Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Versorgung. Wegzug. Abstellen allein auf objektive Merkmale. Aufgabe der ärztlichen Niederlassung am Vertragsarztsitz

 

Leitsatz (redaktionell)

Bei allen Entziehungs- und Beendigungstatbeständen des § 95 Abs. 6 und 7 SGB V sind allein der objektive Sachverhalt und keine subjektiven Elemente maßgebend.

 

Orientierungssatz

Jede tatsächliche, nicht nur vorübergehende Aufgabe der ärztlichen Niederlassung am Kassen- bzw Vertragsarztsitz bedeutet einen Wegzug ohne Rücksicht darauf, ob die Absicht späterer erneuter Niederlassung an diesem Kassen- bzw Vertragsarztsitz besteht (vgl BSG vom 24.3.1971 - 6 RKa 9/70 = SozR Nr 34 zu § 368a RVO).

 

Normenkette

SGB 5 § 95 Abs. 7 S. 1

 

Verfahrensgang

Thüringer LSG (Urteil vom 29.04.2003; Aktenzeichen L 4 KA 703/02)

SG Gotha (Urteil vom 16.07.2002; Aktenzeichen S 7 KA 2155/00)

 

Tatbestand

Der Kläger, Facharzt für Anästhesie, war seit Juli 1994 mit Praxissitz in W., E. Straße, zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Eigenen Angaben zufolge hatte er seinen Hauptarbeitsplatz in der Praxis des ambulant operierenden Augenarztes Dr. S., ebenfalls E. Straße, W. Dieser habe sich aber im Februar 1996 von ihm getrennt. Deshalb sei er in der Folgezeit nicht mehr in der Praxis in W. anzutreffen gewesen.

Über mehrere Quartale wiesen seine Abrechnungen vor allem Behandlungen solcher Patienten aus, die bei Krankenkassen im Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) Nordrhein versichert waren. Hierzu erhielt der Zulassungsausschuss für Ärzte in Thüringen, der mit dem Zulassungsentziehungsantrag der zu 8. beigeladenen KÄV Thüringen befasst war, Auskünfte des Inhalts, dass sich der Kläger im Raum D. und später in F. in eigener Praxis niedergelassen habe. In D. habe er sich weiterhin vertragsärztlich betätigt, wofür er noch bis 1999 von der KÄV Thüringen Abrechnungsbescheide erhalten habe. Der Zulassungsausschuss stellte das Ende der Zulassung des Klägers fest - mit Nennung des 31. Dezember 1997 als Beendigungszeitpunkt -, und der beklagte Berufungsausschuss wies dessen Widerspruch zurück (Beschlüsse vom Dezember 1999 und vom Juni 2000). Sozialgericht und Landessozialgericht (LSG) haben seine Klage und Berufung ab- bzw zurückgewiesen (Gerichtsbescheid vom 16. Juli 2002 und Urteil vom 29. April 2003). In dem Urteil des LSG ist ausgeführt, nach § 95 Abs 7 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) ende die Zulassung im Falle des Wegzugs aus dem KÄV-Bezirk, was deklaratorisch von den Zulassungsgremien festzustellen sei. Der Kläger habe selbst angegeben, er sei an seinem Vertragsarztsitz in W. seit 1996 nicht mehr erreichbar gewesen. Darin habe keine bloße Verlegung gelegen, da diese nur innerhalb eines KÄV-Bezirks möglich sei. Unerheblich sei, ob der Kläger beabsichtigt habe, alsbald - nach Klärung seiner Abrechnungsstreitigkeiten mit der KÄV Thüringen - nach W. zurückzukehren, und ebenso, dass das Zulassungsende erst zum 31. Dezember 1997 festgestellt worden sei. Auch Anästhesisten, die nicht vorwiegend schmerztherapeutisch tätig seien, sondern Anästhesien bei Operationen durchführten, müssten einen Vertragsarztsitz in dem KÄV-Bezirk haben, für den sie zugelassen seien. Von dort aus könnten sie dann auch in anderen KÄV-Bezirken Leistungen erbringen.

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.

