Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 11.01.1991)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 1991 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger verlangt von der Beklagten die Erstattung der Kosten, die er für die Unterbringung des Beigeladenen vom 1. September 1986 bis 4. Mai 1987 im Psycho-sozialen Therapie- und Rehabilitationszentrum B. … in B. … aufgewandt hat.

Der Beigeladene unterzog sich vom 25. Oktober bis 5. November 1985 wegen Alkoholabhängigkeit einer Entgiftungsbehandlung im Evangelischen Krankenhaus Sch. … (Kostenträger: Allgemeine Ortskrankenkasse ≪AOK≫ R.). … Vom 14. November 1985 bis 5. März 1986 hielt er sich auf Kosten des Klägers zur Vorbereitung auf eine Entwöhnungsbehandlung im B. … in B. … auf. Die anschließende Entwöhnungsbehandlung in der Fachklinik C. … in R. … finanzierte die Beklagte als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation.

Den von der Fachklinik noch während der Entwöhnungsbehandlung im Juni 1986 zugunsten des Beigeladenen gestellten Antrag, die Kosten für seine Weiterbehandlung zur sozialen Rehabilitation im B. … zu übernehmen, lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 7. Juli 1986 ab, da für eine soziale Wiedereingliederung nicht der Rentenversicherungsträger zuständig sei.

Nach einer Kostenzusage des Klägers wurde der Beigeladene am 1. September 1986 in das B. … aufgenommen und dort bis zum 4. Mai 1987 betreut. Während dieser Zeit stand er ab 3. November 1986 in einem Beschäftigungsverhältnis als angelernter Arbeiter in einem kunststoffverarbeitenden Betrieb. Zum 4. Mai 1987 bezog er eine eigene Wohnung. Im. … waren neben dem leitenden Sozialtherapeuten je ein Diplom-Sozialarbeiter, Krankenpfleger, Gesprächstherapeut und Erzieher sowie je zwei Gruppentherapeuten und hauswirtschaftliche Hilfskräfte tätig.

Den Antrag des Klägers, die Kosten der an die Entwöhnungsbehandlung anschließenden Weiterbehandlung im B. … zu übernehmen, lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 29. Oktober 1986 ab.

Die Klage auf Kostenerstattung hatte vor dem Sozialgericht (SG) Erfolg (Urteil vom 9. März 1988). Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil auf und wies die Klage ab (Urteil vom 7. April 1989). Die Revision des Klägers führte zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, da der Versicherte nicht beigeladen worden war (Urteil vom 15. November 1989 – 5 RJ 41/89 –).

Das LSG wies durch Urteil vom 11. Januar 1991 die Klage wiederum unter Aufhebung der sozialgerichtlichen Entscheidung ab. Zwar erfülle der Beigeladene die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 1236 Abs 1a der Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Gewährung von medizinischen Rehabilitationsleistungen. Weder von der Zielrichtung noch von der Durchführung her handele es sich aber bei dem Aufenthalt im B. … in der dritten Stufe der Wiedereingliederung Suchtkranker als sogenannte Nachsorge nach abgeschlossener Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlung um eine medizinische Rehabilitationsleistung. Wenn auch die Aufzählung der medizinischen Leistungen in § 1237 RVO nicht abschließend sei, so könne doch – in Abweichung von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) – eine in einer nicht ärztlich geleiteten oder überwachten Einrichtung erbrachte Leistung nicht als medizinische Leistung iS dieser Vorschrift betrachtet werden.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 1236 ff RVO, der §§ 1, 5 und 10 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaAnglG), des § 29 des Sozialgesetzbuches -Allgemeiner Teil- (SGB I), des § 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), der Art 3 und 20 Abs 3 des Grundgesetzes (GG) sowie Abweichung von der Rechtsprechung des BSG, eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung und einen Verstoß gegen § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Der Kläger beantragt dem Sinne nach,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 1991 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 9. März 1988 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Beigeladene hat sich zur Sache nicht geäußert.

