Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Geltendmachung eines Verfahrensmangels. Amtsermittlungspflicht. Feststellung von Erwerbsminderung. Einholung eines weiteren Gutachtens
Orientierungssatz
1. Es besteht grundsätzlich keine Verpflichtung zur Einholung eines sog Obergutachtens. Vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen. Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum. Zur Geltendmachung eines Verfahrensmangels bedarf es eines klägerseitigen Vortrags, weshalb nach den vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen und medizinischen Sachverhalt aus der rechtlichen Sicht des Gerichts erkennbar offengeblieben sind und damit zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden haben soll (vgl ua BSG vom 14.12.1999 - B 2 U 311/99 B).
2. Liegen bereits mehrere Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben (vgl BSG vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B = SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 2, § 128 Abs. 1 S. 1, § 103; ALG § 13 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2; SGB VI § 43
Verfahrensgang
SG Aurich (Urteil vom 25.01.2017; Aktenzeichen S 9 LW 7/14) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 11.09.2017; Aktenzeichen L 2 LW 3/17) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 11. September 2017 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. In der Hauptsache begehrt der 1967 geborene Kläger eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung. Einen solchen Anspruch hat das LSG mit Beschluss vom 11.9.2017 nach vorheriger Anhörung ua verneint, weil der Kläger nach Abgabe seines landwirtschaftlichen Milchviehbetriebs zum 1.1.2014 seit Februar 2016 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfülle und sich die medizinischen Voraussetzungen für die begehrte Erwerbsminderungsrente für den davorliegenden Zeitraum nicht objektivieren ließen. Unmittelbar vor dem Auslaufen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sei der Kläger am 7.12.2015 durch den erstinstanzlich gehörten Sachverständigen Dr. G begutachtet worden, der den Kläger für in der Lage erachtet habe, arbeitstäglich sechsstündig körperlich leichte überwiegend sitzende Tätigkeiten verrichten zu können. Zweifel an der Richtigkeit dieser Bewertung des Leistungsvermögens durch Dr. G seien umso weniger zu objektivieren, als dessen Bewertung nachfolgend durch den vom Kläger selbst in Ausübung des Beweisantragsrechts nach § 109 SGG ausgesuchten Sachverständigen Dr. R in dessen Gutachten vom 4.5.2016 bestätigt worden sei. Die den Kläger im September 2016 behandelnden Ärzte der Fachklinik H hätten in ihrem Rehabilitationsentlassungsbericht vom 10.10.2016 lediglich zu der Frage Stellung genommen, wie aus ihrer Sicht im Zeitpunkt der Rehabilitationsmaßnahme das berufliche Leistungsvermögen einzuschätzen sei. Da seinerzeit die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr vorgelegen hätten, komme es hierauf nicht an. Objektive Umstände, ob der Kläger unter einem gleichen Beschwerdebild bereits zuvor gelitten habe, fehlten. Der Kläger selbst habe eine Zunahme seiner Beschwerden beschrieben. Eine Einholung weiterer Sachverständigengutachten verspreche angesichts der bereits vorliegenden Gutachten keine neuen Erkenntnisse.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründet.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Begründung vom 11.12.2017 genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, da keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ordnungsgemäß bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde - wie hier - darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36). Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 36). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Soweit - wie vorliegend - Verstöße gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) gerügt werden, muss die Beschwerdebegründung hierzu jeweils folgende Punkte enthalten: (1.) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2.) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3.) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände, die zu einer weiteren Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4.) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5.) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (vgl BSG Beschluss vom 21.12.2017 - B 9 SB 70/17 B - Juris RdNr 3 mwN).