Ob sein Vorbringen, der Rechtssache komme grundsätzliche Bedeutung zu (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), den Darlegungsanforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG in vollem Umfang entspricht, also überhaupt zulässig ist, kann offen bleiben. Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet, denn die Erfordernisse für eine Revisionszulassung sind nicht erfüllt. Diese setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BVerfG ≪Kammer≫, SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14; s auch BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 19 S 34 f; Nr 30 S 57 f mwN). Falls zu der Rechtsfrage schon Rechtsprechung des Revisionsgerichts vorliegt, kommt es darauf an, ob sie erneut klärungsbedürftig geworden ist, weil zB neue Argumente angeführt oder erhebliche Einwände im neueren Schrifttum vorgebracht worden sind (vgl zusammenfassend Senatsbeschlüsse vom 16. Mai 2001 - B 6 KA 72/00 B - und vom 30. August 2001 - B 6 KA 33/01 B -; s auch BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; Nr 23 S 42; SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Diese Anforderungen sind insgesamt verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl zB BVerfG ≪Kammer≫, Beschluss vom 29. Mai 2001 - 1 BvR 791/01 -, und früher schon BVerfG ≪Kammer≫, SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10 f; Nr 7 S 14; s auch BVerfG ≪Kammer≫, DVBl 1995, 35).

Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage,

ob für die Annahme eines "Wegzugs" im Sinne von § 95 Abs 7 Satz 1 SGB V der subjektive Aufhebungswille des Wegziehenden notwendig ist,

ist bereits geklärt. In dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. März 1971 - 6 RKa 9/70 - ist ausgeführt, dass jede tatsächliche, nicht nur vorübergehende Aufgabe der ärztlichen Niederlassung am Kassenarztsitz einen Wegzug im Sinne dieser Vorschrift bedeutet, ohne Rücksicht darauf, ob die Absicht späterer erneuter Niederlassung an diesem Kassenarztsitz besteht (SozR Nr 34 zu § 368a RVO = NJW 1971, 1909 = USK 71 49 S 192). Im Zusammenhang mit der Rechtsprechung zur Zulassungsentziehung gemäß § 95 Abs 6 SGB V, wonach die Annahme gröblicher Verletzung vertragsärztlicher Pflichten nicht voraussetzt, dass den Vertragsarzt ein Verschulden an der Pflichtverletzung trifft (BSG, Urteile vom 18. August 1972 - 6 RKa 4/72 -, BSGE 35, 252, 253 = SozR Nr 36 zu § 368a RVO, und vom 25. Oktober 1989 - 6 RKa 28/88 = BSGE 66, 6, 8 = SozR 2200 § 368a Nr 24 S 82), ergibt sich, dass bei allen Entziehungs- und Beendigungstatbeständen des § 95 Abs 6 und 7 SGB V allein der objektive Sachverhalt und keine subjektiven Elemente maßgebend sind. Mithin ergibt sich für die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, ob für die Annahme eines "Wegzugs" im Sinne von § 95 Abs 7 Satz 1 SGB V der subjektive Wille des Wegziehenden zur Aufhebung des bisherigen Vertragsarztsitzes notwendig ist, die verneinende Antwort ohne Weiteres aus der bisherigen Rechtsprechung (zur Verneinung der Klärungsbedürftigkeit im Falle klarer Antwort siehe zB BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; vgl auch BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f).

Ein erneuter Klärungsbedarf ist nicht gegeben. Ein Anlass, die dargestellten Grundsätze zu überprüfen, besteht auf der Grundlage der Ausführungen in der Beschwerdebegründung nicht. Diese enthält keine Darlegungen etwa derart, dass die bisherige Rechtsprechung bei bestimmten Ärztegruppen modifiziert werden müsse. Sie erwähnt zwar - im Zusammenhang mit Ausführungen dazu, dass nicht nur ein Einzelfall betroffen sei - die Sondersituation der Anästhesisten, die mit Operateuren in deren Praxen oder Operationszentren zusammenarbeiten, knüpft daran aber keine Schlussfolgerungen.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG abgesehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG (in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1755882

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