Die Beteiligten haben sich gemäß § 124 Abs 2 SGG mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die kraft Zulassung durch das LSG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte sowie begründete und damit auch zulässige Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Leistungspflicht der Beklagten ist nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß die Betreuung des Beigeladenen im B. … ohne laufende Mitwirkung eines Arztes erfolgte. Die vom LSG bisher getroffenen Feststellungen lassen aber eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits noch nicht zu. Das Gericht wird weitere Ermittlungen zur Erforderlichkeit der Maßnahme für die Sicherung der Erwerbsfähigkeit und zur vorausschauenden Beurteilung (Prognose) der Erfolgsaussicht der Rehabilitation des Beigeladenen iS von § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO durch den Aufenthalt im B. … anzustellen haben, und zwar laufend erstreckt auf den gesamten Zeitraum der Unterbringung vom 1. September 1986 bis 4. Mai 1987.

Zuzustimmen ist dem Berufungsgericht darin, daß Grundlage für den Erstattungsanspruch des Klägers § 104 des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren – (SGB X) ist (BSG 3. Senat SozR 3-2200 § 184a Nr 1, 4a. Senat SozR 2200 § 1237 Nr 21, 5. Senat SozR 3-2200 § 1237 Nr 1). Nach § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X muß ein Leistungsträger, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, einem nachrangig verpflichteten Leistungsträger erbrachte Sozialleistungen erstatten, sofern nicht die Voraussetzungen von § 103 Abs 1 SGB X (nachträglicher Wegfall einer Leistungspflicht) vorliegen oder der Leistungsträger bereits selbst ohne Kenntnis von der Leistung des anderen Leistungsträgers geleistet hat. Als Träger der Sozialhilfe war der Kläger gemäß § 2 Abs 1 BSHG allenfalls nachrangig verpflichtet, dem Beigeladenen Eingliederungshilfe gemäß §§ 39, 40 BSHG in Form der Unterbringung in einem Psycho-sozialen Therapie- und Rehabilitationszentrum zu gewähren. Ein Fall des Wegfalls der Leistungsverpflichtung oder der eigenen Leistung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers liegt nicht vor.

Aufgrund des engen Zusammenhanges zwischen Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers und Sozialleistungsanspruch des Berechtigten gegen den vorrangig verpflichteten Leistungsträger ist weiterhin erforderlich (s BSG SozR 1300 § 104 Nr 6 und SozR 2200 § 1237 Nr 21), daß die wesentlichen Voraussetzungen eines Anspruchs des Beigeladenen gegen die Beklagte auf gleichartige Sozialleistung erfüllt waren. Rechtsgrundlage für die Erbringung einer Maßnahme der streitigen Art durch einen Träger der Rentenversicherung ist § 1236 Abs 1 und 1a RVO iVm §§ 1237 bis 1237b RVO. Nach § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO kann der Träger der Rentenversicherung in dem Fall, daß die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist, Leistungen zur Rehabilitation erbringen, wenn die Erwerbsfähigkeit durch diese Leistungen wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann oder wenn bei einer bereits geminderten Erwerbsfähigkeit durch diese Leistungen der Eintritt von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit abgewendet werden kann. Gemäß § 1236 Abs 1 Sätze 4 und 5 RVO richtet sich der Umfang der Leistungen zur Rehabilitation nach den §§ 1237 bis 1237b RVO. Der Träger der Rentenversicherung bestimmt im Einzelfall Art, Umfang und Durchführung der Leistungen zur Rehabilitation sowie die Rehabilitationseinrichtung unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nach pflichtgemäßem Ermessen. Entgegen der Auffassung der Beklagten waren die hierin aufgestellten einzelnen Leistungsvoraussetzungen für die streitige Unterbringung des Beigeladenen im B. … bis auf die Fragen der Erforderlichkeit für die Sicherung der Erwerbsfähigkeit und die Erfolgsaussicht, die noch weiterer Ermittlungen bedürfen, sämtlich erfüllt.

Die allgemeine Leistungsvoraussetzung, daß es sich bei dem Beigeladenen um einen Versicherten iS von § 1236 Abs 1a RVO handelt, lag nach den mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffenen und damit gemäß § 163 SGG für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG vor.

Auch hat der Beigeladene den nach § 1545 Abs 1 Nr 2 RVO erforderlichen Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation iS von §§ 1236 ff RVO vor Beginn des Rehabilitationsverfahrens gestellt (Antrag vom 9. Dezember 1985). Im Schreiben vom 26. Juni 1986 an die Westfälische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation stellte das C. … „für unseren derzeitigen Patienten, Herrn D. … Sch.”, … also in Vertretung des Beigeladenen unter seinem damaligen Namen, einen ergänzenden Antrag auf Kostenübernahme für den anschließenden Aufenthalt im B. … (s zur Bedeutung des Grundantrags und des Ergänzungsantrags Urteil vom 23. April 1992 – 13/5 RJ 12/90 -sowie BSGE 57, 157). Das Schreiben ging bei der Beklagten am nächsten Tag ein.

