Entscheidungsstichwort (Thema)

Anerkennung von Sachbezugszeiten neben einer Beschäftigungszeit nach § 16 FRG

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Voraussetzungen der Bewertung einer Zeit der in den früheren deutschen Ostgebieten nach deren Besetzung erzwungenen und nach § 16 FRG als Versicherungszeit anerkannten Beschäftigung als Sachbezugszeit iS des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG.

 

Normenkette

FRG §§ 16, 22 Abs 1 S 5; ArVNG Art 2 § 55 Abs 2; AnVNG Art 2 § 54 Abs 2

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 24.08.1988; Aktenzeichen L 4 An 22/88)

SG Lübeck (Entscheidung vom 19.01.1988; Aktenzeichen S 7 An 51/87)

 

Tatbestand

Streitig ist die Bewertung von Versicherungszeiten.

Die am 6. November 1925 geborene Klägerin wurde nach ihren Angaben in Lodz nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen am 19. Januar 1945 für etwa vier Wochen zu Aufräumarbeiten herangezogen, sodann in ein Arbeitslager verlegt und von dort aus zur Zwangsarbeit in einen landwirtschaftlichen Betrieb verbracht. Nach Zurückverlegung in das Arbeitslager nach etwa zweieinhalb Jahren wurde sie für einige Zeit einer Milizfamilie zu Hausarbeiten zugewiesen, danach zu Arbeiten in der Wäscherei eines Militärkrankenhauses herangezogen und schließlich einer zunächst in Lodz und später in Warschau wohnhaften Familie als Hausgehilfin und Kindermädchen zugeteilt. Im Herbst 1950 wurde sie aus der Volksrepublik Polen ausgewiesen und gelangte Anfang Januar 1951 in die Bundesrepublik Deutschland.

Mit Bescheid vom 21. Mai 1986 erkannte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) unter Zugrundelegung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 (BGBl II 1976 S 396; = DPSVA) die Zeiten vom 19. Januar bis 18. Februar 1945 und vom 1. Januar bis 15. Februar 1948 unter Zuordnung zur Leistungsgruppe 3 der Rentenversicherung der Arbeiter außerhalb der Land- und Forstwirtschaft sowie die Zeiten vom 1. März 1945 bis 31. Dezember 1947 und vom 16. Februar 1948 bis 30. September 1950 unter Zuordnung zur Leistungsgruppe 2 der Rentenversicherung der Arbeiter in der Landwirtschaft als Beitragszeiten nach § 15 des Fremdrentengesetzes (FRG) ohne Kürzung an. Der Widerspruch der Klägerin, mit welchem sie begehrte, den nach dem FRG anerkannten Beitragszeiten vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 die Bruttojahresarbeitsentgelte für Sachbezugszeiten nach Art 2 § 55 Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zugrunde zu legen, blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 1987).

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Lübeck die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 21. Mai 1986 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13. Januar 1987 verurteilt, für die Zeit vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 Sachbezugszeiten gemäß Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG anzuerkennen (Urteil vom 19. Januar 1988). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 24. August 1988) und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt:

