Entscheidungsstichwort (Thema)

Mitglied des Europäischen Parlaments. Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen. Art. 8. Strafverfahren wegen falscher Anschuldigung. Äußerungen außerhalb des Parlaments. Begriff der ‚in Ausübung des Amtes als Mitglied des Parlaments erfolgten Äußerung’. Immunität. Voraussetzungen

 

Beteiligte

Patriciello

Aldo Patriciello

 

Tenor

Art. 8 des dem EUV, dem AEUV und dem EAG-Vertrag beigefügten Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine von einem Europaabgeordneten außerhalb des Europäischen Parlaments abgegebene Erklärung, die in seinem Herkunftsmitgliedstaat zu einer strafrechtlichen Verfolgung wegen falscher Anschuldigung geführt hat, nur dann eine in Ausübung seines parlamentarischen Amtes erfolgte Äußerung darstellt, die unter die in dieser Vorschrift vorgesehene Immunität fällt, wenn sie einer subjektiven Beurteilung entspricht, die in einem unmittelbaren und offensichtlichen Zusammenhang mit der Ausübung eines solchen Amtes steht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren vorliegen.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Isernia (Italien) mit Entscheidung vom 9. März 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 2. April 2010, in dem Strafverfahren gegen

Aldo Patriciello

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot und J.-J. Kasel, der Richter G. Arestis, A. Borg Barthet, M. Ilešič, J. Malenovský und A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie des Richters M. Safjan,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Februar 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Herrn Patriciello, vertreten durch G. Ranaldi und G. Scalese, avvocati, sowie S. Fortunato, assistente,
  • der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,
  • der griechischen Regierung, vertreten durch K. Georgiadis, M. Germani und G. Papagianni als Bevollmächtigte,
  • des Europäischen Parlaments, vertreten durch H. Krück, A. Caiola und N. Lorenz als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral und C. Zadra als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juni 2011

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 des dem EUV, dem AEUV und dem EAG-Vertrag beigefügten Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (im Folgenden: Protokoll).

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht in einem Strafverfahren gegen Herrn Patriciello, Mitglied des Europäischen Parlaments, wegen falscher Anschuldigung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 8 des Protokolls lautet:

„Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen Mitglieder des Europäischen Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden.”

Rz. 4

In Art. 9 des Protokolls heißt es:

„Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

  1. steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,

    …”

Rz. 5

Art. 18 des Protokolls lautet:

„Bei der Anwendung dieses Protokolls handeln die Organe der Union und die verantwortlichen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen.”

Rz. 6

Art. 6 („Aufhebung der Immunität”) der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (ABl. 2005, L 44, S. 1, im Folgenden: Geschäftsordnung des Parlaments) bestimmt:

„(1) Bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse hinsichtlich der Vorrechte und Immunitäten ist es vorrangiges Ziel des Parlaments, seine Integrität als demokratische gesetzgebende Versammlung zu wahren und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sicherzustellen.

(3) Jeder an den Präsidenten gerichtete Antrag eines Mitglieds oder eines ehemaligen Mitglieds auf Schutz der Immunität und der Vorrechte wird dem Plenum mitgeteilt und an den zuständigen Ausschuss überwiesen.

…”

Rz. 7

Art. 7 Abs. 2, 6 und 7 dieser Geschäftsordnung, der die Vorschriften für die Verfahren bezüglich der Immunität der Europaabgeordneten enthält, lautet:

„(2) Der Ausschuss unterbreitet einen Vorschlag für einen Beschluss, der sich darauf beschränkt, die Annahme oder Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Immunität oder auf Schutz der Immunität und der Vorrechte zu empfehlen.

(6) In Fällen des Schutzes eines Vorrechts oder der Immunität prüft der Ausschuss, inwieweit die Umstände eine verwaltungstechnische oder sonstige Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Mitglieder bei der An- oder Abreise zum bzw. vom Tagungsort des Parlaments oder bei der Ab...

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