Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 11.02.1988)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Februar 1988 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem am 4. November 1990 verstorbenen früheren Kläger Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ab 1. Mai 1984 zustand.

Der 1941 in der Türkei geborene frühere Kläger arbeitete nach dem mehrjährigen Besuch von Dorfschulen in seiner Heimat zunächst von August 1956 bis Januar 1959 in einem Bergwerk. Von 1960 bis 1964 leistete er Militärdienst. Von 1967 bis März 1970 war er Mitarbeiter im Lebensmittelgeschäft seines Vaters in I …. Im März 1970 kam er in die Bundesrepublik Deutschland. Hier war er zunächst bis Juli 1972 als Bauarbeiter und anschließend bis Juli 1978 als Arbeiter in einer Kohlepapierfabrik tätig. Zuletzt war er als Maschinenarbeiter bei der Firma R … GmbH & Co. in B … versicherungspflichtig beschäftigt. Seit Anfang Februar 1983 war er arbeitsunfähig.

Seinen am 25. Mai 1984 gestellten Antrag auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Januar 1985 ab. Den Widerspruch dagegen wies die Beklagte mit Bescheid vom 22. April 1985 ab.

Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 10. September 1986 ab. Die gegen diese Entscheidung eingelegte Berufung des Klägers wies das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 11. Februar 1988 zurück. Zur Begründung führte das Berufungsgericht im wesentlichen aus, der frühere Kläger sei, da er eine berufliche Ausbildung nicht durchlaufen habe und lediglich als ungelernter oder kurz angelernter Arbeiter tätig gewesen sei, in die unterste Gruppe des vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten und allgemein anwendbaren Mehrstufenschemas der Arbeiterberufe, die Gruppe mit dem Leitberuf des ungelernten Arbeiters einzustufen. Er sei demzufolge auf den gesamten Arbeitsmarkt der Bundesrepublik verweisbar. In gesundheitlicher Beziehung könne nicht davon ausgegangen werden, daß er von seinen Kräften und Fähigkeiten her keinerlei Erwerbstätigkeit mehr verrichten könne. Dies ergebe sich aus den vom SG eingeholten internistischen, chirurgischen und augenärztlichen Gutachten, denen der Senat folge. Durch sie seien Gesundheitszustand und Leistungsvermögen des Klägers zuverlässig und zutreffend beurteilt. Zu einer weiteren medizinischen Aufklärung durch Einholung der hilfsweise beantragten lungenfachärztlichen, orthopädischen, neurologischen, arbeitsmedizinischen und pädagogischen Gutachten bestehe kein Anlaß. Er verfüge noch über das von dem Gutachter Prof. Dr. Dr. H … festgestellte Leistungsvermögen und könne demgemäß noch leichte körperliche Arbeiten mit gewissen Einschränkungen vollschichtig verrichten. Das geistige Leistungsvermögen sei nicht eingeschränkt. An seine Verantwortlichkeit könnten mittlere Anforderungen gestellt werden. Bei diesem Leistungsvermögen sei er noch im Stande, zB als Pförtner an der Nebenpforte, worauf er bereits schon durch das SG verwiesen worden sei, zu arbeiten. Er sei auf diese Tätigkeit auch zu verweisen, selbst wenn er seine Muttersprache nur schlecht sollte lesen und schreiben können. Daß er die deutsche Sprache nicht beherrsche und sie erst recht nicht zu lesen oder zu schreiben vermöge, könne unterstellt werden. Das führe aber nicht zur Rentengewährung. Er sei schließlich auch nicht gehindert, für ihn in Betracht kommende Arbeitsplätze tatsächlich zu erreichen.

Der frühere Kläger hat gegen dieses Urteil die vom 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) zugelassene Revision eingelegt und die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Nach seinem Tod am 4. November 1990 hat seine Sonderrechtsnachfolgerin erklärt, den Rechtsstreit fortführen zu wollen.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Februar 1988 und des Urteils des Sozialgerichts Dortmund vom 10. September 1986 und unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 22. Januar 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. April 1985 die Beklagte zu verurteilen, bei dem früheren Kläger Erwerbsunfähigkeit ab Antragstellung anzunehmen und die entsprechende Versichertenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Februar 1988 zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die kraft Zulassung durch den 5. Senat des BSG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision der Klägerin ist im Sinn der Zurückverweisung an das LSG begründet. Das Berufungsgericht wird seine Ermittlungen zum Gesundheitszustand des früheren Klägers und der ihm verbliebenen Resterwerbsfähigkeit noch einmal aufzunehmen haben. Zu Recht greift die Revision die Feststellungen des LSG zur psychischen Gehemmtheit des früheren Klägers mit der Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen die Verpflichtung zur Erforschung des Sachverhaltes von Amts wegen gemäß § 103 Satz 1 SGG an.

