Leitsatz (amtlich)

Die gesetzlichen Neuregelungen der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes (§ 45 SGB 10) und der Erstattung bereits durch Verwaltungsakt erbrachter Leistungen (§ 50 Abs 1 SGB 10) rechtfertigt keine Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung des BSG zum Berufungsausschluß in Angelegenheiten der Rentenversicherung gemäß § 146 SGG (Anschluß an BSG 30.5.1985 11a RA 66/84).

 

Normenkette

SGG § 146 Fassung: 1958-06-25, § 149 Fassung: 1974-07-30; SGB 10 § 45 Fassung: 1980-08-18, § 50 Abs 1 Fassung: 1980-08-18; RVO § 1301

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 16.07.1984; Aktenzeichen L 4 J 128/83)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 29.03.1983; Aktenzeichen S 12 J 73/82)

 

Tatbestand

Die Klägerinnen wenden sich gegen die Aufhebung von Hinterbliebenenrentenbescheiden und gegen Rückzahlungsbescheide der Beklagten.

Die Klägerin zu 1) ist die geschiedene Ehefrau des am 14. Januar 1978 bei einem Verkehrsunfall (Wegeunfall) verstorbenen Versicherten H. M.. Aus der Ehe der Klägerin zu 1) mit dem Versicherten stammt die 1966 geborene Klägerin zu 2). Im März 1978 beantragte die Klägerin zu 1) Hinterbliebenenrente bei der Beklagten. Sie erklärte am 29. Juni 1978 auf Anfrage der Beklagten, sie habe wegen des tödlichen Unfalles des Versicherten auch bei der Berufsgenossenschaft Meldung gemacht, ein Leistungsbescheid sei noch nicht ergangen. Aufgrund des Bescheides vom 17. August 1978 gewährte die Berufsgenossenschaft (BG) den Klägerinnen Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung. Am 14. Juni 1978 war eine Vorschußzahlung geleistet worden, am 23. August 1978 erfolgte eine Nachzahlung. Die laufende Rente begann am 1. Oktober 1978.

Mit Bescheid vom 14. November 1978 bewilligte die Beklagte der Klägerin zu 1) "Geschiedenenwitwenrente" (§§ 1265, 1268 Abs 2 Reichsversicherung -RVO-). Unter dem gleichen Datum gewährte sie der Klägerin zu 2) Halbwaisenrente (§§ 1267, 1269 RVO). Beide Bescheide enthielten den Hinweis, daß der Bezug einer Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung mitzuteilen sei, weil dadurch eine Rentenminderung eintreten könne.

Auf Anfrage der Beklagten vom Juli 1980 teilte die BG der Beklagten mit, sie gewähre seit 1978 Leistungen an die Klägerinnen. Mit Bescheiden vom 15. April 1981 berechnete die Beklagte darauf die Hinterbliebenenrenten unter Berücksichtigung der Renten aus der Unfallversicherung nach § 1279 RVO neu und setzte die Leistungen auch für die Vergangenheit neu fest. Sie kündigte Erstattungsansprüche an. Durch Bescheide vom 12. Juni 1981 hob die Beklagte die Bescheide von 1978 erneut auf und verlangte die Überzahlungen zurück, die seit diesem Datum eingetreten waren. Die Widersprüche der Klägerinnen wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheide vom 1. April 1982), bewilligte jedoch Ratenzahlungen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Rückforderungsbescheide vom 12. Juni 1981 ganz aufgehoben und die Abänderungsbescheide vom 15. April 1981 insoweit, als durch sie die Aufhebung der Bewilligungsbescheide vom 14. November 1978 für die Zeit vom 1. April 1978 bis 31. Mai 1981 verfügt werde. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen, soweit sie die teilweise Aufhebung der Gewährung von Witwen- und Waisenrente für die Zeit bis 31. Mai 1981 betrifft. Insoweit handele es sich um Rente für bereits abgelaufene Zeiträume (§ 146 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Soweit es um die Rückforderung geht, hat es die Berufung als unbegründet zurückgewiesen. Das LSG sei an die Bescheide der Beklagten von 1978 gebunden, die weiterbestünden, nachdem das Urteil des SG die Abänderungsbescheide rechtskräftig aufgehoben habe. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil es die Frage für grundsätzlicher Art erachtet, ob auch bei Entscheidungen der SGe über Aufhebungsbescheide nach §§ 45, 48 des 10. Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) die Berufung nach § 146 SGG ausgeschlossen ist, sofern es allein um die Aufhebung der Leistungsgewährung für die Vergangenheit geht.

Die Beklagte rügt eine Verletzung der §§ 146 und 149 SGG. Sie ist der Auffassung, daß zwischen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid ein so enger Zusammenhang bestehe, daß sich die Zulässigkeit der Berufung nur nach § 149 SGG richten müsse.

Sie beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29. März 1983 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.

Die Klägerinnen beantragen, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Zu Recht hat das LSG die Berufung als unzulässig erachtet, soweit die Klage die Aufhebungsbescheide vom 15. April 1981 und 12. Juni 1981 hinsichtlich der Neufeststellung der Rente für die Vergangenheit angefochten hat. Die Klägerinnen haben diese Bescheide in der Berufungsinstanz nur noch angegriffen, soweit sie die Rente für die Vergangenheit neu feststellen. Im übrigen haben sie sich nicht mehr gegen diese Bescheide gewandt. Nach § 146 SGG ist in Angelegenheiten der Rentenversicherung die Berufung nicht zulässig, soweit sie nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Das LSG hat - ungeachtet des § 146 SGG - die Zulässigkeit der Berufung nach § 150 Nr 1 und Nr 2 SGG rechtsfehlerfrei ebenfalls verneint, was von der Beklagten mit der Revision auch nicht gerügt wird.

Mit den Bescheiden vom 12. Juni 1981 sind nicht nur für die Vergangenheit die Renten neu festgestellt, sondern auch die zurückbezahlten Beträge zurückgefordert worden. Hinsichtlich dieses Streites ist die Berufung - wie das LSG richtig ausgeführt hat - zulässig, jedoch unbegründet. Nach § 149 SGG ist die Berufung zulässig bei Streitigkeiten über die Rückerstattung von Leistungen, wenn der Beschwerdewert 1.000,00 DM übersteigt. Diese Voraussetzung ist hier gegeben. Indem das SG jedoch die Aufhebungsbescheide der Beklagten aufgehoben hat, hat es die ursprünglichen Bewilligungsbescheide wieder hergestellt, so daß die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Rückforderung nach § 50 SGB 10 fehlen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist die Berufung hinsichtlich der Bescheide vom 15. April und 12. Juni 1981, soweit sie die Neufeststellung der Rentenhöhe für die Vergangenheit betreffen, nicht deshalb entgegen § 146 SGG zulässig, weil die Berufung bezüglich des Rückforderungsbegehrens zulässig ist (§ 149 SGG). Die Zulässigkeit der Berufung bei mehreren in einer Klage zusammengefaßten Ansprüche ist für jeden Anspruch gesondert zu prüfen (vgl BSG in SozR 1500 § 146 Nrn 2, 9, 14 mwN). Eine Ausnahme ist nur zu machen, wenn zwei Ansprüche derart voneinander abhängen, daß der eine präjudiziell für den anderen ist und die Berufung nur für den präjudiziellen Anspruch statthaft ist. Die Berufung ist dann auch für den abhängigen Anspruch trotz Vorliegens eines Berufungsausschlusses zulässig (BSGE 14, 280, 281; BSG in SozR Nr 14 zu § 149 SGG; SozR 1500 § 146 Nrn 4, 14). Das gilt aber nicht für den umgekehrten Fall, daß die Berufung für den abhängigen Anspruch (Rückforderung) statthaft, für den vorrangigen (Rentenneufeststellung) aber ausgeschlossen ist (BSG in SozR 1500 § 146 Nrn 9, 14). Um den letzteren Fall handelt es sich hier, wie der erkennende Senat bereits im Urteil vom 13. September 1978 (SozR 1500 § 146 Nr 9) ausgeführt hat.

An dieser insoweit einhelligen Rechtsprechung des BSG hat sich - wie der 11. Senat mit Urteil vom 30. Mai 1985 (11a RA 66/84) bereits mit eingehender Begründung entschieden hat - seit dem Inkrafttreten des SGB 10 am 1. Januar 1981 nichts geändert. Dieser Rechtsauffassung schließt sich der erkennende Senat schon deswegen an, weil - ebenso wie § 50 Abs 1 SGB 10 - auch der bis zum 31. Dezember 1980 gültige § 1301 Satz 1 RVO die Zulässigkeit der Rückforderung - vorab vor weiteren Voraussetzungen - von der Aufhebung des die Überzahlung ergebenden Leistungsbescheides abhängig machte. Nur dann war nämlich "zu Unrecht" im Sinne dieser Vorschrift gezahlt worden. Dies hatte auch bereits nach altem Recht zur Folge, daß im Falle der nicht berufungsfähigen Beseitigung der Rentenneufeststellung für die Vergangenheit durch das erstinstanzliche Urteil eine Rückforderung überzahlter Leistungen im Berufungsverfahren nicht bestätigt werden konnte (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 13. September 1978 aaO). Nach § 1301 Satz 2 RVO aF war die Rückzahlung von Leistungen allerdings nur unter weiteren einschränkenden Voraussetzungen möglich, während seit dem Inkrafttreten des SGB 10 der Schutz des Leistungsempfängers nicht mehr bei den Voraussetzungen für die Erstattung bereits durch Verwaltungsakt erbrachter Leistungen (§ 50 Abs 1 SGB 10) angesiedelt ist, sondern bei den Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes (§ 45 SGB 10). Die Rückforderung ist also nunmehr eine bloße Folge der Rücknahme der früheren Leistungsbescheide.

Diese Rechtsänderung hat zwar eine Gewichtsverlagerung bei der Statthaftigkeit der Berufung bewirkt. Diese kann aber - wie der 11. Senat des BSG im Urteil vom 30. Mai 1985 aaO bereits betont hat - weder dazu führen, § 146 SGG entgegen dem eindeutigen Wortlaut auszulegen, noch die genannte einschlägige Rechtsprechung des BSG zum Berufungsausschluß in der Rentenversicherung aufzugeben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666799

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