwar nicht dem Grunde der Leistung nach, wohl aber zur Höhe desselben – als Verwaltungsakt betrachtet, entfällt er doch mit der Aufhebung des Urteils erster Instanz im Berufungsverfahren ohne Prüfung des Vertrauensschutzes des Empfängers der sog „Urteilsrente” (BSG, Urteil des Senats vom 15. Mai 1985, aaO).

Nach § 50 Abs 2 Satz 2 SGB X iVm § 45 SGB X hatte die Beklagte im Rahmen der Geltendmachung ihres Erstattungsanspruchs eine Vertrauensschutzprüfung vorzunehmen. Deren Umfang wird durch die entsprechende Anwendung des § 45 Abs 4 Satz 1 SGB X bestimmt. Danach wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit nur in den Fällen von Abs 2 Satz 3 und Abs 3 Satz 2 des § 45 SGB X zurückgenommen. Von diesen einschränkenden Vorschriften kommt vorliegend die Nr 3 des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X zum Tragen. Danach kann sich der Kläger nicht auf Vertrauen berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Kläger die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Bei wörtlicher Auslegung ist diese Norm in Fällen der vorliegenden Art niemals erfüllt, denn der Kläger vertraut auf das erstinstanzliche Urteil und auf die Rechtmäßigkeit des Ausführungsbescheides. Dies kann indes zumindest in den Fällen nicht hingenommen werden, in denen der Kläger im Zusammenhang mit dem Ausführungsbescheid darauf hingewiesen worden ist, daß die Urteilsleistung zu erstatten ist, falls das Urteil aufgehoben wird. Ein solcher Hinweis schließt – obwohl darin keine Nebenbestimmung oder Bedingung des Verwaltungsakts im Sinne von § 32 SGB X zu erblicken ist, weil nur wiedergegeben wird, was ohnehin rechtens ist – die Gutgläubigkeit des Klägers nach Sinn und Zweck des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X aus (BSGE 57, 138, 144 = SozR 1300 § 50 SGB X Nr 6; Urteile des erkennenden Senats vom 15. Mai 1985, aaO, und vom 3. Februar 1988 – 5/5b RJ 60/86 –; BSG, Urteil des 7. Senats vom 31. Oktober 1991 – 7 RAr 60/89 –).

So verhält es sich auch im vorliegenden Fall. Die Beklagte hatte den Kläger im Ausführungsbescheid vom 24. Januar 1980 darauf hingewiesen, daß sie am 6. August 1979 Berufung gegen das Urteil des SG eingelegt habe und die Leistung unter dem Vorbehalt der Rückforderung für den Fall der Aufhebung des Urteils stehe.

Wenngleich der Kläger nicht den Vertrauensschutz des § 50 iVm § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X genießt, ist ihm nicht jeglicher Schutz versagt. Weiterer Schutz kann sich – wie der Senat bereits in seinen Urteilen vom 15. Mai 1985, aaO und vom 3. Februar 1988 hervorgehoben hat –, aus dem Gedanken des § 42 Abs 3 Nr 3 SGB I ergeben. Nach dieser Regelung ist der Erstattungsanspruch zu erlassen, wenn die Einziehung nach Lage des einzelnen Falles für den Kläger eine besondere Härte bedeuten würde (BSGE 57, 138, 145 = SozR 1300 § 50 SGB X Nr 6; BSG, Urteile des erkennenden Senats vom 15. Mai 1985, aaO und vom 3. Februar 1988 – 5/5b RJ 60/86 –, BSG, Urteil des 7. Senats vom 31. Oktober 1991 – 7 RAr 60/89 –). Dieser Mindestschutz muß auch dem Empfänger von Urteilsleistungen zuerkannt werden. Letzterer stünde sonst schlechter dar, als wenn das für ihn positive erstinstanzliche Urteil nicht ergangen wäre.

Bezogen auf den vorliegenden Fall bedeutet das: Die Rückzahlungspflicht des Klägers entfällt, soweit er ohne die Gewährung der Urteilsleistung auf die Gewährung von Sozialhilfe angewiesen wäre. Über die Sozialhilfegrenze hinaus hat das LSG dem Kläger zusätzlich den ihm für die Zeit von November 1982 bis Oktober 1985 zustehenden fiktiven Wohngeldanspruch als weiteren Minimalschutz zuerkannt. Ob dies geboten ist, kann der Senat nicht entscheiden, denn diese Frage ist im Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Durch diese Minderung des Rückforderungsanspruchs wird allein die Beklagte beschwert, die keine Revision eingelegt hat. Nach den Feststellungen des LSG hätte der Kläger ohne die Urteilsrente in der Zeit vom 24. November 1982 bis 31. Oktober 1985 Anspruch auf laufende Sozialhilfe und Wohngeld in Höhe von 8.075,01 DM gehabt. Soweit das LSG davon ausgegangen ist, daß zumindest in Höhe dieses Betrages die angegriffenen Bescheide rechtswidrig sind, ist der Kläger nicht beschwert.

Soweit die entsprechende Anwendung des § 45 SGB X innerhalb des § 50 Abs 2 SGB X eine Ermessensentscheidung erforderlich macht, ist diese nach den Feststellungen des LSG rechtsfehlerfrei vorgenommen worden.

Der Revision des Klägers muß nach alledem der Erfolg versagt bleiben (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174135

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