Leitsatz (amtlich)

Ein nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Einkommensteuerveranlagung gestellter Antrag auf Gewährung der Steuerbegünstigung nach § 10a EStG kann zu keiner Berichtigung der Veranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO führen; der nachträglich gestellte Antrag ist keine neue Tatsache im Sinne von § 222 AO.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nrn. 1-2; EStG § 10a

 

Tatbestand

Das FA (Beklagter und Revisionsbeklagter) hat den Steuerpflichtigen (Kläger und Revisionskläger) für die Kalenderjahre 1960 und 1961 unanfechtbar zur Einkommensteuer veranlagt. Für diese Veranlagungszeiträume hat der Steuerpflichtige die Voraussetzungen für die Gewährung der Steuerbegünstigung des nicht entnommenen Gewinns nach § 10a EStG unstreitig erfüllt. Die Steuerbegünstigung ist ihm bei der Veranlagung aber nicht gewährt worden, weil er in den mit Hilfe eines Steuerbevollmächtigten ausgefüllten Einkommensteuer-Erklärungen weder entsprechende Angaben gemacht, noch einen Antrag auf Gewährung der Steuerbegünstigung gestellt hat.

Bei einer späteren Betriebsprüfung, die sich u. a. auf die Jahre 1960 und 1961 erstreckt hat, beantragte der Steuerpflichtige, ihm die Steuerbegünstigung nach § 10a EStG für die Jahre 1960 und 1961 zu gewähren. Der Betriebsprüfer stellte neben neuen Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO auch fest, daß der Steuerpflichtige zu dem in § 10a Abs. 1 EStG aufgeführten Personenkreis gehört und daß die übrigen tatsächlichen Voraussetzungen des § 10a EStG gegeben seien. Er befürwortete für die Veranlagungszeiträume 1960 und 1961 jedoch nur den Abzug eines nicht entnommenen Gewinns bis zur Höhe des durch ihn auf Grund der Betriebsprüfung ermittelten höheren Einkommens, so daß das bisherige und das neue Steuersoll gleich hoch waren.

Das FA hat sich bei der Berichtigungsveranlagung für 1960 und 1961 dem Standpunkt des Betriebsprüfers angeschlossen. Es ließ für 1960 lediglich rd. 2 000 DM und für 1961 lediglich rd. 6 000 DM als nicht entnommenen Gewinn zum Abzug zu. Mit dem Einspruch beantragte der Steuerpflichtige, für die beiden Streitjahre jeweils einen nicht entnommenen Gewinn von 20 000 DM als Sonderausgaben abzuziehen. Der Einspruch wurde zurückgewiesen.

Die Klage hatte aus folgenden Gründen keinen Erfolg: Durch die Betriebsprüfung seien ausschließlich neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO bekanntgeworden, die eine höhere Veranlagung gerechtfertigt hätten. Dadurch habe der ganze Steuerfall zwar wieder aufgerollt werden können, jedoch nur in den Grenzen des § 232 Abs. 1 AO bzw. des § 42 Abs. 1 FGO. Eine gleichzeitige Berichtigung der Einkommensteuer-Bescheide 1960 und 1961 wegen neuer Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO hätte allerdings die Berücksichtigung des nicht entnommenen Gewinns mit dem beantragten Höchstbetrag ermöglicht. Durch die Betriebsprüfung seien aber keine rechtserheblichen neuen Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO aufgedeckt worden. Die Tatsache, daß der Steuerpflichtige zu dem nach § 10a EStG begünstigten Personenkreis gehöre, sei zwar für das FA neu gewesen. Es müsse aber für eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO hinzukommen, daß die neuen Tatsachen steuerlich rechtserheblich seien. Das sei hier nicht der Fall gewesen; denn die berichtigten Einkommensteuer-Bescheide 1960 und 1961 wären nicht anders ausgefallen, wenn die Tatsachen, aus deren Vorliegen sich die Anspruchsberechtigung des Steuerpflichtigen ergebe, der Veranlagungsstelle bereits im Zeitpunkt der Steuerfestsetzungen bekannt gewesen wären. Die Steuerbegünstigung des § 10a EStG könne nur auf Antrag gewährt werden. Diesen Antrag habe der Steuerpflichtige aber seinerzeit nicht gestellt. Die steuerliche Rechtserheblichkeit der hier in Betracht kommenden Tatsachen könne nicht nachträglich durch die Antragstellung im Berichtigungsverfahren herbeigeführt werden. Zwar sei in § 10a EStG für die Stellung des Antrags keine Frist vorgeschrieben. Daraus könne aber nicht geschlossen werden, daß der Antrag zu jeder beliebigen Zeit nachgeholt werden könne. Der Steuerpflichtige habe die Möglichkeit der Antragstellung für einen bestimmten Veranlagungszeitraum dann verloren, wenn die Veranlagung für diesen Zeitabschnitt unanfechtbar durchgeführt worden sei. Für sich allein reiche der Antrag nicht dazu aus, Anlaß zu einer Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AO zu geben. Die Nachholung des unterlassenen Antrags stelle keine neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO dar (vgl. das Urteil des BFH VI 161/59 vom 13. Mai 1960, StRK, Reichsabgabenordnung, § 222, Rechtsspruch 42 = DB 1961, 119).

