Leitsatz

1. Wird ein Erlassantrag von einer sachlich unzuständigen Behörde abgelehnt, ist die Klage auch dann gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO gegen diese Ausgangsbehörde zu richten, wenn die Einspruchsentscheidung von der für die Ausgangsentscheidung sachlich und örtlich zuständigen Behörde getroffen wird.

2. Der Heilungstatbestand des § 126 AO erfasst nicht den Mangel der fehlenden sachlichen Zuständigkeit.

3. Die rechtswidrige Ablehnung des Erlasses einer Kindergeldrückforderung durch eine sachlich unzuständige Behörde wird nicht dadurch rechtmäßig, dass die für die Prüfung des Erlasses sachlich und örtlich zuständige Familienkasse den Einspruch gegen den Ausgangsbescheid als unbegründet zurückweist.

4. Stellt die Einspruchsbehörde im Rahmen der gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO durchzuführenden umfassenden Prüfung der Erlassablehnung fest, dass die Ausgangsbehörde sachlich unzuständig war, hat sie deren Ausgangsbescheid aufzuheben und durch einen neuen Ausgangsbescheid erstmals selbst über den Erlassantrag zu entscheiden. Im Falle der Erlassablehnung steht dem Antragsteller dagegen der Einspruch offen.

 

Normenkette

§ 126, § 127, § 19 Abs. 1 Satz 1, § 128, § 367 Abs. 2 Satz 1 AO, § 44 Abs. 2, § 63 Abs. 1 Nrn. 1 und 2, Abs. 2 Nr. 1 FGO

 

Sachverhalt

Die Klägerin erhielt laufend Kindergeld für sich selbst. Im Oktober 2014 beendete sie ihre Ausbildung vorzeitig, wovon die zuständige Familienkasse NRW Nord erst 2016 erfuhr. Sie hob deshalb gegenüber dem Vater der Klägerin die Kindergeldfestsetzung auf und forderte von der Klägerin als Abzweigungsempfängerin das für November 2014 bis Juli 2016 gezahlte Kindergeld zurück. Beide Bescheide wurden bestandskräftig.

Die Durchführung des Rückforderungsverfahrens übernahm die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse.

Im November 2017 beantragte die Klägerin den Erlass dieser Rückforderung. Die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse erließ eine Teilforderung i.H.v. 184 EUR und lehnte den Erlassantrag im Übrigen ab. Den Einspruch wies die Familienkasse NRW Nord mit Einspruchsentscheidung vom 17.5.2018 als unbegründet zurück.

Das FG gab der Klage insoweit statt, als die Klägerin die Aufhebung des Ablehnungsbescheids und der Einspruchsentscheidung vom 17.5.2018 begehrte (FG Münster, Urteil vom 21.12.2021, 1 K 2235/18 Kg,AO, Haufe-Index 15070425). Soweit die Klägerin darüber hinaus die Verpflichtung der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse zum Ausspruch des begehrten Erlasses beantragte, wies das FG die Klage als unbegründet ab.

 

Entscheidung

Der BFH wies die Revision der Familienkasse als unbegründet zurück. Dies hat zur Folge, dass die für den Kindergeldberechtigten zuständige Familienkasse über den Erlassantrag zu entscheiden hat.

 

Hinweis

1. Die Bundesagentur für Arbeit hatte bekanntlich die sachliche Zuständigkeit für Kindergeldfälle in unzulässiger Weise aufgespalten und das Erhebungsverfahren bundesweit der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse sowie – als Einspruchsbehörde – der Familienkasse NRW Nord übertragen. Deren Entscheidungen im Erhebungsverfahren hatten daher keinen Bestand (z.B. BFH, Urteil vom 25.2.2021, III R 36/19, BFH/NV 2021, 956, BStBl II 2021, 712).

Im Streitfall war die Familienkasse NRW Nord "zufällig" die (sachlich und örtlich) zuständige Behörde. Die Bundesagentur vertrat daher die Auffassung, deren Einspruchsentscheidung habe die – wegen Unzuständigkeit rechtswidrige – Ausgangsentscheidung der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service, geheilt.

2. Eine Klage ist (abgesehen vom Sonderfall des Zuständigkeitswechsels nach Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO) auch dann gegen die Ausgangsbehörde zu richten, wenn die Rechtsmittelbelehrung besagt, sie sei gegen die Einspruchsbehörde zu richten (Ls. 1). Das FG hat eine Klage gegen die Einspruchsbehörde ggf. mittels rechtsschutzgewährender Auslegung zu korrigieren.

3. Die fehlende sachliche Zuständigkeit der Agentur für Arbeit Recklinghausen ist nicht nach § 126 AO geheilt worden, denn der Katalog des § 126 Abs. 1 Nrn. 1 bis 5 AO ist abschließend.

§ 127 AO steht der Aufhebung des Verwaltungsakts einer sachlich unzuständigen Behörde nicht entgegen und ist im Übrigen auf Ermessensentscheidungen nicht anwendbar.

4. Der Mangel der sachlichen Zuständigkeit wird nicht durch die Gesamtüberprüfung des Streitfalls im Einspruchsverfahren geheilt. Gegenstand der Anfechtungsklage ist zwar gemäß § 44 Abs. 2 FGO der ursprüngliche Verwaltungsakt in Gestalt der Einspruchsentscheidung; dies gilt entsprechend für die Verpflichtungsklage. Verfahrensgegenstand ist danach der Ausgangsbescheid mit den Änderungen durch die Einspruchsentscheidung; beide Verwaltungsakte bilden einen Verbund. Da die nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO durchzuführende Prüfung sich aber auch auf die örtliche und sachliche Zuständigkeit der Ausgangsbehörde erstreckt, kann ein Mangel der sachlichen Zuständigkeit im Einspruchsverfahren korrigiert werden. Ei...

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