Die Tatsache, daß die Beklagte diesen Antrag mit ihrem an das C. … gerichteten Schreiben vom 7. Juli 1986 ablehnte, steht einem Erstattungsanspruch des Klägers nicht entgegen. § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X gibt dem nachrangig verpflichteten Leistungsträger einen Anspruch, der selbständig und unabhängig vom Anspruch des Berechtigten – des Beigeladenen – gegen den vorrangig verpflichteten Träger – die Beklagte – entsteht (BSG SozR 1300 § 104 Nr 6; Urteil vom 5. Dezember 1989 – 5 RJ 76/88 –).

Der (ergänzende) Antrag vom 26. Juni 1986 enthielt sachlich zugleich die nach § 4 Abs 1 Satz 1 RehaAnglG erforderliche Zustimmung des Beigeladenen zu der konkreten bevorstehenden Rehabilitationsmaßnahme. Zwar ist dieses Einverständnis gehaltlich nicht identisch mit dem durch einen Antrag gemäß § 1545 Abs 1 Nr 2 RVO zum Ausdruck gebrachten Willen, ein Rehabilitations(gesamt)verfahren als solches, das je nach Lage des konkreten Falles aus bloß einer Maßnahme oder einem Maßnahmebündel bestehen kann, überhaupt erst einmal „dem Grunde nach”) in Gang zu setzen. Bei einem Sachverhalt wie hier, wo der allgemeine Antrag auf Rehabilitation schon eine spezifische Einzelleistung zur Rehabilitation nennt, ist aber in aller Regel davon auszugehen, daß die Stellung des Antrags nach § 1545 Abs 1 Nr 2 RVO und die Kundgabe der Zustimmung gemäß § 4 Abs 1 Satz 1 RehaAnglG, die beide empfangsbedürftige Willenserklärungen sind und dem Träger der Rentenversicherung als Empfänger auch zugehen müssen, in einem äußeren Akt zusammenfallen und in diesem Sinne sich gegenseitig ergänzen.

Mit der Unterbringung des Beigeladenen im B. … wurde auch eine Rehabilitation in dem Bereich durchgeführt, der der Rentenversicherung in §§ 1226, 1236 ff RVO als Aufgabe zugewiesen ist. Diese Aufgabe wird durch ihr Ziel definiert, die Erwerbsfähigkeit der Versicherten zu bessern oder wiederherzustellen, wo diese gemindert oder gefährdet ist, und hierdurch von den Aufgabenfeldern anderer Rehabilitationsträger abgegrenzt. Eine Beschränkung auf bestimmte Arten von Rehabilitationsmaßnahmen sieht das Gesetz dabei – trotz Nennung einzelner Maßnahmearten als Schwerpunkte der Rehabilitation – nicht vor. Aus dem Blickwinkel des verfolgten Ziels scheidet eine Zuständigkeit für die Rehabilitation von vornherein als nicht zweckgerecht aus, wenn diese allein auf die Gesundung des Versicherten gerichtet ist oder lediglich dazu dienen soll, den Versicherten vor weiterem Abgleiten zu bewahren, ohne daß Aussicht besteht, seine Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen (BSG, Urteil vom 12. September 1990 – 5 RJ 42/89 – SozSich 1991, 286; SozR 3-2200 § 1237 Nr 1).

Der Zuständigkeit der Beklagten zur psycho-therapeutischen Betreuung des Beigeladenen dem Grunde nach steht auch nicht – wie die Beklagte meint -der Umstand entgegen, daß die Unterbringung im B. … neben der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit möglicherweise noch andere Ergebnisse, insbesondere eine „Eingliederung in die Gesellschaft” (§ 1 Abs 1 RehaAnglG), zeitigte.

Es liegt im Wesen vieler spezifischer Rehabilitationsmaßnahmen von § 1236 RVO, daß sie multifunktional wirken, dh außer dem Sacherfolg, auf den sie ihrer Bezeichnung und inhaltlichen Gestaltung nach zunächst ausgerichtet sind, noch weitere Erfolge bewirken, deren Erreichung nicht Aufgabe der Rentenversicherungsträger ist. So kann zB eine Maßnahme „beruflicher Rehabilitation” zugleich auch der gesundheitlichen oder gesellschaftlichen Rehabilitation oder eine Maßnahme der „gesundheitlichen Rehabilitation” zugleich der beruflichen oder gesellschaftlichen Rehabilitation dienlich sein.

Multifunktionalität einer Rehabilitationsmaßnahme bedeutet nicht, daß die Maßnahme von vornherein, weil nicht eindimensional einzuordnen, aus dem Katalog der Leistungen zur Rehabilitation gemäß §§ 1237 bis 1237b RVO ausscheidet. Entscheidend ist, ob Maßnahmen zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit erforderlich sind und die eingeleitete Maßnahme hierfür geeignet ist.

Als Konsequenz ergibt sich, daß das Ziel einer Rehabilitation nicht losgelöst von der verursachenden Beeinträchtigung des Befindens des Versicherten bestimmt werden kann. Basierend auf dem durch die Beeinträchtigung herbeigeführten Ist-Zustand – in Parallele zur Berufsunfähigkeit läßt sich auch hier von „Resterwerbsfähigkeit” sprechen – ist zu prüfen, in welcher Richtung der Beeinträchtigung Rechnung getragen werden soll, dh ob überhaupt eine Rehabilitation nach § 1236 RVO in Betracht kommt und wenn ja, auf welchem der in §§ 1237 bis 1237b RVO vorgezeichneten Wege dies geschehen soll. Dabei versteht es sich von selbst, daß ein vorgegebenes Ziel nur dann mit Erfolg erreicht werden kann, wenn die dazu eingesetzten Mittel der Zielvorgabe adäquat sind.

Es ist allgemeinkundig und wird in der Sache von der Beklagten auch selbst nicht bestritten, daß bei Alkoholabhängigen zur Wiedereingliederung im Sinne des gesamtheitlichen Enderfolges nicht nur körperbezogene Einzelmaßnahmen erforderlich sind, sondern mindestens ebenso notwendig eine psycho-soziale Behandlung ist, die der Stabilisierung der Persönlichkeit dient, speziell die Abstinenzfähigkeit stärkt und dadurch die Gefahr des Rückfalles minimiert. In diesem Sinn ist nicht nur, worauf bereits der 5. Senat des BSG ua in seinem Urteil vom 16. November 1989 – 5 RJ 3/89, BSGE 66, 87 = SozR 2200 § 1237 Nr 23 – aufmerksam gemacht hat, die zur sinnvollen Behandlung Alkoholkranker medizinisch indizierte Abfolge von Entgiftung und Entwöhnung unumgänglicher Bestandteil der gesamtheitlich konzipierten Rehabilitation von Alkoholsüchtigen. In vielen Fällen ist für die sachgerechte Rehabilitation vielmehr ebenso unausweichlich eine Betreuung des Süchtigen in der Art, wie sie Dr. T. … in seiner ärztlichen Stellungnahme unter dem Begriff der „sozialen Rehabilitation” angesprochen, näher beschrieben und für den Beigeladenen empfohlen hat.

Der erkennende Senat vermag nicht der Auffassung des Berufungsgerichts und der Beklagten zuzustimmen, daß eine psycho-therapeutische Maßnahme der streitigen Art (jedenfalls) nicht zu den medizinischen Leistungen zur Rehabilitation iS von § 1237 RVO zählt und schon deshalb vom Träger der Rentenversicherung nicht als Rehabilitationsmaßnahme gemäß § 1236 RVO zu erbringen ist. Eine derartige spezialisierte, im wesentlichen auf die ärztliche Beteiligung an der Maßnahme (Anordnung, Leitung oder wenigstens Überwachung) orientierte Auslegung des Leistungskatalogs des § 1237 RVO ist weder aus dem Gesetzeswortlaut abzuleiten noch mit dem Zweck zu vereinbaren, der mit den §§ 1237 bis 1237b RVO als Bestimmung des Umfanges der Leistungen zur Rehabilitation (s § 1236 Abs 1 Satz 4 RVO) verfolgt wird.

Zum einen ist aus dem Umstand, daß das Gesetz von „medizinischen” Leistungen spricht, keine Prägung des Katalogs insgesamt abzuleiten, die die ärztliche Funktion bei diesen Leistungen als unerläßlich vorschreibt. Versteht man unter Medizin oder – in Verdeutschung – unter Heilkunde die Wissenschaft von gesunden und kranken Lebewesen, von Ursachen, Erscheinungen, Auswirkungen ihrer Krankheiten, deren Heilung und Verhütung (s Brockhaus 1971 Bd 12 S 322; vgl auch BSGE 54, 54, 59), so ist diese thematische Bezeichnung der Leistungen in § 1237 RVO inhaltlich so weit, daß sie auch andere der Gesundheit eines Menschen dienende Maßnahmen umfaßt, als sie ausschließlich von Ärzten oder unter Leitung oder Überwachung durch Ärzte erbracht werden können.

Zum anderen führt das Gesetz in § 1237 RVO die „ärztliche Behandlung” lediglich als eine unter fünf Arten von medizinischen Leistungen auf; die vier anderen daneben genannten Leistungsarten sind aber keineswegs alle so gestaltet, daß sie begriffsnotwendig die ärztliche Beteiligung im dargelegten Sinn erforderten (s insbesondere § 1237 Nr 5 RVO „Belastungserprobung und Arbeitstherapie”).

Zum dritten schließlich ist die Aufzählung der fünf konkret genannten Leistungsarten kein geschlossener Katalog ausschließlich möglicher Leistungen, sondern nur, wie die Worte „insbesondere” und „vor allem” im Gesetzestext deutlich machen, eine beispielhafte Auflistung von bloß typischerweise in Betracht kommenden Maßnahmen (in diesem Sinn bereits wiederholt das BSG, s SozR 2200 § 184a Nr 5; BSGE 66, 84 = SozR 2200 § 1237 Nr 22; BSGE 66, 87 = SozR 2200 § 1237 Nr 23; Urteil vom 5. Dezember 1989, 5 RJ 19/88; Urteil vom 12. September 1990 – 5 RJ 42/89 –; BSGE 68, 17 = SozR 3-2200 § 184a Nr 1; SozR 3-2200 § 1237 Nr 1). Dieselbe Weite des Leistungsumfanges wird durch § 10 RehaAnglG bezeichnet, wenn einleitend vor dem wortgleichen Fünf-Punkte-Katalog davon gesprochen wird, daß die medizinischen Leistungen zur Rehabilitation „alle Hilfen” umfassen sollen, die erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, eine Behinderung zu beseitigen, zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten.

Bezogen speziell auf geistig-seelische Beeinträchtigungen, wie sie für Suchtkrankheiten typisch sind, heißt das, daß der Katalog rechtlich zugelassener Einzelmaßnahmen auch entsprechende geistig-seelische Therapien zu umfassen hat, soll nicht für eine Art der Beeinträchtigungen, die das Gesetz selbst als auslösende Tatbestände für eine Rehabilitation normiert, im praktischen Ergebnis die gesamte Anordnung einer Rehabilitation durch § 1236 RVO leerlaufen.

Der vom LSG zur Stützung seiner abweichenden Auffassung aus § 557 RVO, §§ 10 ff des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), § 182 RVO idF bis 31. Dezember 1988 gezogene Schluß, wie dort müsse auch für das Rentenversicherungsrecht gelten, daß medizinische Leistungen zur Rehabilitation zumindest der ärztlichen Anordnung oder Überwachung bedürfen, ist nicht zwingend. Für die hiermit wohl gemeinte Analogie zu diesen Regelungen fehlt es bereits an deren Grundvoraussetzung: der im Wege der Gesetzesauslegung ermittelten Gesetzes- oder Regelungslücke. Aus den obigen Ausführungen ergibt sich im Gegenteil, daß die §§ 1236, 1237 RVO bei sachgerechter Interpretation unter Berücksichtigung von Gesetzeswortlaut wie vor allem Normzweck eine Regelung psycho-therapeutischer Behandlungen mitenthalten und insofern nicht ergänzungsbedürftig sind.

Dabei ist hier nicht zu entscheiden, ob sich aus der Überschneidung der Aufgabenfelder von Rehabilitation und Krankenhilfe im Einzelfall Einschränkungen ergeben könnten; denn im vorliegenden Fall ist diese Behandlung Teil eines zusammenhängenden Behandlungskonzepts, das sinnvollerweise in einer Hand liegen muß und einheitlich zu organisieren ist.

Im Gesetz ist dieser „Grundsatz der Einheit des Rehabilitationsträgers und des Rehabilitationsverfahrens” (Jung/Preuß, Rehabilitation 2. Aufl 1975, S 216) durch § 5 Abs 2 Satz 1 RehaAnglG ausformuliert, wonach jeder Träger im Rahmen seiner Zuständigkeit unter Berücksichtigung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit die nach Lage des Einzelfalles erforderlichen Leistungen so vollständig und so umfassend zu erbringen hat, daß Leistungen eines anderen Trägers nicht erforderlich werden. Entsprechend der eine Rehabilitation nach § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO auslösenden Situation des Versicherten können daher in der Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers einerseits Verfahren genügen, bei denen sich der Gesamterfolg der Erhaltung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten bereits mit bloß einer Einzelmaßnahme aus dem Gesamtkatalog der §§ 1237 bis 1237b RVO erreichen läßt, andererseits aber auch Verfahren notwendig sein, die aus einer Kombination (einem „Bündel”) von Einzelmaßnahmen bestehen. In einem Fall wie dem des Beigeladenen ist ohne eine Mehrheit von Einzelmaßnahmen im zweiten Sinn nicht auszukommen.

Vor Beginn der Rehabilitation war bei dem Beigeladenen iS von § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO die Erwerbsfähigkeit „wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert”. Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig und vom LSG unangegriffen festgestellt worden, daß der Beigeladene alkoholabhängig und insofern suchtkrank war. Maßgebend für die Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit iS von § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO war damit nicht nur sein durch den Alkoholmißbrauch verursachter körperlicher Zustand. Von ausschlaggebender Bedeutung waren vielmehr auch die durch die Sucht bedingten geistig-seelischen Schäden und Normabweichungen in der Persönlichkeit des Beigeladenen.

Speziell für die hier streitige Maßnahme ist dem Urteil des LSG indes keine ausreichende Feststellung dafür zu entnehmen, daß die Erforderlichkeit einer Sicherung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit weiterhin vorlag. Es ist nicht eindeutig zu ersehen, ob es sich jedenfalls für den Beginn der Maßnahme den Ausführungen von Dr. T. … vom 26. Juni 1986 angeschlossen hat, zumal das LSG den Erstattungsanspruch aus anderen Gründen verneint hat und es danach auf die Erforderlichkeit nicht mehr ankam. Keinerlei Anhaltspunkte bestehen ferner, wie lange diese Voraussetzungen gegeben waren. Bei länger dauernden Maßnahmen reicht es nicht aus, auf eine Rehabilitationsbedürftigkeit bei Beginn der Maßnahme abzustellen. Es muß vielmehr laufend in sachgerechten Abständen ermittelt und überprüft werden, ob die Voraussetzungen weiterhin gegeben sind. Diese Feststellungen muß das LSG noch nachholen.

Gegen die bezeichnete Aufgabenstellung und daran anknüpfende Erstattungspflicht der Beklagten läßt sich auch nichts daraus ableiten, daß der Rentenversicherungsträger in einem Fall wie dem vorliegenden keinen Einfluß mehr auf das konkrete „Wie” der Behandlung iS von § 1236 Abs 1 Satz 5 RVO nehmen kann, weil bereits der Sozialhilfeträger eine konkrete Bestimmung darüber getroffen und realisiert, dh die grundsätzlich dem Rehabilitationsträger zustehende Auswahl schon faktisch vorweggenommen hat. Eine solche faktische Vorwegnahme von Sozialleistungen ist für die Rechtsfigur des Erstattungsanspruchs gerade der Anlaß zur vorhandenen gesetzlichen Regelung und insofern unabdingbare Voraussetzung des Anspruchs. Sie kann demzufolge nicht allein für sich dazu verwendet werden, um generell einen Leistungsanspruch des Versicherten gegen den Rehabilitationsträger zu verneinen und hieran anknüpfend auch einen Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegen den Rehabilitationsträger bei derartigen Vor-Leistungen auszuschließen.

Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn der Sozialhilfeträger mit der von ihm konkret durchgeführten Behandlung eine Maßnahme getroffen hätte, die zur Rehabilitation des Suchtkranken nicht geeignet ist, oder die nicht dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit im Sinn des § 1236 Abs 1 Satz 5 RVO genügt. Insofern sind noch entsprechende Feststellungen nachzuholen.

Der Kostenausspruch bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173153

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