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Diesen Erfordernissen wird die Beschwerdebegründung des Klägers nicht gerecht. Der im Berufungsverfahren bereits anwaltlich vertretene Kläger hat insoweit lediglich vorgebracht, mit Schriftsatz vom 24.7.2017 "auf richterlichen Hinweis vom 16.6.2017" ausdrücklich einen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens gestellt zu haben zum Beweis der Tatsache, "dass |
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die Diskrepanzen in den Leistungseinschätzungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen im Vergleich zu der Leistungseinschätzung durch die H Klinik nicht auf zwischenzeitlich eingetretene Verschlechterungen im Gesundheitszustand des Klägers zurückzuführen sind. |
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sich die gesundheitlichen Verhältnisse auch nach den zur Verfügung stehenden Röntgen- und MRT-Bilder nicht verändert haben". |
Damit hat der Kläger allerdings bereits nicht ausreichend einen bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrag bezeichnet. Ein in der Berufungsinstanz anwaltlich vertretener Beteiligter kann nur dann mit der Rüge des Übergehens eines Beweisantrags gehört werden, wenn er diesen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung durch entsprechenden Hinweis zu Protokoll aufrechterhalten hat oder das Gericht den Beweisantrag in seinem Urteil wiedergibt (stRspr, vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Wird ein Rechtsstreit - wie hier - ohne mündliche Verhandlung entschieden, tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung entweder der Zeitpunkt der Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG (BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 3 S 4 f) oder - wie vorliegend - die Anhörung gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG. Der Kläger hat jedoch nicht vorgetragen, dass er nach der Anhörung durch das LSG gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG mit späteren Schriftsätzen einen solchen Antrag gestellt hat. Die bloße Darstellung, dass er auf "richterlichen Hinweis vom 16.6.2017" mit späteren Schriftsätzen vom 24.7.2017 und 7.8.2017 ausdrücklich beantragt habe, ein ergänzendes Gutachten unter Berücksichtigung des Rehabilitationsergebnisses einzuholen, reicht insoweit nicht aus.
Aber selbst wenn sich die Beschwerde auf einen Beweisantrag bezöge, den das LSG in seinem Beschluss wiedergegeben hat oder der nach der Anhörung gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG aufrechterhalten worden ist, hat der Kläger auch nicht hinreichend dargelegt, dass sich das LSG hätte gedrängt fühlen müssen, dem Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nach § 103 SGG nachzugehen (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Dabei besteht grundsätzlich keine Verpflichtung zur Einholung eines sog Obergutachtens. Vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen. Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum. Insoweit hätte es des klägerseitigen Vortrags bedurft, weshalb nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen und medizinischen Sachverhalt aus der rechtlichen Sicht des LSG erkennbar offengeblieben sind und damit zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden haben soll (vgl Becker, Die Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG ≪Teil II≫, SGb 2007, 328, 332 zu RdNr 188 unter Hinweis auf BSG Beschluss vom 14.12.1999 - B 2 U 311/99 B - mwN). Dies hat der Kläger versäumt. Die bloße Darstellung, weshalb aus seiner Sicht weitere Ermittlungen erforderlich gewesen wären, entspricht diesem Erfordernis nicht (vgl BSG Beschluss vom 28.2.2017 - B 9 SB 88/16 B Juris RdNr 8).
Der Hinweis darauf, dass es sich um eine vorweggenommene Beweiswürdigung handele, wenn das LSG die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens ablehne, ohne auf den ärztlichen Bericht der H Klinik einzugehen und darauf zu verweisen, "dass der zu begutachtende Zeitraum damals bereits 20 Monate zurücklag", enthält keine ausreichenden Darlegungen. Insoweit hätte es der Ausführungen des Klägers dahingehend bedurft, weshalb sich das LSG nach seiner Rechtsauffassung nicht auf die Ergebnisse der Gutachten von Dr. G und Dr. R hätte stützen dürfen und welche vom LSG nicht berücksichtigten objektivierbaren Umstände dafür sprächen, dass der Kläger unter dem gleichen Beschwerdebild bereits vor dem Zeitraum des Ablaufs der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gelitten haben könnte. Liegen bereits mehrere Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN). Derartige Umstände hat der Kläger nicht vorgetragen; er hat insbesondere nicht aufgezeigt, dass sich die den verschiedenen Gutachten zugrunde gelegten Tatsachen widersprechen (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8, 9). Tatsächlich kritisiert er die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), womit er nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein keine Revisionszulassung erreichen kann. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzureichende Rechtsanwendung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).
2. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
3. Die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgt ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI11650457 |