rechtskräftig Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen durch BFH Beschluss IX B 48/21 vom 8. 10. 2021

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Versäumnis der Klagefrist durch fehlerhafte Kanzleiorganisation - Beweiskraft der Postzustellungsurkunde

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die besondere Beweiskraft der Postzustellungsurkunde als öffentlicher Urkunde setzt eine vollständige und ordnungsgemäße Erfüllung formaler Voraussetzungen der Zustellungsvordruckverordnung voraus. Hierzu hat das Gericht umfassende Feststellungen zu treffen.

2. Eine Vernehmung eines auf der Postzustellungsurkunde benannten Postzustellers kann unterbleiben, wenn sich keine Zweifel an der Richtigkeit einer Postzustellungsurkunde aufdrängen.

3. Ein Rechtsanwalt ist verpflichtet, Umschläge über ihm förmlich zugestellte Schriftstücke systematisch zur Kenntnis zu nehmen, aufzubewahren und zur Handakte zu nehmen.

 

Normenkette

AO § 122 Abs. 5; VwZG § 3 Abs. 1; ZPO § 418 Abs. 2; ZuStVV § 2 Abs. 2 S. 2

 

Nachgehend

BFH (Beschluss vom 08.10.2021; Aktenzeichen IX B 48/21)

 

Tatbestand

Streitig ist die Wahrung der Klagefrist einer Anfechtungsklage.

Die Klage richtet sich gegen einen Einkommensteuerbescheid vom 21. April 2020 (Bl. 45 ff. Einkommensteuerakten), gegen den der Klägervertreter mit Schreiben vom 18. Mai 2020 (Bl. 49 Einkommensteuerakten) "namens und im Auftrage von Herrn A. K. Einspruch" eingelegt und die Aussetzung der Vollziehung beantragt hatte. Zur Begründung bezog er sich inhaltlich auf "meine Ausführungen" in einem früheren Schreiben. Zudem war die Ablehnung des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung vom 19. Mai 2020 (Bl. 87 Einkommensteuerakten) an ihn adressiert, er legte er mit Schreiben vom 16. Juni 2020 (Bl. 67 Einkommensteuerakten) vorsorglich Einspruch gegen die Ablehnung des Antrags ein und war Adressat einer Entscheidung des Beklagten über die Aussetzung der Vollziehung vom 18. Juni 2020 (Bl. 94 Einkommensteuerakten).

Die Einspruchsentscheidung (Bl. 170 ff. Einkommensteuerakten) erging unter dem Aktenzeichen "…", datierte auf den 27. August 2020 und war an die inländische Anschrift des Prozessbevollmächtigten des Klägers "Herr K.S. Rechtsanwalt, …str. .., …. " adressiert und sollte diesem ausweislich des Erledigungsvermerks (Bl. 174 Einkommensteuerakten) per Postzustellungsurkunde ("PZU") zugestellt werden.

Auf einer bei der Akte befindlichen PZU vom 28. August 2020, die mit dem Betreff "…EE EStB 2018" bezeichnet war, war angegeben, dass das zuzustellende Schriftstück dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 28. August 2020 (Freitag) um 13.30 Uhr durch die Postbedienstete N.H. zu übergeben versucht worden sei. Weil die Übergabe des Schriftstücks in dem unter der Anschrift bestehenden Geschäftsraum nicht möglich gewesen sei, habe die Postbedienstete das Schriftstück in den zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung gelegt. Das vorgenannte Datum und die Uhrzeit seien auch auf dem Umschlag des Schriftstücks vermerkt worden. Die PZU trug über dem Namensfeld "N.H." eine Unterschrift und bei dem Feld "Postunternehmen/Behörde" den Stempel "Deutsche Post AG Zustellstützpunkt".

Mit Schriftsatz vom 29. September 2020 (Dienstag), beim Gericht eingegangen per Fax am gleichen Tag, erhob der Klägervertreter für den Kläger Klage gegen den vorgenannten Einkommensteuerbescheid in Gestalt der vorgenannten Einspruchsentscheidung. Der Kläger ist der Auffassung, die Klage noch fristgerecht eingereicht zu haben, weil dem Beklagten keine schriftliche Vollmacht des Klägers für den Klägervertreter vorgelegen habe, obwohl entsprechende Anfragen bei fehlender Vollmacht "gängige Übung" seien, wie eine beispielhafte Anfrage eines anderen Finanzamts an den Klägervertreter zeige.

Zudem sei die Einspruchsentscheidung dem Klägervertreter tatsächlich erst am 31. August 2020 zugestellt worden. In der Büropraxis des Klägervertreters werde der Briefkasten, der zum Wohnhaus des Klägervertreters gehöre, täglich von seiner Ehefrau, der Zeugin S., die über 30 Jahre im Büro des Klägers uneingeschränkt zuverlässig tätig sei, geleert. Seine Ehefrau sei gelernte Industriekauffrau und habe ab 1990 angefangen, mit ihm in einer Bürogemeinschaft und dort zusammen mit ausgebildeten Fachangestellten zu arbeiten. Seitdem der Klägervertreter aus Altersgründen seine Kanzlei im Jahr 2018 in das Privatwohnhaus verlegt habe und nur noch ca. 100 Verfahren im Jahr bearbeite, wovon ca. 70% bis 80% nach seiner Schätzung fristgebundene Verfahren seien, mache seine Ehefrau alle dort anfallenden Arbeiten. Die Bürozeiten der Kanzlei seien freitags bis 12:00 Uhr. Es komme auch vor, dass nochmal mittags nach der Post geschaut werde.

Der Klägervertreter verfüge an seinem Privathaus über zwei verschiedene einfache Briefkästen - einen für seine private Post sowie einen für die Anwaltspost -, die keinen automatischen Mechanismus für eine Unterscheidung zur tageweisen Zustellung wie einen Klappmechanismus oder Ähnliches hätten. Die Postzusteller würden häufig Post sowohl für ih...

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