Mit der Revision rügt der Steuerpflichtige die Verletzung materiellen Rechts. Er trägt vor: Unzweifelhaft sei seine durch die Betriebsprüfung aufgedeckte persönliche Berechtigung, die Begünstigung des § 10a EStG in Anspruch zu nehmen, eine "Tatsache" im Sinne von § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO. Diese Tatsache sei auch neu im Sinne der vorgenannten Vorschrift. Wenn aber seine Berechtigung auf Inanspruchnahme des § 10a EStG erstmals während der Betriebsprüfung aufgedeckt worden sei, dann könne er doch schwerlich schon vorher einen Antrag gestellt haben. Er habe auch nie vorgetragen, daß die Antragstellung selbst eine neue Tatsache sei. Er habe vielmehr stets dargelegt, daß die Voraussetzung, die zur Inanspruchnahme der Steuerbegünstigung des § 10a EStG führe, als neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO anzusehen sei. Daß aber gerade diese Tatsache neu sei, sei unbestritten. Andererseits sei die Antragstellung nach § 10a EStG nicht fristgebunden. Damit seien alle Voraussetzungen, die nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO eine volle Berücksichtigung der Steuerbegünstigung des § 10a EStG rechtfertigten, erfüllt. Nur wenn dem FA bei der ursprünglichen Veranlagung die Tatsache bekannt gewesen wäre, daß er zu den nach § 10a EStG Berechtigten zähle, wäre diese Tatsache nicht neu im Sinne von § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist nicht begründet.

Gegen einen Berichtigungsbescheid nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO können alle Gründe geltend gemacht werden, die eine Herabsetzung der Mehrsteuer rechtfertigen. Die neue Steuerfestsetzung ist so durchzuführen, als handele es sich um die erste Veranlagung (ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. das Urteil des BFH V 149/64 vom 30. Januar 1969, BFH 95, 236, BStBl II 1969, 409). Diese Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles hat zur Folge, daß auch die Einwendungen des Steuerpflichtigen im vollen Umfange zu prüfen sind. Eine nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zuungunsten des Steuerpflichtigen durchzuführende Wiederaufrollung darf aber nur in den durch § 232 Abs. 1 AO gesteckten Grenzen erfolgen (ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. das vorstehende Urteil des BFH V 149/64). Sie kann nicht zur Festsetzung einer niedrigeren als der ursprünglich festgesetzten Steuer führen (vgl. das Urteil des BFH VI 45/61 vom 13. April 1962, StRK, Reichsabgabenordnung, § 222, Rechtsspruch 108). Von dieser Rechtslage ist auch das FG zutreffend ausgegangen. Es hat deshalb in Übereinstimmung mit dem FA anerkannt, daß der Steuerpflichtige auf Grund seines bei der Betriebsprüfung gestellten Antrags die Steuerbegünstigung des nicht entnommenen Gewinns bis zur Höhe der vom Betriebsprüfer festgestellten Mehrbeträge in Anspruch nehmen kann. Das FG hat andererseits zu Recht ausgeführt, daß die Schranke des § 232 Abs. 1 AO (§ 42 Abs. 1 FGO) dann nicht besteht, wenn durch eine Betriebsprüfung auch oder lediglich neue Tatsachen im Sinne von § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO zugunsten des Steuerpflichtigen festgestellt worden sind (vgl. das Urteil des BFH V 299/60 S vom 14. August 1963, BFH 77, 418, BStBl III 1963, 472). Solche Tatsachen liegen aber im Streitfall nach der zutreffenden Ansicht des FG nicht vor.

Für das FA war - das hat das FG in nicht zu beanstandender Weise festgestellt - die vom Betriebsprüfer festgestellte Tatsache, daß der Steuerpflichtige zu dem nach § 10a EStG begünstigten Personenkreis rechnet, neu. Trotzdem kann das entgegen der Ansicht des Steuerpflichtigen nicht zu einer Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO zu seinen Gunsten führen. Denn selbst wenn diese Tatsache dem FA bei der ursprünglichen Veranlagung bekannt gewesen wäre, hätte es sie nicht berücksichtigen dürfen, weil der Steuerpflichtige keinen entsprechenden Antrag gestellt hatte. Die Begünstigung des § 10a EStG wird aber nur auf Antrag gewährt (§ 10a Abs. 1 EStG). Es steht dem Steuerpflichtigen frei, ob er von seinem Antragsrecht Gebrauch machen will oder nicht (vgl. Herrmann-Heuer, Kommentar zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, § 10a EStG, Anm. 8). Mangels eines rechtzeitig gestellten Antrags ist also die an sich vorhandene neue Tatsache - Zugehörigkeit zu dem nach § 10a EStG begünstigten Personenkreis - nicht rechtserheblich. Sie kann demnach nicht zu einer Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO führen (vgl. das Urteil des BFH VI 161/59, a. a. O.). Denn es ist entscheidend, ob der ursprüngliche Bescheid auch hätte ergehen können oder gar müssen, wenn das FA die neue Tatsache gekannt hätte (vgl. Spitaler-Paulick in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 222 AO, Anm. 158; Mattern-Meßmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 1705).

Dem Steuerpflichtigen ist darin zuzustimmen, daß der Antrag nach § 10a Abs. 1 EStG an keine gesetzliche Frist gebunden ist. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, daß er zu jeder beliebigen Zeit gestellt werden könnte. Daß er aber normalerweise mit der Einreichung der Einkommensteuer-Erklärung zu stellen ist, folgt aus dem mit ihm angestrebten Zweck. Ist er zu diesem Zeitpunkt nicht gestellt, so kann er doch solange nachgeholt werden, als die Veranlagung noch nicht unanfechtbar geworden ist und, falls gegen sie ein Rechtsmittel anhängig ist, noch neue Tatsachen vorgebracht werden können (vgl. das Urteil des BFH VI 161/59, a. a. O.; Brauel, Finanz-Rundschau 1964, S. 51). Ist ein Bescheid, wie im Streitfall, zwar unanfechtbar geworden, aber wegen der Aufdeckung neuer Tatsachen änderbar, so kann der Antrag, wie sich aus der Wiederaufrollung des Falles ergibt, von neuem gestellt werden. Aus diesem Grunde haben das FA und das FG ja auch dem Antrag auf Steuerbegünstigung nach § 10a EStG stattgegeben, allerdings nur bis zur Höhe des durch die Betriebsprüfung ermittelten Mehrbetrags. Eine darüber hinausgehende Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen wäre, wie dargelegt, nur zulässig gewesen, wenn durch die Betriebsprüfung neue Tatsachen aufgedeckt werden, die eine niedrigere Veranlagung gerechtfertigt hätten. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. Zu diesen neuen Tatsachen rechnet, was der Steuerpflichtige letztlich selbst nicht verkennt, der unterlassene Antrag nicht, zumal Tatsachen im Sinne von § 222 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AO nur objektive Tatbestandsmerkmale sind, die unabhängig vom Willen des Steuerpflichtigen bestehen (vgl. Brauel, a. a. O.). Wie das FG zutreffend ausgeführt hat, reicht die Stellung des Antrags für sich allein nicht aus, um die Voraussetzungen für eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO zu schaffen (vgl. das Urteil des BFH VI 161/59, a. a. O.). Die Feststellung des Betriebsprüfers, daß es der Steuerpflichtige versäumt hat, einen Antrag nach § 10a Abs. 1 EStG zu stellen, wäre allenfalls die Aufdeckung eines Fehlers des Steuerpflichtigen, nicht aber die Aufdeckung einer dem FA neuen Tatsache (vgl. das Urteil des Senats VI 363/65 vom 16. Dezember 1966, BFH 87, 595, BStBl III 1967, 271).

Der Steuerpflichtige wendet zwar zutreffend ein, daß nach dem Urteil des FG Münster II a 331/58 vom 30. Mai 1959 (Deutsche Steuerrundschau 1959 S. 347) eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht mit der Begründung verneint werden könne, es handele sich um einen nur auf Antrag zu berücksichtigenden Sachverhalt. Das FG Münster hat die gleiche Ansicht in dem Urteil II a 383/59 vom 23. Juni 1959 (EFG 1960, 117) vertreten; diese Entscheidung ist jedoch vom Senat durch das Urteil VI 161/59 (a. a. O.) aufgehoben worden. Danach haben sich das FG Münster in einer anderen Entscheidung I a 81-85/60 vom 27. April 1961 (EFG 1961, 515) und das Niedersächsische FG Hannover im Urteil II 71-82/60 vom 4. August 1961 (EFG 1962, 114) dem BFH angeschlossen. Außerdem hat der Senat in dem angeführten Urteil VI 363/65 seine im Urteil VI 161/59 (a. a. O.) geäußerte Rechtsansicht bestätigt; diese wird, soweit ersichtlich, auch im Schrifttum einhellig geteilt (vgl. Herrmann-Heuer, a. a. O., § 2 EStG Anm. 102 E 104, 159; Tipke-Kruse, a. a. O., § 222 AO, Anm. 10 am Ende; Woerner, Die Zurücknahme und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 2. Aufl., S. 55; Söffing, Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe A, 1961, S. 168; Brauel, a. a. O.; ebenso im Ergebnis, jedoch mit etwas abweichender Begründung: Mattern-Meßmer, a. a. O., Tz. 1706).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO. Der Antrag des Steuerpflichtigen nach § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO kann schon deshalb keinen Erfolg haben, weil er voll unterlegen ist (vgl. das Urteil des BFH III 334/63 vom 23. Februar 1967, BFH 88, 294).

 

Fundstellen

BStBl II 1970, 33

BFHE 1970, 72

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