Entscheidungsstichwort (Thema)

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit nach § 3 Abs. 1 IRG

 

Leitsatz (amtlich)

Bei der gerichtlichen Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung ist für die Beurteilung der Strafbarkeit nach deutschem Recht gemäß § 3 Abs. 1 IRG (i.V.m. § 78 Abs. 1 IRG) auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung abzustellen. Auf die Rechtslage zur Tatzeit oder zum Verhaftungszeitpunkt kommt es nicht an.

 

Normenkette

IRG § 3 Abs. 1, § 78 Abs. 1

 

Tenor

Die Auslieferung des Verfolgten an die polnischen Justizbehörden zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der in dem Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in Lomza vom 28. April 2016 (Aktenzeichen: xxx) bezeichneten und dem nationalen polnischen Haftbefehl des Amtsgerichts in Lomza vom 10. Februar 2012 (Aktenzeichen: xxx) zu Grunde liegenden Tat vom 2. August 2011 wäre zulässig.

 

Gründe

I.

Der Verfolgte wurde am 30. November 2016 zum Zweck der Vollstreckung einer noch vollständig zu verbüßenden Freiheitsstrafe wegen Betruges, zu der der Verfolgte durch Urteil des Amtsgerichts in Lomza vom 5. März 2008 (Aktenzeichen: xxx) rechtskräftig verurteilt worden war, an die Justizbehörden Polens ausgeliefert. Zuvor hatte der Senat mit Beschluss vom 15. November 2016 (Az.: 1 AR (Ausl) 89/16) die Auslieferung des Verfolgten, der auf eine Einhaltung des Grundsatzes des Spezialität nicht verzichtet hatte, insofern für zulässig erklärt. Dem Beschluss des Senats vom 15. November 2016 lag ein Europäischer Haftbefehl des Bezirksgerichts in Lomza vom 28. April 2016 (Aktenzeichen: xxx) zu Grunde.

Mit dem vorgenannten Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in Lomza vom 28. April 2016 (Aktenzeichen: xxx) haben die polnischen Justizbehörden nicht nur die - mittlerweile durchgeführte - Auslieferung des Verfolgten zum Zweck der Vollstreckung der vorgenannten Freiheitsstrafe wegen Betruges erstrebt, sondern erstreben sie zudem die Auslieferung des Verfolgten zum Zweck der Strafverfolgung wegen einer weiteren Tat. Soweit das Ersuchen die Strafverfolgung des Verfolgten betrifft, wird in dem Europäischen Haftbefehl mitgeteilt, dass ein Haftbefehl des Amtsgerichts in Lomza vom 10. Februar 2012 (Aktenzeichen: xxx) gegen den Verfolgten besteht. Danach wird ihm vorgeworfen, am 2. August 2011 gegen 17:30 Uhr auf dem Weg zwischen B. und Ř. die Tatopfer M. B. und A. L. zur Duldung einer sexuellen Handlung gezwungen zu haben, indem er gegen ihren Willen ihre Brüste und andere intime Körperteile berührte.

Eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten auch zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der dem Haftbefehl des Amtsgerichts in Lomza vom 10. Februar 2012 (Aktenzeichen: xxx) zu Grunde liegenden Tat vom 2. August 2011 hatte die Generalstaatsanwaltschaft zunächst nicht beantragt und war deshalb auch vom Senat in seinem Beschluss vom 15. November 2016 nicht getroffen worden. Denn dem Europäischen Haftbefehl war eine genaue Beschreibung der Umstände, unter denen diese Straftat begangen wurde, nicht zu entnehmen. Daher konnte nicht beurteilt werden, inwieweit der Verfolgte bei der Tat Gewalt angewendet hatte. Eine solche Beurteilung war aber nach der zum Zeitpunkt der Verhaftung des Verfolgten aufgrund des Europäischen Haftbefehls (11. Oktober 2016) geltenden Rechtslage zur Prüfung einer Strafbarkeit des dem Verfolgten zur Last gelegten Sexualdelikts nach deutschem Recht (§ 177 Abs. 1 StGB) und damit zur Prüfung der beidseitigen Strafbarkeit im Sinne von § 81 i. V. m. § 3 IRG erforderlich. Insofern hatte die Generalstaatsanwaltschaft Celle, nachdem der Verfolgte am 11. Oktober 2016 verhaftet und der Senat am 13. Oktober die Auslieferungshaft gegen ihn angeordnet hatte, unter dem 14. Oktober 2016 die polnischen Justizbehörden um ergänzende Informationen zu dem dem Verfolgten zur Last gelegten Tatgeschehen ersucht.

Im Hinblick auf den am 10. November 2016 in Kraft getretenen § 184i StGB (Sexuelle Belästigung) hat die Generalstaatsanwaltschaft Celle mit Zuschrift an den Senat vom 18. November 2016 nunmehr beantragt, ohne Rücksicht auf die noch ausstehende Antwort der polnischen Justizbehörden die Auslieferung auch zur Strafverfolgung wegen der Tat vom 2. August 2011 für zulässig zu erklären. Nach dem Inkrafttreten des § 184i StGB komme es für die Beurteilung einer Strafbarkeit nach deutschem Recht und damit der beiderseitigen Strafbarkeit im Sinne von § 81 i. V. m. § 3 IRG auf eine wie auch immer geartete Gewaltanwendung nicht mehr an, weil es genüge, wenn sich die Strafbarkeit nach deutschem Recht aus § 184i StGB ergebe.

Die Generalstaatsanwaltschaft Celle hat als zuständige Bewilligungsbehörde bereits mit Entschließung nach § 79 Abs. 2 Satz 1 IRG vom 18. Oktober 2016 erklärt, dass sie nicht beabsichtige, Bewilligungshindernisse geltend zu machen. Diese Entschließung ist dem Verfolgten in polnischer Übersetzung am 20. Oktober 2016 mit Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer Woche zugestellt worden. Der Verfolg...

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