Die von der Klägerin in der Zeit vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 in Polen ausgeübten Beschäftigungen seien Versicherungszeiten in der Rentenversicherung, die nach Art 4 DPSVA iVm Art 2 des Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung nebst der Vereinbarung hierzu vom 9. Oktober 1975 vom 12. März 1976 (BGBl II S 393; = G-DPSVA) in entsprechender Anwendung des FRG zu berücksichtigen seien. Die Beschäftigungen der Klägerin stünden einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland, für welche Beiträge entrichtet worden seien, nach § 16 Satz 1 FRG gleich. Zwar hätten sie bei Verrichtung im Bundesgebiet nach dem ab 1. März 1957 geltenden Bundesrecht nicht Versicherungspflicht in den gesetzlichen Rentenversicherungen begründet, weil die Klägerin in der Zeit vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 für ihre Tätigkeiten niemals Barlohn erhalten habe. Da sie aber zur Verrichtung dieser Tätigkeiten gezwungen worden sei, sei sie nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. Oktober 1966 (BSGE 25, 217 = SozR Nr 8 zu § 16 FRG) so zu stellen, als sei ihr "das sonst übliche Entgelt" gewährt worden. Die somit nach § 16 FRG anzurechnenden Zeiten seien entsprechend § 22 Abs 1 FRG zu bewerten. Insoweit sei die von der Beklagten vorgenommene Bewertung nicht streitig und nicht zu beanstanden. Die Beklagte habe es aber zu Unrecht abgelehnt, die von der Klägerin zurückgelegten Beitragszeiten unter Beachtung des § 22 Abs 1 Satz 5 FRG in entsprechender Anwendung des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG höher zu bewerten. Da gemäß dem Urteil des BSG vom 25. Oktober 1966 (aaO) der Mangel der Barentlohnung für eine Beschäftigung im Rahmen des § 16 FRG geheilt worden sei, sei die Klägerin so gestellt, als habe sie Barentlohnung erhalten. Sie erfülle auch die weitere Voraussetzung einer Höherbewertung nach Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG. Ihr seien in der Zeit vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 Unterkunft, Verpflegung und Kleidung gewährt worden. Auch wenn diese Leistungen dazu gedient hätten, die Arbeitskraft der Klägerin für die Zwangsarbeit zu erhalten, handele es sich gleichwohl um Sachbezüge wesentlichen Umfanges iS des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG. Aber selbst wenn die der Klägerin gewährten Naturalleistungen nicht geeignet seien, als Sachbezüge angesehen zu werden, stehe ihr gleichwohl die Höherbewertung nach Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG zu. Das ergebe sich daraus, daß nach den im Urteil des BSG vom 25. Oktober 1966 (aaO) entwickelten Grundsätzen die Klägerin so zu stellen sei, als sei ihr das "sonst übliche Entgelt" gewährt worden, und das übliche Entgelt für die von ihr im streitigen Zeitraum ausgeübten Tätigkeiten in der Landwirtschaft, als Hausgehilfin und kurzfristig in einer Wäscherei sich aus Barlohn und Sachbezügen wesentlichen Umfanges zusammengesetzt hätte, so daß unter Berücksichtigung des Sinns und Zwecks des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG jedenfalls deswegen die Klägerin in den Genuß der Höherbewertung gelangen müsse.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine unzutreffende Anwendung des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG durch das LSG. Sei entsprechend dem Urteil des BSG vom 25. Oktober 1966 (aaO) eine von der Besatzungsmacht erzwungene unentgeltliche Beschäftigung nach dem 8. Mai 1945 in den ehemaligen deutschen Ostgebieten im Rahmen des § 16 FRG so zu behandeln, als sei das sonst übliche Entgelt gewährt worden, so könne zwar die so fingierte entgeltliche Beschäftigung bei großzügiger Auslegung als "versicherungspflichtige Beschäftigung mit Barbezügen" iS des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG betrachtet werden. Das reiche jedoch nicht aus, um die Voraussetzungen dieser Vorschrift insgesamt als erfüllt anzusehen. Sie seien nur dann erfüllt, wenn dem Versicherten vom Arbeitgeber als Bezahlung für geleistete Arbeit neben den Barbezügen auch Sachbezüge gewährt worden seien; die Sachbezüge müßten zum Arbeitsentgelt gehört haben und neben dem Barlohn Entgelt für die Beschäftigung gewesen sein, für die die Beiträge entrichtet worden seien (Hinweis auf BSG SozR 5750 Art 2 § 55 Nr 1). Die der Klägerin gewährten Sachbezüge hätten dementgegen nicht zu einem neben dem fingierten Barlohn geleisteten Arbeitsentgelt gehört. Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG könne deshalb nicht gemäß § 22 Abs 1 Satz 5 FRG "entsprechend" auf die nach §§ 15, 16 FRG anzurechnende Zeit angewandt werden. Dem stehe der im Urteil des BSG vom 25. Oktober 1966 (aaO) zum Ausdruck kommende Wiedergutmachungsgedanke nicht entgegen. Sachbezüge, die wegen fehlender Entgelteigenschaft nicht zum Arbeitsentgelt gehörten, führten auch im Bundesgebiet nicht zu einer Unterversicherung, weil sie nicht mit ihrem tatsächlichen Verkehrswert oder sogar überhaupt nicht der Beitragsbemessung zugrunde gelegt worden seien. Sinn und Zweck des Art 2 § 55 ArVNG sei es, für Zeiten vor dem 1. Januar 1957, in denen Sachbezüge unter ihrem tatsächlichen Wert angesetzt worden seien, einen gewissen Ausgleich zu schaffen. Dessen bedürfe es nicht, wenn es wie in den Fällen der vorliegenden Art nicht zu einer "Unterversicherung" gekommen sei. Auch bei den über Art 4 Abs 2 DPSVA anzuerkennenden Arbeitszeiten müßten die Sachbezüge neben dem eigentlichen Barentgelt als Bezahlung für geleistete Arbeit gewährt worden sein. Das sei hier nicht der Fall, weil die Sachbezüge nur "Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft" des zur Arbeit gezwungenen Versicherten gewesen seien. Das LSG habe verkannt, daß die streitige Zeit der Klägerin allein aufgrund des DPSVA und des G-DPSVA als FRG-Zeit anerkannt worden sei, aber nach dem am 1. März 1957 in der Bundesrepublik geltenden Recht im Hinblick auf den fehlenden Entgeltcharakter der erhaltenen Sachbezüge bereits nicht als versicherungspflichtige Beschäftigung hätte berücksichtigt werden können. Die gegenteilige Auffassung des LSG führe im übrigen zu einer Besserstellung des Versicherten, der seine Beschäftigung im Herkunftsgebiet nur gegen Gewährung von Sachbezügen ausgeübt habe, gegenüber dem Versicherten, der im Herkunftsgebiet für die gleiche Beschäftigung nur Barlohn und daneben keine Sachbezüge erhalten habe, weil nur ersterer Versicherter seine Beschäftigungs-bzw Arbeitszeit nach dem FRG über die "Barentlohnungsfiktion" angerechnet erhielte und zusätzlich in den Genuß der Vergünstigung des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG käme, ohne daß er tatsächlich wegen Sachbezuges eine Unterversicherung hätte hinnehmen müssen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. August 1988 und des Sozialgerichts Lübeck vom 19. Januar 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Urteile der Vorinstanzen für zutreffend. Der Beklagten könne nicht darin gefolgt werden, daß es an einer Gewährung von Sachbezügen neben Barbezügen als Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG gefehlt habe. Auch insoweit müsse dem Grundgedanken Rechnung getragen werden, daß dem zu jahrelanger Zwangsarbeit Verpflichteten keine weiteren Nachteile bezüglich des Rentenbezuges entstehen sollten. Gerade Hausgehilfinnen und Landarbeiterinnen hätten in der entsprechenden Zeit häufig neben der Bargeldentlohnung Sachbezüge erhalten, die bei der Erstellung der Tabellenwerte unter ihrem tatsächlichen Wert angesetzt worden seien. Erfolge eine Anerkennung der Beschäftigungszeit nach dem DPSVA ohne die Möglichkeit einer Höherbewertung nach Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG, würde bei ihr (Klägerin) gerade die Unterversicherung eintreten, die durch die Neuregelung habe vermieden werden sollen, und sie damit gegenüber in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigten vergleichbaren Arbeitnehmern erheblich benachteiligt.

Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Bewertung der Versicherungszeiten vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 gemäß Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG. Dies führt zur Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und zur Abweisung der Klage.

Alleiniger Gegenstand des Rechtsstreits ist der von der Klägerin erhobene Anspruch auf eine höhere Bewertung der vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 zurückgelegten Zeiten. Nicht streitig unter den Beteiligten ist hingegen, daß es sich bei diesen Zeiten um vormerkungsfähige und im Leistungsfalle bei der Ermittlung der für die Klägerin maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage zu berücksichtigende Versicherungszeiten handelt. Die Beklagte selbst hat sie als solche gemäß Art 4 Abs 2 DPSVA iVm Art 2 Abs 1 G-DPSVA in entsprechender Anwendung des § 16 FRG ungeachtet dessen anerkannt, daß die Klägerin nach den mit Revisionsrügen nicht angegriffenen und deshalb für den erkennenden Senat bindenden (§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG im streitigen Zeitraum für ihre Tätigkeiten eine Barentlohnung nicht erhalten hat und damit entgegen § 16 Satz 2 FRG nach dem am 1. März 1957 in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rentenrecht wegen einer lediglich durch Sachbezüge entlohnten Beschäftigung nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterlegen hätte (vgl § 1228 Abs 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung -RVO-).

Rechtsgrundlage des von der Klägerin erhobenen Anspruchs auf eine höhere Bewertung der Versicherungszeiten vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 ist Art 2 § 55 Abs 2 Satz 1 Buchst b) ArVNG in der seit dem 1. Juli 1965 unverändert geltenden Fassung des Art 2 § 1 Nr 11 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I S 476). Bei Anrechnung ua von in § 16 FRG genannten Versicherungszeiten sind diese bei der Ermittlung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage nach näherer Maßgabe des § 22 Abs 1 FRG zu berücksichtigen. Gemäß § 22 Abs 1 Satz 5 FRG gelten Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG und der damit im Grundsatz übereinstimmende Art 2 § 54 Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) entsprechend. Nach Art 2 § 55 Abs 2 Satz 1 Buchst b) ArVNG sind, wenn glaubhaft gemacht wird, daß der Versicherte während mindestens fünf Jahren für eine versicherungspflichtige Beschäftigung neben Barbezügen in wesentlichem Umfang Sachbezüge erhalten hat, bei Renten aus Versicherungsfällen nach dem 31. Dezember 1956 für Zeiten vor dem 1. Januar 1957 zur Ermittlung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage für jeden Monat einer solchen Beschäftigung nach Maßgabe der Anlage 1 für Zeiten vom 29. Juni 1942 an die Bruttojahresarbeitsentgelte der Tabellen der Anlage 2 zugrunde zu legen, wenn es für den Versicherten günstiger ist.

Art 2 § 55 Abs 2 Satz 1 Buchst b) ArVNG ist nicht zugunsten der Klägerin auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar.

Allerdings ist die Voraussetzung, daß die Klägerin während mindestens fünf Jahren in wesentlichem Umfang Sachbezüge erhalten hat, erfüllt. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG sind ihr in der Zeit vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 Unterkunft, Verpflegung und Kleidung gewährt worden. Dieser Zeitraum umfaßt mehr als fünf Jahre und überschreitet damit die in Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG verlangte Mindestgesamtdauer des Sachbezuges (vgl BSG SozR 5750 Art 2 § 55 Nr 3 S 9). Die Gewährung von Unterkunft, Verpflegung sowie Kleidung und somit von die wesentlichen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens abdeckenden Sachbezügen ist auch als "wesentlich" iS des Art 2 § 55 Abs 2 Satz 1 ArVNG anzusehen (zum Begriff "in wesentlichem Umfang" vgl Lilge in Gesamtkommentar, Band 6, Stand Februar 1988, Art 2 § 55 ArVNG, Anm 5; Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, Viertes und Fünftes Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger - Verbandskommentar -, Stand 1. Januar 1989, § 1255 RVO, Anm 25.31; Kaltenbach/Maier in Koch/Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, Band IVa, Stand Dezember 1987, § 32 AVG, Anm F 4).