Die Pflicht des Gerichtes aus § 103 Satz 1 SGG, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, bedeutet, daß das Gericht alle Tatsachen ermitteln muß, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich entscheidungserheblich sind (Meyer-Ladewig aaO RdNr 4 zu § 103 mwN). Das Ausmaß der Aufklärung und die Wahl der Beweismittel steht zwar im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichtes und ist weitgehend vom Einzelfall abhängig (Großer Senat des BSG in BSGE 30, 192, 205). Es bedeutet aber einen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz, wenn das Gericht einem gestellten Beweisantrag nicht nachgeht, obwohl es sich von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einer Beweisaufnahme hätte gedrängt fühlen müssen. Ein solcher Fall liegt hier hinsichtlich des Gesundheitszustandes des früheren Klägers in psychischer Hinsicht vor. Wenn auch die fachliche Ausrichtung des erstrebten Gutachtens mit dem Ausdruck „neurologisch” nicht zutreffend bezeichnet war, so war für das Gericht, wie sich aus seiner entsprechenden Stellungnahme in den Gründen seines Urteils ergibt, doch hinreichend klar, daß damit eine Begutachtung des früheren Klägers in psychischer Beziehung gemeint war. Bei der gesundheitlichen Gesamtsituation des früheren Klägers und insbesondere seinem Vortrag zu den Einschränkungen seiner gesamten Lebensweise, die mit seiner Sehbeeinträchtigung zusammenhingen, mußte sich das Berufungsgericht von seinem Rechtsstandpunkt aus veranlaßt fühlen, in dieser Richtung die bisherige Begutachtung des Klägers aus internistischer, chirurgischer und augenärztlicher Sicht zu ergänzen. Wenn es eine Untersuchung durch entsprechende Gutachter für nicht erforderlich erklärte, weil die Sehfeldbeeinträchtigungen jedenfalls keinen Krankheitswert hätten, so hat es damit die Würdigung eines noch nicht erhobenen Beweises in unzulässiger Weise vorgenommen.

Mit Rücksicht auf die Zahl und den Umfang der beim früheren Kläger festgestellten Einzelleiden hätte das LSG Feststellungen dazu treffen müssen, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung im Sinne der Rechtsprechung des BSG zur Verweisbarkeit ungelernter Versicherter (s zB SozR 2200 § 1246 RVO Nrn 90, 104, 117, 136) vorlag. Denn selbst wenn die Frage der psychischen Gehemmtheit des früheren Klägers aufgrund der vom LSG nachzuholenden Ermittlungen im Ergebnis genauso negativ zu beantworten sein sollte, wie es das LSG bisher bereits faktisch getan hat, bleibt daran anschließend immer noch zu klären, ob die vorhandenen gesundheitlichen Einschränkungen insgesamt so erheblich waren, daß von vornherein ernste Zweifel aufkommen mußten, ob er mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen auch in einem Betrieb einsetzbar war. Erst dann kann geprüft werden, ob die nach den angeführten Urteilen des BSG ggf erforderliche Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit – wie sie das LSG hier vorgenommen hat – auf verfahrensfehlerfreien Feststellungen beruht. Das LSG wird seiner diesbezüglichen Entscheidung eine Gesamtbeurteilung des Gesundheitszustandes und eine vollständige Aufklärung der beruflichen Anforderungen zugrunde zu legen haben. Dafür ist im Einzelfall zu ermitteln – falls nicht gerichtsbekannt – und festzustellen, welche Anforderungen an den bezeichneten Beruf (im Urteil des LSG: Pförtner an der Nebenpforte) gestellt werden. Diese sind den Fähigkeiten gegenüberzustellen, die der Kläger unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Einschränkungen noch hat, dh es ist detailliert darzulegen, durch welche Einzelmerkmale und -anforderungen die für den Versicherten konkret als Verweisungstätigkeit ins Auge gefaßte Arbeit gekennzeichnet ist und ob der Versicherte mit seinem verbliebenen Leistungsvermögen sich noch zumutbar auf diesen neuen Beruf umstellen kann.

Auf den gekennzeichneten Verfahrensverstößen beruht auch das angefochtene Urteil. Denn es ist nicht auszuschließen, daß die unterlassene Begutachtung des früheren Klägers in psychischer Beziehung zu einer anderen Einschätzung seiner gesundheitlichen Gesamtsituation und damit auch zu einer anderen Einstufung der ihm verbliebenen Resterwerbsfähigkeit geführt hätte.

Da die vom Berufungsgericht bisher getroffenen Feststellungen noch nicht ausreichen, um den Rechtsstreit abschließend entscheiden zu können, ist das angefochtene Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Bei seiner neuerlichen Entscheidung wird das LSG im Rahmen der Prüfung in Betracht kommender Verweisungstätigkeiten uU auch zu prüfen haben, ob Anforderungen an sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten und die Fähigkeit, Schriftwerk zu fertigen, verlangt werden und der Kläger die hierfür erforderliche Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit besitzt. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß auch von deutschen Versicherten, die über viele Jahre grobe Arbeiten verrichtet haben, in deren Rahmen eine Kommunikation kaum oder nur in einfacher Form stattfand, nicht ohne weiteres die sprachlichen und schriftlichen Fertigkeiten zu erwarten sind, die zB auf einem Arbeitsplatz mit Publikumsverkehr vorausgesetzt werden (s Urteil des erkennenden Senats vom 6. Februar 1991 – 13/5 RJ 47/87).

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173100

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