Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorabentscheidungsersuchen. Befugnis eines unteren Gerichts, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Verordnung (EG) Nr. 1346/2000. Insolvenzverfahren. Internationale Zuständigkeit. Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners. Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat. Begriff ‚Niederlassung’

 

Beteiligte

Interedil

Interedil Srl, in Liquidation

Fallimento Interedil Srl

Intesa Gestione Crediti SpA

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 21.06.2012; Aktenzeichen IX ZB 287/11)

 

Tenor

1. Es ist mit dem Unionsrecht nicht vereinbar, dass ein nationales Gericht nach einer nationalen Verfahrensvorschrift an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten nationalen Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung des übergeordneten Gerichts nicht dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof entspricht.

2. Der Begriff „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen” des Schuldners im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren ist unter Bezugnahme auf das Unionsrecht auszulegen.

3. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1346/2000 ist im Hinblick auf die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft wie folgt auszulegen:

  • Bei der Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft ist dem Ort der Hauptverwaltung dieser Gesellschaft, wie er anhand von objektiven und durch Dritte feststellbaren Faktoren ermittelt werden kann, der Vorzug zu geben. Wenn sich die Verwaltungs- und Kontrollorgane einer Gesellschaft am Ort ihres satzungsmäßigen Sitzes befinden und die Verwaltungsentscheidungen der Gesellschaft in durch Dritte feststellbarer Weise an diesem Ort getroffen werden, lässt sich die in dieser Vorschrift aufgestellte Vermutung nicht widerlegen. Befindet sich der Ort der Hauptverwaltung einer Gesellschaft nicht an ihrem satzungsmäßigen Sitz, können das Vorhandensein von Gesellschaftsaktiva und das Bestehen von Verträgen über deren finanzielle Nutzung in einem anderen Mitgliedstaat als dem des satzungsmäßigen Sitzes der Gesellschaft nur dann als zur Widerlegung dieser Vermutung ausreichende Faktoren angesehen werden, wenn eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Faktoren die von Dritten überprüfbare Feststellung zulässt, dass sich der tatsächliche Mittelpunkt der Verwaltung und der Kontrolle der Gesellschaft sowie der Verwaltung ihrer Interessen in diesem anderen Mitgliedstaat befindet;
  • wird der satzungsmäßige Sitz einer Schuldnergesellschaft verlegt, bevor ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt wird, wird vermutet, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Gesellschaft am Ort ihres neuen satzungsmäßigen Sitzes befindet.

4. Der Begriff „Niederlassung” im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung ist dahin gehend auszulegen, dass er die Existenz einer auf die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgerichteten Struktur mit einem Mindestmaß an Organisation und einer gewissen Stabilität erfordert. Das bloße Vorhandensein einzelner Vermögenswerte oder von Bankkonten genügt dieser Definition grundsätzlich nicht.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Tribunale di Bari (Italien) mit Entscheidung vom 6. Juli 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Oktober 2009, in dem Verfahren

Interedil Srl, in Liquidation,

gegen

Fallimento Interedil Srl,

Intesa Gestione Crediti SpA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter M. Safjan, A. Borg Barthet und M. Ilešič sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Januar 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der Interedil Srl, in Liquidation, vertreten durch P. Troianiello, avvocato,
  • der Fallimento Interedil Srl, vertreten durch G. Labanca, avvocato,
  • der Intesa Gestione Crediti SpA, vertreten durch G. Costantino, avvocato,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Bambara und S. Petrova als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 10. März 2011

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1, im Folgenden: Verordnung).

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Interedil Srl, in Liquidation (im Folgenden: Interedil), auf der einen und der Fallimento Interedil Srl und der Intesa Gestione Crediti SpA (im Folgenden: Intesa), in deren Rechte die Italfondario SpA eingetreten ist, auf der anderen Seite über einen von Intesa gegen Interedil gestellten Insolvenzantrag.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Die Verordnung wurde ins...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt VerwalterPraxis Gold. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge