Leitsatz (amtlich)

Ein Steuerpflichtiger kann gegenüber einer Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht mit Erfolg einwenden, er habe nach dem BFH-Urteil vom 9. Mai 1957 IV 107/55 U (BFHE 65, 63, BStBl III 1957, 258) darauf vertrauen dürfen, daß er die Steurbegünstigung nach § 10a EStG nicht verlieren werde, wenn er zum Ausgleich von Entnahmen geliehenes Geld kurzfristig einlegte.

 

Normenkette

EStG § 10a; AO § 222 Abs. 1 Nr. 1; StAnpG § 6

 

Tatbestand

Streitig ist, ob bei kurzfristigen Einlagen zum Jahresende die Steuerbegünstigung des nicht entnommenen Gewinns (§ 10a EStG) in Anspruch genommen werden kann.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), ein Gewerbetreibender, ermittelt seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich nach § 5 EStG. Er gehörte zu dem in § 10a Abs. 1 EStG aufgeführten begünstigten Personenkreis und nahm in den Streitjahren die Steuerbegünstigung des nicht entnommenen Gewinns nach der vorgenannten Vorschrift in Anspruch.

Bei einer Betriebsprüfung wurde festgestellt, daß der Kläger in allen Streitjahren Ende Dezember Einlagen geleistet und den gleichen Betrag in den ersten Tagen des folgenden Jahres wieder entnommen hatte, nämlich:

Einlage Entnahme

30. Dezember 1957 12 000 DM 2. Januar 1958 12 000 DM

30. Dezember 1958 15 000 DM 7. Januar 1959 15 000 DM

30. Dezember 1960 75 000 DM 4. Januar 1961 75 000 DM

28. Dezember 1961 95 000 DM 2. Januar 1962 100 000 DM

28. Dezember 1962 130 000 DM 3. Januar 1963 140 000 DM

Die Mittel hatte der Kläger sich durch privat aufgenommene Schuldscheindarlehen einer Sparkasse beschafft, wobei der Rückzahlungstermin Anfang Januar von vornherein vereinbart war. Nur Ende 1961 hatte ein Teil der Mittel aus dem Verkauf privater Wertpapiere gestammt.

Nach diesen Feststellungen kam der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) zu der Auffassung, daß es sich bei den Geldbewegungen weder um Einlagen noch um Entnahmen gehandelt habe. Das FA berechnete deshalb die nicht entnommenen Gewinne 1957, 1958 und 1961 niedriger und versteuerte 1960 und 1962 nicht entnommene Gewinne der Vorjahre nach. Dementsprechend ergingen für 1957, 1958 und 1960 nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO berichtigte und für 1961 und 1962 nach vorläufigen berichtigte Steuerbescheide.

Einspruch und Klage blieben - soweit um die Steuervergünstigung des nicht entnommenen Gewinns gestritten wird - erfolglos. Das FG führte im wesentlichen aus:

Mit Recht habe das FA die Buchungen des Klägers über den Zu- und Abfluß der oben genannten Beträge nicht als Einlagen und Entnahmen anerkannt und daraus die Folgerungen für die Berechnung des nicht entnommenen Gewinns als Sonderausgabe und für die Nachversteuerung nicht entnommener Gewinne gezogen. Das vom Kläger jeweils eingelegte und wenige Tage später wieder entnommene Wirtschaftsgut sei rechtlich eine Forderung gegen die Sparkasse, wirtschaftlich Buchgeld. Geld könne ausnahmsweise kein Betriebsvermögen werden, wenn kein objektiv erkennbarer Zusammenhang zwischen Geld und Betrieb bestehe. Das sei hier der Fall. Bei den Buchungen des Klägers sei es nicht um eine Verstärkung des Betriebskapitals, sondern allein um die Steuerbegünstigung des § 10a EStG gegangen. Der Kläger habe nach seiner eigenen Erklärung - fachkundig beraten - diesen Weg im Vertrauen auf die Rechtsprechung des BFH aus dem Jahre 1957 beschritten. Nicht überzeugend sei das weitere Vorbringen, daß in der Bilanz Eigenkapital habe ausgewiesen werden sollen, um eine Darlehnsgläubigerin zufriedenzustellen.

Für 1957, 1958 und 1960 seien auch Berichtigungsveranlagungen zulässig gewesen. Das FA habe erst durch die Betriebsprüfung den beschriebenen Sachverhalt kennengelernt. Eine Verletzung der Ermittlungspflicht liege nicht vor.

Die vom FA sowohl bei den berichtigten als auch bei den erstmaligen Veranlagungen vorgenommene Sachbehandlung verstoße auch nicht gegen Treu und Glauben. Es sei zwar richtig, daß sich die Rechtsprechung des BFH nach dem Urteil vom 9. Mai 1957 IV 107/55 U (BFHE 65, 63, BStBl III 1957, 258) und die Auffassung der Finanzverwaltung in Abschn. 110 EStR 1958-1964 hinsichtlich der kurzfristigen Einlagen zum Jahresende für die Steuerbegünstigung des nicht entnommenen Gewinns später geändert hätten. Es treffe auch zu, daß die berichtigten und die endgültigen Veranlagungen auf dieser geänderten Rechtsprechung beruhten. Darin liege aber kein Verstoß gegen Treu und Glauben, selbst wenn unterstellt werde, daß der Kläger in Kenntnis des Urteils IV 107/55 U gehandelt und auf dieses Urteil vertraut habe.

Mit der Revision hiergegen wird unrichtige Anwendung von § 10a EStG und Nichtanwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben gerügt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Soweit die Vorentscheidung die vom FA vorgenommenen Neuberechnungen und Nachversteuerungen gebilligt hat, ist ihr im Ergebnis beizutreten.

Zwar kann dem FG nicht gefolgt werden, wenn es den vom Kläger jeweils zum Jahresende vorgenommenen Einbuchungen im Hinblick auf die wenige Tage später erfolgten Ausbuchungen den Charakter von Einlagen i. S. von § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG abgesprochen hat. Wie der Senat in seiner Entscheidung vom 18. Januar 1972 VIII R 125/69 (BFHE 104, 419, BStBl II 1972, 344) im Anschluß an das Urteil des I. Senats des BFH vom 24. Juni 1969 I R 174/66 (BFHE 97, 415, BStBl II 1970, 205) ausgeführt hat, kann das Vorliegen einer Einlage auch dann nicht verneint werden, wenn dem Betrieb Betriebsmittel nur kurzfristig zugeführt werden, um die Steuerbegünstigung des § 10a EStG zu erhalten. Für den Begriff der Einlage ist das Motiv der Mittelzuführung ohne Bedeutung. Es kommt allein darauf an, ob das eingelegte Wirtschaftsgut Betriebsvermögen sein kann. Das ist bei Geld immer der Fall. Deshalb handelt es sich auch im Streitfall um Einlagen.

Gleichwohl stellt sich die angefochtene Entscheidung aus anderen Gründen als richtig dar. Nach der soeben angeführten Rechtsprechung des BFH ist zwar die Anwendung des § 10a EStG nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß der Steuerpflichtige in sein Betriebsvermögen zum kurzfristigen Ausgleich von Entnahmen Mittel einlegt. Die Steuervergünstigung ist aber im Falle einer Steuerumgehung nach § 6 StAnpG zu versagen, der dann vorliegt, wenn der Steuerpflichtige ohne jeden wirtschaftlich vernünftigen Grund - von der Absicht der Steuerersparnis abgesehen - kurz vor Schluß des Wirtschaftsjahres dem Betriebsvermögen Mittel zuführt, nur um in Hinblick auf § 10a EStG die Entnahmen auszugleichen, und wenn er die Mittel kurz nach Beginn des folgenden Wirtschaftsjahres wieder entnimmt.

Im Streitfall reicht der vom FG festgestellte Sachverhalt aus, um eine Steuerumgehung zu bejahen. Das FG hat in tatsächlicher Hinsicht und in Übereinstimmung mit dem Akteninhalt festgestellt, daß der Kläger die Einlagen jeweils nur vorübergehend sowie einzig und allein zur Erhaltung der Steuerbegünstigung nach § 10a EStG getätigt hat. Maßgebend dafür war nicht nur die eigene Einlassung des Klägers, sondern auch die vom FG gewonnene Überzeugung, daß die Einlagen - entgegen der Behauptung des Klägers - nicht getätigt wurden, um einer Darlehnsgläubigerin gegenüber ein höheres Eigenkapital in der Bilanz ausweisen zu können. Gegen diese vom FG vorgenommene Feststellung und Würdigung des Sachverhalts sind zulässige und begründete Einwendungen nicht erhoben worden.

2. Mit Recht hat das FG auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben darin gesehen, daß die Fehler bei der Anwendung des § 10a EStG erst in Berichtigungsveranlagungen richtiggestellt wurden.

a) Für die Streitjahre 1957, 1958 und 1960 wurde nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des FG der für die Anwendung des § 10a EStG rechtserhebliche Sachverhalt in seinem vollen Umfange dem FA erstmals durch die Betriebsprüfung bekannt. Da diese neuen Tatsachen bei richtiger Rechtsanwendung zu erheblichen Mehrsteuern führten, waren die Voraussetzungen für Berichtigungsveranlagungen nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gegeben. Die Berichtigungen waren auch nicht nach Treu und Glauben ausgeschlossen.

Es ist richtig, daß trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO die Berichtigung einer bereits bestandskräftig gewordenen Veranlagung aus dem Grundsatz von Treu und Glauben heraus unzulässig sein kann. So ist anerkannt, daß ein Wiederaufrollen des Steuerfalls in vollem Umfange nicht zulässig ist, soweit das FA durch sein Verhalten dem Steuerpflichtigen gegenüber zu erkennen gegeben hat, daß er keine Nachforderungen mehr zu erwarten hat oder, wenn das FA dem Steuerpflichtigen hinsichtlich der künftigen Sachbehandlung in einem Punkt eine Zusage gegeben hat, die der Steuerpflichtige zur Grundlage seiner wirtschaftlichen Dispositionen gemacht hat (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 10. Juli 1964 VI 299/63 U, BFHE 80, 314, BStBl III 1964, 587). Dabei ist jedoch immer Voraussetzung, daß dem FA bereits bei der erstmaligen Veranlagung der volle für die steuerliche Beurteilung relevante Sachverhalt bekannt war. Schon dies trifft im Streitfall nicht zu.

Es ist ferner richtig, daß die Berichtigung eines Steuerbescheids nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO in Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben unzulässig sein kann, wenn das FA bei der ursprünglichen Veranlagung den vollen Sachverhalt nicht gekannt hat, nämlich dann, wenn anzunehmen ist, daß das FA eine Tatsache, wäre sie ihm bekannt gewesen, für unerheblich angesehen und deshalb bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt hätte (vgl. BFH-Urteil vom 27. Juni 1963 IV 442/61, HFR 1965, 122). In Übereinstimmung mit der Entscheidung des IV. Senats des BFH vom 13. April 1972 IV R 27/70 (BFHE 105, 445, BStBl II 1972, 648) ist der erkennende Senat aber der Auffassung, daß in einem solchen Fall die Berichtigung nicht schon dann ausgeschlossen ist, wenn das FA auch in Kenntnis des vollen Sachverhalts möglicherweise nicht anders veranlagt hätte, sondern nur, wenn das FA mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so verfahren wäre.

Geht man hiervon aus, dann kann im Streitfall nicht angenommen werden, daß das beklagte FA, hätte es bei den erstmaligen Veranlagungen für 1957, 1958 und 1960 sämtliche mit den Einlagen des Klägers in Zusammenhang stehenden Umstände gekannt, nicht anders verfahren wäre. Eine solche Annahme läßt sich insbesondere nicht aus einer unsicheren Rechtslage zur Zeit der ursprünglichen Veranlagungen ableiten. Denn schon nach dem BFH-Urteil IV 107/55 U, dessen Rechtsüberlegungen nach der Entscheidung I R 174/66 auch für die steuerliche Behandlung von Einlagen im Hinblick auf § 10a EStG gelten, mußte gefragt werden, ob eine Einlage zum Zwecke des Ausgleichs von Entnahmen im Einzelfall eine Steuerumgehung nach § 6 StAnpG darstellt. Kann hiernach von einer zweifelhaften Rechtslage zur Zeit der erstmaligen Veranlagungen nicht gesprochen werden, dann ist auch nicht auszuschließen, daß das FA bei Kenntnis des vollen Sachverhalts die Frage nach einer Steuerumgehung gestellt und richtig entschieden hätte.

Aus den vorstehenden Gründen erledigt sich auch der Einwand des Klägers, er habe im Vertrauen auf eine bestimmte Rechtsprechung und eine sich danach richtende Verwaltungspraxis gehandelt und dieses Vertrauen sei schutzwürdig. Denn wie dargelegt schloß das BFH-Urteil IV 107/55 U die Möglichkeit einer Steuerumgehung für den Fall einer kurzfristigen Einlage nicht aus.

b) In den Streitjahren 1961 und 1962 handelte es sich um berichtigte Veranlagungen nach voraufgegangenen vorläufigen Veranlagungen. In diesen Fällen muß ein Steuerpflichtiger damit rechnen, daß das FA im berichtigten oder endgültigen Bescheid eine andere rechtliche Würdigung vornimmt als in dem ursprünglichen. Das hat erst recht zu gelten, wenn - wie im Streitfall - der volle für die steuerliche Beurteilung erhebliche Sachverhalt erst nach der vorläufigen Veranlagung bekannt wird.

 

Fundstellen

Haufe-Index 70708

BStBl II 1974, 67

BFHE 1974, 552

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