Sachverhalt

Bei dem lettischen Verfahren ging es um die Frage der Auslegung von Art. 183 MwStSystRL. Im Rahmen des Ausgangsverfahrens war umstritten, inwieweit Lettland ermächtigt ist, Vorsteuerüberschüsse eines Steuerpflichtigen, die einen bestimmten Anteil dessen steuerbarer Umsätze übersteigen, nicht zu erstatten, bis bei der Steuerverwaltung die Jahresumsatzsteuererklärung eingegangen ist. Die Klägerin hatte für den Voranmeldungszeitraum November einen Vorsteuerüberhang von rd. 2100 LVL ausgewiesen und eine entsprechende Erstattung beantragt. Die lettische Finanzbehörde hatte die Erstattung auf der Basis von Art. 285 des Dekrets Nr. 933 des Ministerrats v. 14.11.2006 (Bestimmungen zur Anwendung des UStG) in Höhe von rd. 1500 LVL abgelehnt. In dem Zeitraum, in dem der Vorsteuerüberhang entstanden sei, habe dieser Überschuss 18 % des Gesamtwerts der steuerbaren Umsätze der Klägerin in den entsprechenden Voranmeldungszeiträumen überstiegen. Folglich sei in entsprechender Höhe die Erstattung des Überschusses zu versagen. Der Rest des Überschusses konnte der Klägerin nur auf Grundlage der von ihr eingereichten USt-Jahreserklärung erstattet werden.

Lettland macht insofern Gebrauch von Art. 183 MwStSystRL. Danach können die Mitgliedstaaten für einen Besteuerungszeitraum entstandene Vorsteuerüberhänge entweder auf den folgenden Besteuerungszeitraum übertragen oder den Überhang nach den von den Mitgliedstaaten festgelegten Einzelheiten erstatten.

Der EuGH hatte sich schon mehrfach mit dieser Vorschrift (entspricht Art. 18 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie) befasst (vgl. z.B. EuGH v. 25.10.2001, C-78/00 (Kommission / Italien)). Zwar lässt danach die Vorschrift einen gewissen Spielraum erkennen, die Erstattungsmodalitäten dürfen aber nicht dazu führen, dass sie den Neutralitätsgrundsatz der MwSt verletzen und den Unternehmer ganz oder zum Teil mit MwSt belasten. Deshalb muss die Erstattung von Vorsteuerguthaben innerhalb einer angemessenen Frist und durch Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichartige Weise erfolgen. Keinesfalls darf dem Unternehmer durch die gewählte Erstattungsmethode ein finanzielles Risiko entstehen. Den Anspruch auf zügige Auszahlung leitet der EuGH aus dem Recht des Unternehmers ab, den Vorsteuerabzug sofort ausüben zu dürfen.

In seinem Urteil v. 21.1.2010, C-472/08 (Alstom Power Hydro) hatte der EuGH sich schon einmal mit den lettischen Bestimmungen zur Erstattung von Vorsteuerüberhängen beschäftigt. Nach lettischem Recht erlischt das Recht auf Erstattung eines Vorsteuerüberschusses nach einer Frist von drei Jahren ab Ablauf der Frist, die für die Entrichtung der Mehrwertsteuer vorgesehen ist. Innerhalb der gleichen Frist haben die lettischen Steuerbehörden die Möglichkeit, die Steuerfestsetzung zu ändern. Der EuGH hatte entschieden, dass Art. 18 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie zwar keine Ausschlussfrist für die Erstattung von Vorsteuerüberschüssen kennt. Daraus kann - so der EuGH - aber nicht allein geschlossen werden, dass die Bestimmung dahin auszulegen ist, dass die Ausübung des Rechts auf Erstattung zu viel gezahlter Mehrwertsteuer nicht einer Ausschlussfrist unterliegen kann.

 

Entscheidung

Im vorliegenden Verfahren hat der EuGH seine frühere Rechtsprechung bestätigt. Er weist unter Bezugnahme auf sein Urteil v. 28.7.2011, C-274/10 (Kommission / Ungarn) darauf hin, dass die Freiheit, über die die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut von Art. 183 MwStSystRL bei der Festlegung der Einzelheiten der Erstattung eines Vorsteuerüberhangsverfügen, nicht bedeutet, dass diese Einzelheiten von jeder unionsrechtlichen Kontrolle freigestellt sind. Zwar ist der Aufschub der Erstattung eines Vorsteuerüberhanges über mehrere auf den Zeitraum der Entstehung des Überschusses folgende Steuerzeiträume nicht notwendigerweise mit Art. 183 Abs. 1 MwStSystRL unvereinbar. Im Ausgangsverfahren kann jedoch das lettische Recht dazu führen, dass dem Unternehmer ein Vorsteuerguthaben erst ein Jahr nach dem Voranmeldungszeitraum, in dem der Überschuss entstanden ist, oder sogar noch später vollständig erstattet wird. Einen solch langen Zeitraum hält der EuGH für unverhältnismäßig. Das gilt auch dann, wenn es sich bei der in Rede stehenden Verzögerung der Erstattung um eine präventive Maßnahme zur Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen handelt. Somit erlaubt es Art. 183 MwStSystRL nicht, ohne besondere Prüfung allein auf der Grundlage einer mathematischen Berechnung die Erstattung eines Teils des in einem Monat (Voranmeldungszeitraum) entstandenen Vorsteuerüberhangs aufzuschieben, bis die Finanzverwaltung die Jahressteuererklärung des Unternehmers geprüft hat.

 

Hinweis

Die deutsche Rechtslage ist durch das Urteil nicht betroffen, da Deutschland, abgesehen von den Fällen der Sicherheitsleitung nach § 18f UStG, von der Option des Art. 183 MwStSystRL keinen Gebrauch macht. In Deutschland können Unternehmer derzeit die Vorsteuer grundsätzlich bereits abziehen, wenn eine Leistung an sie erfolgt ist un...

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