Der erkennende Senat neigt dazu, ohne dies allerdings abschliessend entscheiden zu müssen, auch die weitere Voraussetzung des Art 2 § 55 Abs 2 Satz 1 ArVNG, daß die Klägerin in wesentlichem Umfang Sachbezüge "neben Barbezügen" erhalten hat, als erfüllt anzusehen. Zwar ist der Klägerin während der und für die Beschäftigungen, zu denen sie in der Zeit vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 zwangsweise herangezogen worden ist, ein Barentgelt nicht gewährt worden. Aus dem Fehlen von Barbezügen hat in einem ähnlich gelagerten Fall der 4. Senat des BSG in seinem nicht veröffentlichten Urteil vom 14. September 1989 - 4 RA 60/88 - die Schlußfolgerung gezogen, daß dann eine entsprechende Anwendung des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG gemäß § 22 Abs 1 Satz 5 FRG nicht in Betracht kommt, weil als Voraussetzung dafür der Versicherte für eine Beschäftigung im Herkunftsgebiet neben Sachbezügen zumindest fünf Jahre lang Barbezüge wirklich erhalten haben muß. Gegen diese Schlußfolgerung hat der erkennende Senat für den Kreis derjenigen Versicherten, die nach dem 8. Mai 1945 in den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten von der Besatzungsmacht zwangsweise zu unentgeltlichen Beschäftigungen herangezogen worden sind, Bedenken. Diese resultieren aus dem Urteil des BSG vom 25. Oktober 1966 (BSGE 25, 217 = SozR Nr 8 zu § 16 FRG). Darin hat der seinerzeit für Rechtsstreitigkeiten aus dem Bereich der Angestelltenversicherung zuständige 11. Senat in einem Rechtsstreit, in welchem über einen Anspruch auf Vergleichsberechnung einer Rente nach altem Recht gemäß Art 6 § 13 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom 25. Februar 1960 (BGBl I S 93) iVm Art 2 § 41 AnVNG zu entscheiden und im Rahmen dessen speziell der Rechtscharakter einer bestimmten Zeit als Beschäftigungszeit iS des § 16 FRG streitig gewesen ist, ausgesprochen, die Wortfassung des § 16 Satz 2 FRG schließe die Anwendung auf von der Besatzungsmacht erzwungene unentgeltliche Beschäftigung nach dem 8. Mai 1945 in den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten zwar aus; diese Gesetzeslücke lasse sich jedoch durch ergänzende Rechtsfindung schließen, indem derartige Beschäftigungsverhältnisse im Rahmen des § 16 FRG so behandelt würden, als ob das sonst übliche Entgelt gewährt worden sei (vgl dazu allerdings auch das Urteil des erkennenden Senats in BSG SozR 5070 § 14 Nr 9 S 25). Hieraus ließe sich für den vorliegenden Fall herleiten, daß auch die Klägerin so zu behandeln ist, als sei ihr während der und für die in der Zeit jedenfalls vom 8. Mai 1945 bis zum 30. September 1950 erzwungenen Beschäftigungen das sonst übliche Entgelt gewährt worden, mit der Folge, daß auch im Rahmen des Art 2 § 55 Abs 2 Satz 1 ArVNG Barbezüge als gewährt zu gelten haben und damit die Sachbezüge "neben" diesen (fiktiven) Barbezügen geleistet worden sind. Von einer solchen Gleichstellung fiktiver mit tatsächlich erbrachten Barbezügen in Fällen der vorliegenden Art im Rahmen des Art 2 § 55 Abs 2 Satz 1 ArVNG geht ersichtlich auch die Beklagte aus, indem sie in enger Anlehnung an Kaltenbach/Maier (aaO, Anm F 6.5) ausführt, auf der Grundlage des Urteils des BSG vom 25. Oktober 1966 (aaO) könne die so fingierte entgeltliche Beschäftigung bei großzügiger Auslegung als "versicherungspflichtige Beschäftigung mit Barbezügen" iS des Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG betrachtet werden.

Dies braucht jedoch nicht vertieft und abschließend entschieden zu werden. Deshalb ist der erkennende Senat auch nicht genötigt, beim 4. Senat des BSG anzufragen, ob dieser an seiner im Urteil vom 14. September 1989 (aaO) vertretenen Rechtsansicht festhalte. Denn jedenfalls im Ergebnis übereinstimmend mit dem genannten Urteil kann auch im vorliegenden Rechtsstreit die Klägerin eine höhere Bewertung der Zeit der erzwungenen Beschäftigung vom 19. Januar 1945 bis 30. September 1950 nicht beanspruchen. Dafür fehlt es an der nach Art 2 § 55 Abs 2 Satz 1 ArVNG weiter erforderlichen Voraussetzung, daß die Klägerin in wesentlichem Umfang Sachbezüge "für eine versicherungspflichtige Beschäftigung" erhalten hat. Mit diesen Worten ist zum Ausdruck gebracht, daß die Sachbezüge neben dem (möglicherweise nur fiktiven) Barlohn Entgelt für die Beschäftigung gewesen sein müssen, für die Beiträge entrichtet worden sind bzw im Rahmen des § 16 Satz 1 FRG als entrichtet gelten (vgl BSG SozR 5750 Art 2 § 55 Nr 1 S 2). Sind die Sachbezüge lediglich im Zusammenhang mit der Beschäftigung, nicht aber mit der Zweckbestimmung einer Gegenleistung für die erbrachten Dienst- und Arbeitsleistungen gewährt worden, fehlt ihnen der Rechtscharakter eines Entgelts. Dies ist typischerweise der Fall bei Sachbezügen, die demjenigen erbracht werden, der zwangsweise zu einer Beschäftigung ohne Barentgelt herangezogen wird. Die Beklagte weist zutreffend darauf hin, daß in derartigen Fällen die Sachbezüge offensichtlich nicht als Bezahlung iS einer Entlohnung für geleistete Arbeit gedacht, sondern letztlich nur "Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft" des zur Arbeit gezwungenen Versicherten sind. Ob in atypischen Fällen etwas anderes zu gelten hat und trotz Erzwingung einer nicht entlohnten Beschäftigung die dem Beschäftigten gewährten Sachbezüge ausnahmsweise als Entgelt für die Beschäftigung angesehen werden können, braucht nicht erörtert und entschieden zu werden. Für das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalles sind Anhaltspunkte nicht gegeben.

Für den Fall, daß die der Klägerin gewährten Naturalleistungen nicht geeignet seien, als Sachbezüge - gemeint ist wohl: als Entgelt - angesehen zu werden, steht nach Meinung des LSG der Klägerin gleichwohl eine Höherbewertung nach Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG zu, weil dann in Fortführung der im Urteil des BSG vom 25. Oktober 1966 (aaO) entwickelten Grundsätze davon auszugehen sei, daß sich das "sonst übliche Entgelt" für die von der Klägerin im streitigen Zeitraum ausgeübten Tätigkeiten aus Barlohn und Sachbezügen in wesentlichem Umfang zusammengesetzt hätte. Der erkennende Senat folgt dieser Rechtsansicht nicht. Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG verlangt, daß der Versicherte während mindestens fünf Jahren neben Barbezügen zugleich Sachbezüge in wesentlichem Umfang tatsächlich erhalten hat, auch wenn letztere bei der Beitragsentrichtung nicht berücksichtigt worden sein müssen (BSG SozR 5750 Art 2 § 55 Nr 1 S 2 f). Auch auf Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten iS der §§ 15, 16 FRG ist Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG über § 22 Abs 1 Satz 5 FRG nur dann anzuwenden, wenn der Versicherte während mindestens fünf Jahren neben Barbezügen zugleich Sachbezüge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung erhalten hat; der Versicherte hat sowohl den Bezug von Sachleistungen neben Barbezügen als auch die mindestens fünfjährige Dauer solcher Bezüge für eine ihnen zugrundeliegende Beschäftigung glaubhaft zu machen (BSG SozR Nr 13 zu Art 2 § 55 ArVNG). Dabei behält es selbst dann sein Bewenden, wenn entsprechend dem Urteil des BSG vom 25. Oktober 1966 (aaO) auch mit Auswirkung auf Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG eine von der Besatzungsmacht erzwungene unentgeltliche Beschäftigung nach dem 8. Mai 1945 in den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten im Rahmen des § 16 FRG so zu behandeln wäre, als ob das sonst übliche Entgelt gewährt worden sei. Diese "Fiktion" muß auf die Gewährung von Barentgelt beschränkt und kann selbst bei Beschäftigungen, die üblicher- oder typischerweise mit der Leistung von Sachbezügen neben der Barentlohnung verbunden sind, nicht auf die Gewährung von Sachbezügen erstreckt werden. Vielmehr bedarf diese entsprechend dem allgemeinen Grundsatz des § 4 FRG zwar nicht des vollen Beweises, wohl aber der Glaubhaftmachung im Einzelfall. Wären gemäß der Auffassung des LSG entsprechend dem Urteil des BSG vom 25. Oktober 1966 (aaO) die dort aufgeführten Beschäftigungen, soweit sie für gewöhnlich mit der Gewährung von Sachbezügen verbunden sind, auch im Rahmen des § 22 Abs 1 Satz 5 FRG iVm Art 2 § 55 Abs 2 ArVNG so zu behandeln, als ob die sonst üblichen Sachbezüge als Entgelt für die Beschäftigung gewährt worden seien, würde dies zu einer Besserstellung der durch § 16 FRG begünstigten im Vergleich zu denjenigen Versicherten führen, die nicht unter diese Vorschrift fallen und deshalb nach Art 2 § 55 Abs 3 ArVNG glaubhaft machen müssen, daß sie neben Barbezügen in wesentlichem Umfange Sachbezüge als Entgelt für eine versicherungspflichtige Beschäftigung erhalten haben. Für eine solche Besserstellung fehlen sachgerechte Gründe; sie wäre mit Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) schwerlich zu vereinbaren.

Die Revision der Beklagten muß nach alledem zum Erfolg führen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649805

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