Leitsatz (amtlich)

Hat die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen, kann in der Berufungsinstanz der Zeugenbeweis durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung nur ersetzt werden, wenn der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung hinterließ oder bei einer erneuten Vernehmung hinterlassen würde, für die Würdigung seiner Aussage nicht entscheidend ist. Anderenfalls hat eine Wiederholung der Beweisaufnahme zu erfolgen.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 398 Abs. 1

 

Verfahrensgang

OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 12.05.2020; Aktenzeichen 22 U 279/19)

LG Darmstadt (Entscheidung vom 22.10.2019; Aktenzeichen 9 O 386/18)

 

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 22. Zivilsenats des OLG Frankfurt mit Sitz in Darmstadt vom 12.5.2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur Verhandlung und neuen Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 30.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.

Rz. 2

Der Kläger fuhr im Juli 2018 mit seinem Pkw auf die BAB 3. Die Beschleunigungsspur war aufgrund einer Baustelle verkürzt. Sie war von der rechten Fahrbahn durch eine gestrichelte gelbe Linie abgegrenzt. Der Beklagte zu 2) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) versicherten Lkw der Beklagten zu 3) die rechte Fahrbahn der Autobahn. Es kam zur Kollision der Fahrzeuge. Der Unfallhergang ist zwischen den Parteien streitig. Der Kläger behauptet, der Lkw sei über die gestrichelte gelbe Linie auf die Beschleunigungsspur gefahren und habe dort das Fahrzeug des Klägers gerammt. Die Beklagten behaupten, der Kläger sei ohne Nutzung der Beschleunigungsspur direkt auf die rechte Fahrbahn gefahren, wo es zur Kollision gekommen sei.

Rz. 3

Das LG hat, nachdem es den Zeugen K. (Beifahrer des Klägers) zum Unfallhergang sowie die Zeugen Be. und Bü. (Polizeibeamte) zur polizeilichen Aufnahme des Unfalls vernommen hat, die Klage abgewiesen und dies allein auf die fehlende Aktivlegitimation des Klägers gestützt.

Rz. 4

Die Berufung des Klägers hat das OLG durch Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

Rz. 5

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gem. § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

Rz. 6

1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass das LG die Klage nicht an der Aktivlegitimation habe scheitern lassen dürfen, ohne die hierzu angebotenen Beweise zu erheben. Dennoch sei die Berufung unbegründet. Der Kläger habe nicht bewiesen, dass der Beklagte zu 2) die Fahrspur gewechselt oder nach rechts von dieser abgekommen sei. Für diese Behauptung spreche neben seiner Darstellung lediglich die Aussage des Zeugen K. An der Richtigkeit dieser Aussage verblieben allerdings insb. vor dem Hintergrund der Aussage der Zeugin Be. zu viele Zweifel, als dass allein daraus eine richterliche Überzeugung gewonnen werden könne. Nach allgemeiner Lebenserfahrung sei es wahrscheinlicher, dass derjenige, der sich auf der Beschleunigungsspur befinde, einen Fahrbahnwechsel vornehme, als dass derjenige, der auf der Autobahn fahre, auf die Beschleunigungsspur gerate. Dies reiche zwar für die Annahme eines Anscheinsbeweises nicht aus, sei aber bei der Bewertung einer Zeugenaussage zu berücksichtigen.

Rz. 7

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut zum Unfallhergang vernommen und dadurch den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.

Rz. 8

a) Gemäß § 398 Abs. 1 ZPO steht die wiederholte Vernehmung eines Zeugen im Ermessen des Berufungsgerichts. Diesem Ermessen sind aber Grenzen gesetzt. So muss das Berufungsgericht einen bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gem. § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es dessen Aussage anders würdigen will als die Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Aussage betreffen (BGH vom 23.6.2020 - VI ZR 435/19 MDR 2020, 999 Rz. 18; v. 10.3.1998 - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222, 2223, juris Rz. 12; Senat, Beschl. v. 25.7.2017 - VI ZR 103/17 VersR 2018, 249 Rz. 9 m.w.N.). Trägt das Berufungsgericht dem nicht Rechnung, liegt darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG (Senat, Beschl. v. 25.7.2017 - VI ZR 103/17, VersR 2018, 249 Rz. 9; BGH, Beschl. v. 28.7.2020 - II ZR 20/20, juris Rz. 11; v. 17.9.2013 - XI ZR 394/12, NZG 2013, 1436 Rz. 10; BVerfG, NJW 2011, 49 Rz. 11 ff.).

Rz. 9

Entsprechendes gilt, wenn die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen hat (vgl. Senat, Urt. v. 7.7.1981 - VI ZR 48/80, NJW 1982, 108, 109, juris Rz. 7-10; BGH, Urt. v. 16.12.1999 - III ZR 295/98 NJW-RR 2000, 432, 433, juris Rz. 23 m.w.N.). In der Berufungsinstanz kann ein angetretener Zeugenbeweis durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung nur ersetzt werden, wenn der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung hinterließ oder bei einer erneuten Vernehmung hinterlassen würde, für die Würdigung seiner Aussage nicht entscheidend ist (vgl. Senat, Urt. v. 13.12.2005 - VI ZR 68/04, VersR 2006, 369 Rz. 28; BGH, Urt. v. 23.11.2017 - I ZR 51/16 VersR 2018, 1279 Rz. 29). Anderenfalls hat eine Wiederholung der Beweisaufnahme zu erfolgen.

Rz. 10

b) So liegt der Fall hier: Für die Frage, ob, wie das Berufungsgericht meint, Zweifel an der Aussage des Zeugen K. bestehen, der den Unfall unmittelbar miterlebt hat, kommt es maßgeblich auf seine Glaubwürdigkeit sowie auf die Glaubwürdigkeit der Zeugin Be. an, deren Aussage mit den Angaben des Zeugen K. nicht in Einklang zu bringen ist. Das LG hatte hierzu eine Gegenüberstellung beider Zeugen veranlasst, deren Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen dann aber nicht gewürdigt, weil es aus seiner Sicht auf den Unfallhergang nicht ankam. Das Berufungsgericht hat "insbesondere" vor dem Hintergrund der Aussage der Zeugin Be. an der Richtigkeit der Aussage des Zeugen K. gezweifelt und die Zurückweisung der Berufung hierauf gestützt, ohne sich, wie erforderlich, einen persönlichen Eindruck von beiden Zeugen zu verschaffen.

Rz. 11

3. Für die neue Verhandlung wird weiter zu berücksichtigen sein, dass die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts die Zurückweisung der Berufung nicht tragen. Denn ohne die Feststellung eines Vorfahrtsverstoßes des Klägers lässt sich eine vollständige Klageabweisung nicht begründen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 14558273

NJW 2021, 9

NJW-RR 2021, 1074

JZ 2021, 476

MDR 2021, 897

VersR 2022, 527

ZfS 2021, 627

ErbR 2021, 817

r+s 2023, 47

Mitt. 2021, 422

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt VerwalterPraxis Professional. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge