Leitsatz (amtlich)

1. Die einen Billigkeitserweis nach der VO Nr.1608/74 ablehnende Entscheidung des HZA ist gerichtlich voll nachprüfbar.

2. Das FG kann das HZA auch dann verpflichten, WAB nach der VO Nr.1608/74 zu erlassen oder zu erstatten, wenn das Verfahren zur Unterrichtung der Kommission nach Art.4 VO Nr.1608/74 nicht in Gang gesetzt worden ist.

3. Die Last der Unerweislichkeit der Voraussetzungen des Art.2 Abs.2 VO Nr.1608/74 hat der Antragsteller zu tragen.

 

Orientierungssatz

1. Sind die Tatbestandsmerkmale für die Gewährung von Billigkeitsmaßnahmen nach der VO (EWG) Nr. 1608/74 erfüllt, können die zuständigen Behörden nur noch positiv über den Antrag entscheiden, besitzen also keinen Ermessensspielraum. Art. 2 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1608/74 enthält eine Reihe von unbestimmten Rechtsbegriffen. Das bedeutet jedoch keine Einschränkung der gerichtlichen Nachprüfbarkeit (kein Widerspruch zum EuGH-Urteil vom 10.10.1985 Rs. 183/84; Rechtsprechung des BVerfG, BVerwG, BAG, BFH, Literatur u.a. zu unbestimmten Rechtsbegriffen, die es im Einzelfall rechtfertigen, der Behörde bei ihrer Anwendung einen eigenen, gerichtlicher Kontrolle nicht mehr zugänglichen Beurteilungsspielraum einzuräumen).

2. Das Wesen einer Ermessensentscheidung besteht darin, daß der Verwaltung innerhalb abgesteckter Grenzen ein Spielraum eingeräumt ist, innerhalb dessen sie unter einer Mehrzahl zulässiger Verhaltensweisen wählen kann (BFH).

3. Die Frage, in welchem Umfang die nationalen Gerichte berechtigt sind, Verwaltungsentscheidungen zu überprüfen, ist keine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts.

4. NV: Den Antrag auf einen Billigkeitserweis nach der VO (EWG) Nr. 1608/74 kann nur der Schuldner der Währungsausgleichsbeträge stellen (vgl. BFH-Urteil vom 5.6.1985 VII R 136/84).

5. NV: Eine Erstattung von Währungsausgleichsbeträgen nach der VO (EWG) Nr. 1608/74 kommt nicht in Betracht, wenn eine Abwälzung der Mehrbelastung aus der Erhöhung der Währungsausgleichsbeträge zwar nicht erfolgt ist, die Belastung jedoch bei Anwendung der erforderlichen und üblichen Umsicht hätte vermieden werden können. Bei längerfristigen Verträgen stellt sich die Frage, ob nicht bereits bei Vertragsabschluß Anlaß bestanden hätte, sich gegen das Risiko, je nach Währungslage höhere Währungsausgleichsbeträge tragen zu müssen, abzusichern.

 

Normenkette

EWGV 1608/74 Art. 1, 2 Abs. 2 Buchst. b, Art. 4; FGO § 102; AO 1977 § 5

 

Tatbestand

I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) führen seit Jahren Schafkäse aus Bulgarien ein. Am 29.September 1972 schlossen die Kläger mit dem bulgarischen Handelsunternehmen R in Sofia einen langfristigen Vertrag über die Lieferung bestimmter Warenmengen von Schafkäse in Salzlake in Blechdosen zu ca. 15 kg netto, Schafkäse in Salzlake in Plastikverpackung zu netto 250 g, von Kaschkawal und von Kefalotiri. Für das erste Vertragsjahr vereinbarten die Parteien bestimmte feste DM-Preise, während für die Folgejahre vorgesehen war, die Preise "gemäß der internationalen Marktkonjunktur" in gegenseitiger Abstimmung der Partner festzulegen. Im April 1973 erreichten die bulgarischen Lieferanten eine Erhöhung der Preise für die 15-kg-Ware. Am 29.Juni 1973 wurde der Leitkurs der DM gegenüber dem US-Dollar erhöht. Aufgrund dieser Währungsmaßnahme wurden die seit dem 3.Juli 1973 eingeführten Vertragsmengen mit um 137,30 DM/t erhöhten Währungsausgleichsbeträgen (WAB) belastet.

Mit Schreiben vom 15.Juli 1974 beantragten die Kläger gemeinsam beim Beklagten und Revisionskläger (Hauptzollamt --HZA--), nach der Verordnung (EWG) Nr.1608/74 (VO Nr.1608/74) der Kommission vom 26.Juni 1974 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- L 170/38, Bundeszollblatt --BZBl-- 1974, 786) WAB für den Käse zu erstatten, den sie vom 4.Juni bis 31.Dezember 1973 eingeführt hatten. Das HZA erstattete mit Bescheiden vom 27.Juli 1977 und 17.Januar 1979 insgesamt 56 295,55 DM WAB und lehnte weitere Erstattungen ab. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) verpflichtete das HZA unter Aufhebung der Beschwerdeentscheidung und unter Abänderung der genannten Bescheide, bestimmte Beträge an die Kläger zu erstatten.

Im übrigen wies das FG die Klage ab. Zur Begründung führte es u.a. aus:

Unstreitig sei, daß die Lieferungen der 15-kg-Ware und der 250-g-Ware vom 3.Juli bis 31.Dezember 1973 auf einem vor der Währungsmaßnahme vom 29.Juni 1973 fest abgeschlossenen Vertrag i.S. des Art.1 Abs.1 VO Nr.1608/74 beruhten. Es bestehe kein Zweifel, daß die Voraussetzung des Art.2 Abs.2 Buchst.a VO Nr.1608/74 erfüllt sei; es liege ein DM-Vertrag vor; die Kläger hätten aufgrund dieses Vertrages unabhängig von der Währungsmaßnahme unverändert dieselbe DM-Summe aufwenden müssen. Auch die Voraussetzungen des Art.2 Abs.2 Buchst.b VO Nr.1608/74 seien erfüllt.

Die Mehrbelastung der Kläger durch die Währungsmaßnahme habe 13,73 DM/100 kg betragen. Ein Vergleich dieser Erhöhung mit den erzielten Handelsspannen lasse erkennen, daß in der Tat die Erhöhung eine übermäßige Belastung darstelle. In der Zeit vom 4.Juni bis 31.Dezember 1973 ergebe ein Vergleich der Mehrbelastung mit den Handelsspannen (vgl. Betriebsprüfungsbericht vom 5.Mai 1975), daß der Rohgewinn um Prozentsätze höher belastet worden sei, die zwischen 10,83 % und 37,38 % gelegen hätten. Diese Minderung des Rohgewinns sei unter dem Gesichtspunkt zumutbarer steuerlicher Belastung übermäßig.

Der Einwand des HZA, die Kläger hätten die Belastung durch eine Erhöhung der Verkaufspreise ausgeglichen, gehe fehl. Die Möglichkeiten, Verkaufspreise zu erhöhen, seien beschränkt, sie richteten sich nach der Marktlage. Die Vermutung des HZA, die Preiserhöhungen seien zur Abwälzung der WAB-Mehrbelastung vorgenommen worden, sei nicht erweislich. Dies gehe zu Lasten des HZA. Zu Unrecht berufe sich das HZA auf den Erlaß des Bundesministers der Finanzen (BMF) vom 24.Februar 1975 (BZBl 1975, 193). Dort sei ausgeführt, daß insbesondere bei langfristigen DM-Verträgen Konditionen aufzunehmen seien, die eine zusätzliche Belastung hätten vermeiden können. Das könne allenfalls für solche Verträge gelten, die nach Bekanntwerden des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 24.Oktober 1973 Rs.5/73 (EuGHE 1973, 1091) abgeschlossen worden seien.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision des HZA hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Das FG hat die Regelung der VO Nr.1608/74 hinsichtlich der Verteilung der Beweislast (Feststellungslast) verkannt.

1. Als Rechtsgrundlage für die begehrte Erstattung kommt, wie das FG zu Recht entschieden hat, allein die Billigkeitsregelung der VO Nr.1608/74 in Betracht. Diese ist anzuwenden, da die Bundesrepublik durch die Bekanntmachung des BMF über die Anwendung dieser Verordnung vom 3.Juli 1974 (BAnz Nr.122 vom 6.Juli 1974, BZBl 1974, 788) von der durch Art.1 VO Nr.1608/74 gegebenen Ermächtigung zur Anwendung dieser Verordnung Gebrauch gemacht und dabei ausdrücklich entschieden hat (vgl. Nr.3 der Bekanntmachung), daß die --hier allein maßgebende-- Änderung des Leitkurses der DM vom 29.Juni 1973 eine Währungsmaßnahme i.S. des Art.1 VO Nr.1608/74 ist. Daran ändert der Umstand nichts, daß sich die Bundesrepublik für die Ausnutzung der Ermächtigung der Gemeinschaft keines Gesetzes und keiner Rechtsverordnung bediente (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 12.August 1986 VII R 45/84, Nr.1 der Gründe, BFHE 147, 290).

2. Das FG ist auch ohne Rechtsirrtum --freilich ohne weitere Begründung-- davon ausgegangen, daß die Entscheidung des HZA im angefochtenen Bescheid in vollem Umfang gerichtlich nachprüfbar ist.

a) Die VO Nr.1608/74 ermächtigte das HZA nicht, i.S. des § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nach seinem Ermessen zu entscheiden (vgl. Urteile des FG Düsseldorf vom 6.Februar 1985 IV 175/81 SZ, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1985, 399, und des FG Hamburg vom 7.April 1981 IV 99/79 H, EFG 1981, 576). Das Wesen einer Ermessensentscheidung besteht darin, daß der Verwaltung innerhalb abgesteckter Grenzen ein Spielraum eingeräumt ist, innerhalb dessen sie unter einer Mehrzahl zulässiger Verhaltensweisen wählen kann (Urteile des BFH vom 28.Oktober 1981 I R 156/78, BFHE 134, 335, BStBl II 1982, 88, mit Hinweisen, und vom 6.Juli 1983 I R 252/82, BFHE 139, 113, BStBl II 1983, 699). Zwar enthält Art.1 VO Nr.1608/74 nur eine Ermächtigung für die Mitgliedstaaten, die Billigkeitsregelung jeweils aus Anlaß einer bestimmten Währungsmaßnahme für anwendbar zu erklären. Insoweit steht den zuständigen Organen eines jeden Mitgliedstaates eine Dispositionsfreiheit zu. Aus dem Wortlaut der VO Nr.1608/74 ergibt sich aber deutlich, daß --falls ein Mitgliedstaat die Anwendung der Regelung vorgesehen hat-- den zuständigen Behörden bei ihrer Entscheidung kein Spielraum mehr offensteht. Die Gewährung des Verzichts auf die WAB hängt nämlich von der Erfüllung einer Reihe rechtlicher Voraussetzungen ab, die insbesondere in Art.2 Abs.2 VO Nr.1608/74 aufgeführt sind. Diese enthalten unbestimmte Rechtsbegriffe (z.B. "erforderliche und übliche Umsicht"), aber keinen Hinweis auf die Einräumung eines Ermessensspielraums. Falls also die Tatbestandsmerkmale, an deren Vorliegen die VO Nr.1608/74 die Gewährung des Billigkeitserweises knüpft, erfüllt sind, können die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nur noch positiv über den Antrag entscheiden, besitzen also keinen Ermessensspielraum.

Etwas anderes ist auch nicht aus den Worten in Art.2 Abs.2 VO Nr.1608/74 zu entnehmen: "Von der ... Ermächtigung kann nur dann Gebrauch gemacht werden, wenn ...". Das Wort "kann" weist hier --anders als in § 131 der Reichsabgabenordnung (AO); vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, 106, BStBl II 1972, 603-- auch im Zusammenhang mit den zum Teil unbestimmten Rechtsbegriffen dieser Regelung nicht auf die Einräumung eines Ermessensspielraums hin. Der Zusammenhang macht deutlich, daß das "kann nur" als ein "darf nur" zu verstehen ist. Die Regelung des Art.2 Abs.2 VO Nr.1608/74 ist ähnlich zu werten wie z.B. § 17 Abs.2 Satz 2 des Steuerberatungsgesetzes (StBerG) a.F. (*= § 50 Abs.3 Satz 2 StBerG n.F.); zu dieser Vorschrift hat der Senat entschieden, daß die Worte "die Genehmigung darf nur versagt werden ..." der Verwaltung keinen Ermessensspielraum einräumen (Urteil vom 3.August 1976 VII R 103/75, BFHE 120, 97, 100, BStBl II 1976, 800).

Diese Auffassung bestätigt das EuGH-Urteil in ZfZ 1985, 362. Der EuGH hat in dieser Entscheidung die ausdrückliche Frage des vorlegenden Hessischen FG, ob die VO Nr.1608/74 zu einer Ermessensentscheidung ermächtige, mittelbar verneint (zur Frage des Bestehens eines Beurteilungsspielraums vgl. die Ausführungen unter b).

b) Die Regelung des Art.2 Abs.2 VO Nr.1608/74 enthält, wie ausgeführt, eine Reihe von unbestimmten Rechtsbegriffen. Das bedeutet jedoch keine Einschränkung der gerichtlichen Nachprüfbarkeit. Nicht nur die Bestimmung des Sinngehalts eines unbestimmten Rechtsbegriffs, sondern auch die Feststellung der Tatsachengrundlage und die Anwendung des Begriffs auf die im Einzelfall festgestellten Tatsachen unterliegen uneingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 28.Juni 1983 2 BvR 539, 612/80, BVerfGE 64, 261, 279; BFHE 120, 97, 101, BStBl II 1976, 800; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 9.Juni 1978 4 C 54.75, BVerwGE 56, 71, 75, und vom 21.Mai 1974 I C 37.72, BVerwGE 45, 162, 164; Beschluß des Bundesarbeitsgerichts --BAG-- vom 5.Dezember 1979 4 AZN 41/79, Monatsschrift für Deutsches Recht --MDR-- 1980, 437; vgl. z.B. auch Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4.Aufl., S.111). Es mag zwar unbestimmte Rechtsbegriffe geben, die es im Einzelfall rechtfertigen, der Behörde bei ihrer Anwendung einen eigenen, gerichtlicher Kontrolle nicht mehr zugänglichen Beurteilungsspielraum einzuräumen (vgl. BVerfGE 64, 261, 279; Urteil des BFH vom 21.Februar 1969 VI R 113/66, BFHE 95, 104, 108, BStBl II 1969, 316; die Rechtsprechung des Senats zur gerichtlichen Überprüfbarkeit von Prüfungsentscheidungen, z.B. Urteil vom 3.Juli 1980 VII R 84/79, BFHE 131, 173, 175, BStBl II 1980, 610; Spanner in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8.Aufl., § 5 AO 1977 Anm.39). Es kann sich dabei aber allenfalls um solche unbestimmte Rechtsbegriffe handeln, die z.B. eine prognostische Entscheidung ermöglichen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12.Aufl., § 5 AO 1977 Anm.7) oder einer unmittelbaren stringenten Auslegung völlig unzugänglich sind (vgl. z.B. BVerwG-Urteil vom 29.September 1972 VII C 77.70, BVerwGE 40, 353, 356; auch Maurer, a.a.O., insbesondere S.103 bis 105). Zu solchen unbestimmten Rechtsbegriffen zählen die in der VO Nr.1608/74 verwendeten nicht (vgl. auch Ule in Nr.4 der Besprechung des EuGH-Urteils vom 10.Oktober 1985 Rs.183/84, Deutsches Verwaltungsblatt --DVBl-- 1986, 92, 93).

Die Entscheidung des EuGH, die Behörden verfügten über einen "gewissen Beurteilungsspielraum", steht nicht in Widerspruch zur Auffassung des Senats. Es spricht nichts dafür, daß der EuGH diesen Begriff in dem Sinne verstanden habe, in dem ihn Rechtsprechung und Schrifttum in der Bundesrepublik bei der Behandlung der Frage gebrauchen, ob den Behörden bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen ein eigener, gerichtlicher Kontrolle nicht mehr zugänglicher Beurteilungsspielraum eingeräumt worden ist. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß der EuGH den genannten Ausdruck im selben Sinne gebraucht hat, wie z.B. der Senat im Urteil in BFHE 120, 97, 101, BStBl II 1976, 800, 801 und das FG Hamburg in EFG 1981, 576, 577. Damit, daß unbestimmte Rechtsbegriffe dem Rechtsanwender einen Beurteilungsspielraum (im weiteren Sinne) --bezogen insbesondere auf den Sachverhalt-- einräumen, ist nichts darüber ausgesagt, ob die Gerichte diese Beurteilung der Behörden nachprüfen (nachvollziehen) dürfen. Der EuGH hat in dem zitierten Urteil darüber offensichtlich nicht entschieden. Dafür spricht auch, daß der EuGH ausdrücklich vom Beurteilungsspielraum der "zuständigen nationalen Stellen" (also auch der Gerichte) gesprochen hat. Zu einer anderen Entscheidung wäre der EuGH auch nicht befugt gewesen; denn die Frage, in welchem Umfang die nationalen Gerichte Verwaltungsentscheidungen zu überprüfen berechtigt sind, ist keine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Der Senat folgt nicht der Auffassung von Ule (a.a.O., DVBl 1986, 92, 93), daß der EuGH sich in diesem Urteil in Widerspruch zur herrschenden Lehre und Rechtsprechung in der Bundesrepublik in bezug auf den Beurteilungsspielraum bei unbestimmten Rechtsbegriffen gesetzt habe.

Zu Unrecht berufen sich die Kläger für ihre Auffassung, der BFH sei darauf beschränkt zu prüfen, ob das FG bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe gegen Denkgesetze oder gegen Erfahrungssätze verstoßen hat, auf das Urteil in BFHE 95, 104, 108, BStBl II 1969, 316. Der BFH hat in diesem Urteil lediglich die Frage aufgeworfen, ob dem Bundesgerichtshof (BGH) und dem BVerwG in der Ansicht zu folgen sei, die Frage, was im gegebenen Fall "grobe Fahrlässigkeit" sei, liege auf tatsächlichem Gebiet und sei folglich im wesentlichen eine tatrichterliche Frage, oder ob der Ansicht des BAG zuzustimmen sei, nicht nur die Auslegung, sondern auch die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs seien revisibel. Der VI.Senat hat diese Frage aber ausdrücklich unentschieden gelassen (BFHE 95, 108, erster Absatz, letzter Satz).

3. Entgegen der Auffassung der Verwaltung hat das FG auch nicht Art.4 VO Nr.1608/74 verletzt. Danach ist ein Mitgliedstaat, der für einen Vertrag mit einer Laufzeit von mehr als drei Monaten (wie hier) eine Billigkeitsmaßnahme beabsichtigt, zuvor die Kommission zu unterrichten verpflichtet; der Mitgliedstaat kann die Maßnahme erst treffen, wenn die Kommission innerhalb von sechs Wochen nicht widersprochen hat. Diese Regelung hindert aber die Gerichte nicht, auch in Fällen, in denen die Voraussetzungen des Art.4 VO Nr.1608/74 vorliegen, die Behörde aber einen Billigkeitserweis abgelehnt hat, diese Entscheidung aufzuheben und die Behörde zur Erstattung der WAB zu verpflichten, auch wenn das Unterrichtungsverfahren nach Art.4 VO Nr.1608/74 nicht in Gang gesetzt worden ist.

Die Regelung des Art.4 hat den Sinn, die Verwirklichung des Zieles der VO Nr.1608/74 und die Gleichmäßigkeit ihrer Anwendung sicherzustellen (vgl. Urteil des EuGH vom 2.März 1978 Rs.12, 18 und 21/77, EuGHE 1978, 553, 568, und insbesondere die Schlußanträge des Generalanwalts in diesen Rechtssachen, EuGHE 1978, 570, 573, worin es heißt, mit den Art.4 und 5 VO Nr.1608/74 beabsichtige die Kommission, die Aufsicht darüber zu behalten, welchen Gebrauch "die innerstaatlichen Behörden" von den Möglichkeiten der Verordnung machen). Dazu sieht die VO Nr.1608/74 bei Vorliegen langfristiger Verträge, wo die Entscheidung über einen Billigkeitserweis besonders schwierig ist, ein bestimmtes Verwaltungsverfahren vor, das der Kommission ein Widerspruchsrecht gegen beabsichtigte Erstattungen einräumt. Diese Regelung betrifft aber allein die Beziehungen der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zur Kommission, also die Verwaltungsseite (so wohl auch Urteil des FG Hamburg in EFG 1981, 576, 577). Dagegen ist es nicht Sinn des Art.4 VO Nr.1608/74, bestimmte Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten an die vorherige Genehmigung der Kommission zu binden (so daß es keines Eingehens auf die Frage bedarf, ob eine solche Bindung rechtlich zulässig und wirksam wäre). Denn die gleichmäßige Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte stellt bereits die Regelung des Art.177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) sicher.

4. Der Verzicht auf den der Erhöhung entsprechenden Teil der WAB setzt voraus, daß die Merkmale des Art.2 Abs.2 Buchst.a und b VO Nr.1608/74 erfüllt sind. Das FG hat in Übereinstimmung mit den Beteiligten entschieden, daß die Voraussetzungen des Buchst.a gegeben sind; das ist rechtlich nicht zu beanstanden. Dagegen hat das FG bei seiner Entscheidung, das gleiche gelte auch in bezug auf Buchst.b, diese Vorschrift unrichtig ausgelegt.

Nach Art.2 Abs.2 Buchst.b VO Nr.1608/74 kann auf die WAB nur verzichtet werden, wenn der Antragsteller den Nachweis erbringt, daß die (endgültige) Erhebung der WAB für ihn zu einer übermäßigen zusätzlichen Belastung führen würde, die er auch bei aller erforderlichen und üblichen Umsicht nicht vermeiden könnte. Übermäßig ist eine Belastung, die für den Betroffenen unverhältnismäßig einschneidende Folgen hat. Der Senat braucht die Frage nicht zu entscheiden, ab welcher Grenze diese Voraussetzung erfüllt ist, d.h. ob dies, wie die Verwaltung meint, bei einem Differenzbetrag von mehr als 100 DM gegeben ist (vgl. auch EFG 1985, 399). Denn jedenfalls handelt es sich bei den von den Klägern geschuldeten erhöhten WAB um so hohe Beträge, daß die daraus resultierende Last als übermäßig i.S. des Art.2 Abs.2 Buchst.b VO Nr.1608/74 anzusehen ist. Daß sie eine "zusätzliche" Belastung, d.h. eine solche ist, die über den Ausgleich der Inzidenz der Währungsmaßnahmen hinausgeht, ist ebenfalls nicht zweifelhaft. Keine Belastung liegt aber jedenfalls vor, wenn die Kläger von ihr wirtschaftlich nicht betroffen worden sind, d.h. wenn sie sie auf andere abgewälzt haben (vgl. auch Urteil des Senats vom 12.August 1986 VII R 45/84, BFHE 147, 290). Die Ansicht der Vorinstanz, daß diese Voraussetzung erfüllt sei, ist nicht frei von Rechtsfehlern.

++/ Fehlerhaft ist in diesem Zusammenhang die Erwägung des FG, eine übermäßige zusätzliche Belastung liege schon deswegen vor, weil sich der Rohgewinn durch die Mehrbelastung um 10 bis 37 % vermindert habe. Falls den Klägern die Abwälzung auf ihre Abnehmer gelungen sein sollte, traf sie gar keine Belastung, also auch keine übermäßige. Allein maßgebend ist also, ob in den Erhöhungen der Verkaufspreise durch die Kläger eine Abwälzungsmaßnahme in bezug auf die erhöhten WAB zu sehen ist. Dabei kommt es darauf an, ob die Abwälzung Zweck der Preiserhöhung (allein oder neben anderen Zwecken) war; denn nach den Rechtsgrundsätzen des Urteils des Senats vom 5.Juni 1985 VII R 159-160/82 (BFHE 144, 294) können den Klägern Vorteile aus der Erhöhung der Verkaufspreise nur entgegengehalten werden, wenn diese Erhöhung (wenigstens u.a. auch) dem Ausgleich der Erhöhung der WAB dienen soll (vgl. auch Urteil des FG Düsseldorf vom 8.September 1982 IV 67/78 Z, EFG 1983, 359). /++

Im Gegensatz zur Auffassung der Kläger hat das FG das Bestehen einer Belastung, d.h. die Nichtabwälzung, nicht für bewiesen erachtet. Es kann dahinstehen, ob bereits diese Feststellung des FG der Unerweislichkeit auf Verfahrensfehlern (mangelnde Sachaufklärung) beruht und ob das HZA diese Fehler ggf. gehörig gerügt hat. Denn jedenfalls ist das FG zu Unrecht zum Ergebnis gelangt, die Vermutung des HZA, eine Abwälzung sei erfolgt, sei nicht erweislich, was zu Lasten des HZA gehe. Das FG ist hier davon ausgegangen, daß die Feststellungslast im vorliegenden Fall das HZA treffe. Das ist rechtlich nicht zutreffend.

Nach Art.2 Abs.2 Buchst.b VO Nr.1608/74 hat der Antragsteller den Nachweis zu führen, daß ihn eine übermäßige zusätzliche Belastung getroffen hat. Das bedeutet nicht nur eine entsprechende Beweisführungslast des Antragstellers, sondern auch, daß die Nichterweislichkeit einer relevanten Tatsache zu Lasten des Antragstellers gehen muß, ihn also die Feststellungslast trifft. Die Kläger halten dem entgegen, nach der Zielsetzung der VO Nr.974/71 sei der Erstattungsanspruch der VO Nr.1608/74 eine gesetzlich zwingende Korrektur, da WAB, die zum Ausgleich der Inzidenz von Währungsmaßnahmen nicht erforderlich seien, auch nicht erhoben werden dürften; daher sei davon auszugehen, daß die Feststellungslast die Behörde treffe. Diese Auffassung ist unrichtig; zur Begründung verweist der Senat auf die Ausführungen unter Nr.2 a der Gründe seines Urteils in BFHE 147, 290.

++/ Diese normative Regelung der Verteilung der Feststellungslast bedeutet nun allerdings noch nicht, daß es nicht Fälle geben kann, in denen die Umkehr dieser Feststellungslast anzunehmen ist. Die Kläger wollen offenbar auch geltend machen, hier sei ein solcher Fall gegeben, indem sie vortragen, zu ihren Gunsten spreche eine "tatsächliche Vermutung". Aber die Hinweise der Kläger, daß sich erhöhte Abgaben angesichts des kaufmännischen Vorteilsstrebens allenfalls langfristig durchsetzen lassen, dies gerade bei einem so teuren Produkt wie Schafkäse gelte und außerdem Schafkäse in einem scharfen Wettbewerb mit anderen Käsesorten stehe, führen nicht an der vom FG festgestellten Tatsache vorbei, daß die Kläger (offenbar trotz der aufgezeigten Schwierigkeiten) ihre Verkaufspreise im Inland erhöht haben, also ihre Preisvorstellungen gegenüber ihren Abnehmern haben durchsetzen können. Es besteht keine Grundlage für eine Vermutung, dies sei jedenfalls nicht wegen der Erhöhung der WAB geschehen.

Nach den unstreitigen, im Tatbestand der Vorentscheidung wiedergegebenen Angaben der Kläger --von denen offenbar das FG ausgegangen ist, die also als festgestellt angesehen werden können-- haben sie im Juni 1973 (also noch vor der DM-Aufwertung am 29.Juni 1973) ihre Verkaufspreise um ... DM/kg und am 17.September 1973 um weitere ... DM/kg für die 15-kg-Ware, um ... DM/kg für die 250-g-Ware erhöht. Das FG ist ferner wohl von der ebenfalls unstreitigen Tatsache ausgegangen, daß der Antrag nur Waren betrifft, die nach dem 17.September 1972, also nach der letzten Erhöhung der Verkaufspreise, verkauft worden sind. Ausdrücklich hat das FG die Höhe der zusätzlichen Belastung ab 3.Juli 1973 mit 0,137 DM/kg angegeben. Bei dieser Sachlage erscheint es eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich, daß die Preiserhöhung (zumindest auch) die Abwälzung der Mehrbelastung aus der Erhöhung der WAB ermöglichen sollte. Unter diesen Umständen durfte sich das FG nicht mit der Annahme begnügen, daß die Preiserhöhungen tatsächlich aus den (von den Klägern) vorgetragenen Motiven vorgenommen worden sein dürften; es durfte nicht einfach ein non liquet feststellen und die Nachteile daraus dem HZA auferlegen. Es hätte vielmehr den Hinweisen der Kläger nachgehen müssen, daß die Preiserhöhung ausschließlich auf andere Ursachen zurückzuführen sei. Nur wenn es nach Ermittlung anhand von Anzeichen (z.B. in der Kalkulation der Kläger oder weil andere zusätzliche Lasten die Preiserhöhung in dieser Höhe nahelegten) zur Überzeugung gelangt wäre, daß dies tatsächlich richtig ist, hätte es davon ausgehen können, daß die erhöhten WAB zu einer übermäßigen zusätzlichen Belastung für die Kläger geführt haben.

Die Vorentscheidung war aus diesem Grund aufzuheben und die Sache, da sie nicht spruchreif ist, an das FG zurückzuverweisen.

5. Für die Entscheidung des FG im zweiten Rechtsgang weist der Senat auf folgendes hin:

a) Falls das FG zum Ergebnis gelangen sollte, daß eine zusätzliche übermäßige Belastung der Kläger vorliegt, wird es sich mit der Frage auseinanderzusetzen haben, ob die Kläger diese Belastung auch bei aller erforderlichen und üblichen Umsicht nicht hätten vermeiden können. Für diese Entscheidung gibt der Senat folgendes zu bedenken:

Am 4.Juni 1973 ist das System der Erhebung der WAB grundsätzlich verändert worden (vgl. Absatz 8 der Erwägungsgründe der VO Nr.1608/74). Bis dahin sah das System ständig schwankende WAB vor. Im Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages vom 29.September 1972 mußten die Kläger also mit solchen Schwankungen rechnen, die auch zu ihren Lasten zu erhöhten WAB führen konnten. Daß die Kläger sachkundig waren, belegt schon der von ihnen zu diesem Zeitpunkt geführte Prozeß, der zum Urteil in EuGHE 1973, 1091 geführt hat. Es stellt sich also die Frage, ob die Kläger als erfahrene und umsichtige Kaufleute beim Abschluß eines so langfristigen Vertrages wie den vom 29.September 1972 oder in der Zeit danach (etwa nach der DM-Aufwertung vom 19.März 1973) nicht Anlaß gehabt hätten, sich gegen das Risiko, je nach Währungslage höhere WAB tragen zu müssen, abzusichern. Das hätte dadurch geschehen können, daß das Risiko vertraglich ganz oder teilweise auf die Verkäufer verlagert wurde (die bei einer DM-Aufwertung ja entsprechende Vorteile hatten, da sie den Kaufpreis jeweils in aufgewerteter DM erhielten), daß die Verkaufspreise erhöht wurden oder daß in die Verkaufsverträge (etwa spätestens ab der DM-Aufwertung vom 7.März 1973) entsprechende Abwälzungsklauseln aufgenommen wurden (vgl. Urteil des Senats in BFHE 147, 290).

Der Senat hat Bedenken gegen die Auffassung des FG, von den Klägern hätten solche Absicherungsmaßnahmen allenfalls für Verträge erwartet werden können, die nach Bekanntwerden des Urteils in EuGHE 1973, 1091 abgeschlossen worden seien. Die Kläger konnten es wohl nicht für ausgeschlossen halten, daß sie in diesem Verfahren unterliegen würden, wie das auch tatsächlich geschehen ist (vgl. das Urteil des Senats in dieser Sache vom 8.November 1977 VII R 41/75, BFHE 124, 268). Gesichtspunkte für die Entscheidung könnte das FG auch aus dem Urteil des EuGH vom 20.Mai 1981 Rs.152/80 (EuGHE 1981, 1291, 1304, 1305) gewinnen. In Absatz 17 dieses Urteils heißt es: "Es ist ausgeschlossen, daß die Unternehmen, vor allem angesichts eines Währungssystems, das durch die Unbeständigkeit des Wechselkurses der Währung des fraglichen Mitgliedstaates gekennzeichnet ist, unter Berufung auf den Grundsatz der Rechtssicherheit für sich das Recht in Anspruch nehmen, von den Erhöhungen der WAB, die die Abwertung dieser Währung nach sich zieht, verschont zu werden". Und Absatz 21 der Gründe dieses Urteils lautet, "daß es angesichts des Beschlusses eines Mitgliedstaates, seine nationale Währung floaten zu lassen, und in Anbetracht der Abwertung dieser Währung unbestreitbar zur Geschäftsführung eines umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers gehört, von der Einführung des Instruments der WAB an die Abschlußbedingungen der Verträge zu überprüfen, die während des Zeitraums der Währungsschwankungen durchgeführt werden sollen".

b) Den Antrag auf einen Billigkeitserweis nach der VO Nr.1608/74 kann nur der Schuldner der WAB stellen (vgl. Senatsurteil vom 5.Juni 1985 VII R 136/84, BFHE 144, 104, zum gleichen Rechtsproblem bei der Anwendung der Nachfolgeverordnung der VO Nr.1608/74). Aus der Vorentscheidung ergeben sich gewisse Zweifel, ob das FG von dieser Rechtsauffassung ausgegangen ist und entsprechende Feststellungen getroffen hat. Das FG wird sich mit dieser Frage befassen müssen. /++

 

Fundstellen

Haufe-Index 61302

BFHE 148, 378

BFHE 1987, 378

DStR 1987, 338-338 (ST)

HFR 1987, 201-202 (ST)

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